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András Máté-Tóth zur Krise in Europa und der Rolle der Kirchen

28. September 2017
Gegenwärtig wird vielfach beklagt, dass sich Europa in der Krise befinde. Wie nehmen Sie die Situation wahr und führt die Krise zu einer neuen Spaltung zwischen den west- und osteuropäischen Ländern?
Zum Einstieg möchte ich auf den Soziologen Zygmunt Bauman verweisen, der mal etwa Folgendes gesagt hat: Wenn wir über Krise reden, reden wir eigentlich über den Normalfall der Geschichte. Dagegen ist Ordnung der Extremfall. Menschen, die über Ruhe und Ordnung reden, übersehen somit, dass es diese nur gibt, wenn man sehr reich oder sehr stark ist. Diese beiden Bedingungen schließen jedoch große Teile der Bevölkerung aus. Also wenn wir jetzt über die Krise in Europa sprechen, können wir damit die neuen Dimensionen der permanenten Krise bezeichnen. Nur wann hat etwas Neues in Europa angefangen? Sicherlich mit der Wende von 1989/90, als die kommunistischen Regime abdanken mussten und die Sowjetunion zerfallen ist. Aber danach gab es eine weitere Wende, die ich als Wende zur Lethargie bzw. die zweite Welle der Freiheit bezeichnen möchte, da die vielen naiven anfänglichen Erwartungen nach 1989/90 sich nicht erfüllen haben. Heute, fast 30 Jahre nach dem Systemumbruch, ist es vielleicht nicht mehr angemessen, von der Wende auszugehen, sondern wir sollten die allgemeinen europäischen Verhältnisse in Betracht ziehen und diese als Betrachtungsmatrix nehmen. Also, wie steht es beispielsweise um Menschenrechte, Gewaltenteilung oder Korruption. Dabei ist es jedoch meines Erachtens falsch, wenn wir z. B. Frankreich oder Großbritannien als Maßstab für Demokratie und Marktwirtschaft nehmen, an denen sich auch Armenien, Litauen oder die Slowakei messen lassen müssen. Mit Shmuel Eisenstadt glaube ich, dass es „multiple modernities“ gibt. Eisenstadt meinte damit, dass die Moderne zwar klare und abstrakte Wertestrukturen hat, dass diese aber nie, in keinem Land vollkommen verwirklicht werden, sondern dass jedes Land diese – sofern es dies will – abhängig von seinen geschichtlichen und kulturellen Modalitäten zu verwirklichen sucht. Im europäischen Diskurs wird Ostmitteleuropa heute vor allem mit Xenophobie und nicht umgesetzten Reformen verbunden. Unser eigentliches Problem ist jedoch nicht der Nationalismus in unseren Ländern, sondern dieser ist nur Deckmantel für die oligarchischen Interessen der jetzigen Machthaber.

Wie lässt sich die von Ihnen diagnostizierte Lethargie überwinden?
Ich bin kein Prophet, aber für unsere ostmitteleuropäischen Gesellschaften, aber auch für zentrale Länder der Europäischen Union ist das größte Problem Geduld. Der renommierte ungarische Mediävist Jenő Szűcs hat über die drei historischen Regionen Europas geschrieben und Ostmitteleuropa in die zweite Gruppe verortet. Das bedeutet, dass Demokratie nach französischem oder niederländischem Verständnis erst in 50, vielleicht sogar erst in 100 Jahren zu uns kommt. Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat das Bonmot geprägt, dass man eine Gesellschaft in sechs Tagen kaputt machen, aber wahrscheinlich nur in 60 Jahren wieder aufbauen kann. Die größte Herausforderung ist also Geduld, die wir allerdings in unserer schnelllebigen Zeit am wenigsten haben. Die Entscheidungsträger müssen so schnell Entscheidungen treffen, dass sie kaum Zeit für eine fundierte Vorbereitung haben oder die Folgen ihrer Handlungen abschätzen können. Ein tiefer Glaube kann aber Geduld haben – sub specie aeternitatis (unter dem Gesichtspunkt der Ewigkeit), sagten die Alten.

Sind die Kirchen in Ostmitteleuropa mit Blick auf die theologische Ausbildung fähig, auf die gegenwärtigen Herausforderungen zu reagieren?
Was den Bildungsgrad betrifft, besteht ein riesiger Unterschied zwischen den Kirchen in Westeuropa und denjenigen in Osteuropa. Wenn ich mit meinen theologischen Freunden und Kollegen aus Osteuropa zusammensitze, sind wir uns bewusst, dass wir in vieler Hinsicht schwach sind. Uns fehlen die westeuropäischen Kapazitäten und Ressourcen, die Priesteramtskandidaten, Religionslehrer und interessierten Intellektuellen theologisch so auszubilden, dass sie fähig sind, aufgrund eines fundierten Glaubens und einer fundierten Theologie autonom auf heutige gesellschaftliche Prozesse zu reagieren. Um nicht missverstanden zu werden: Ich plädiere nicht für eine spezielle Art von Theologie, z. B. modernistische oder feministische Theologie, sondern mir geht es um eine Theologie, welche die Zeichen der Zeit ernst nehmen kann: für eine Theologie der Zweiten Welt. Dieses Können ist nicht nur ein Können des Herzens oder des Wollens, sondern auch ein Können der intellektuellen Kapazitäten. Je höher das Niveau der theologischen Ausbildung ist, desto größer ist die Chance, dass die Kirche adäquate Antworten auf gegenwärtige Probleme geben kann. Und von gut ausgebildeten Theologen können auch die Bischöfe für adäquatere Antworten vorbereitet werden.

Anfang September hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Klage von Ungarn und der Slowakei gegen eine EU-interne Umverteilung von Flüchtlingen abgewiesen. Wie positionieren sich die Kirchen in der Flüchtlingsdebatte in Ungarn?
Von außerhalb oder für Menschen, die nicht Ungarisch sprechen, stellt sich die Angelegenheit ziemlich einfach dar: Die Hierarchie der katholischen Kirche hat ein Abkommen mit der Regierung geschlossen – die Regierung zahlt und die Kirche schweigt. Da die Orbán-Regierung sich zum Ziel gesetzt hat, Ungarn und Europa vor den „muslimischen, terroristischen Attacken“ zu verteidigen, kann die Kirche daher auch nicht für die Flüchtlinge sprechen. Dieses Bild ist aber schlimmer als falsch, es ist vereinfacht. Von nahem betrachtet, stellt sich die Situation nämlich differenzierter dar: Innerhalb der katholischen Kirche in Ungarn gibt es eine Vielzahl von Meinungen hinsichtlich der Flüchtlingsthematik – und damit zusammenhängend hinsichtlich der Position von Papst Franziskus. Manche Bischöfe sagen öffentlich, dass sie gegen die Regierungspolitik sind und sich für die päpstlichen Ideen einsetzen. Andererseits gibt es Bischöfe, die der Ansicht sind, dass die Orbán-Regierung eine europäische und christliche Verantwortung ausübt und ihr auch andere Regierungen folgen sollten. Aus deren Sicht beurteilt Papst Franziskus die Situation falsch und sie kritisieren, dass der Papst die Willkommenskultur von Angela Merkel unterstützt. Innerhalb der Ungarischen Bischofskonferenz besteht also keine Einigkeit bei der Flüchtlingsthematik, das gilt aber auch für die anderen Kirchen im Land. Während die Evangelisch-Lutherische Kirche in Ungarn einen sehr gradlinigen, pro-Flüchtling-Kurs verfolgt, ist die Reformierte Kirche wie die katholische Kirche in dieser Frage geteilter Meinung, wobei der Akzent vermutlich ein wenig mehr auf der Abwehr von Flüchtlingen liegt.

András Máté-Tóth leitet den Lehrstuhl für Religionswissenschaft an der Universität Szeged. Seine Hauptforschungsgebiete sind der religiöse und kirchliche Wandel in Ostmitteleuropa und die neuen Formen von Religiosität.