Position der Kirchen in Belarus vor den Wahlen

04. September 2020

Was heute in Belarus im Nachgang der Präsidentschaftswahl geschieht, und die Reaktion der Kirchen darauf zu beschreiben, ist sehr schwierig. Noch unlängst hat das Regime durch eine hierarchische Organisation der Gesellschaft alle gesellschaftlichen Bereiche kontrolliert, jetzt hat es jedoch völlig die Kontrolle verloren. Ich beschäftige mich seit mehreren Jahren mit der belarussischen religiösen Landschaft sowie dem politischen und gesellschaftlichen Engagement der Kirchen und beobachte nun, wie schnell sich alle bekannten Strukturen und Trends der letzten 20 Jahre verändern. Wie andere belarussische und ausländische Experten ging auch ich davon aus, dass in der Präsidentschaftswahlkampagne nichts Interessantes passieren werde. Noch im Frühling prophezeiten alle Belarus-Spezialisten, dass die Kampagne im Sommer die langweiligste seit jeher werde. Begründet wurde dies mit dem Fehlen populärer politischer Anführer, der Krise der traditionellen Oppositionsparteien, der Erfahrung der letzten erfolglosen Proteste, die mit Repressionen des Regimes gegen die Gesellschaft und Sanktionen gegen das belarussische Regime endeten, die wiederum den Lebensstandard verschlechterten. Die Erinnerung an die tragischen Ereignisse in der Ukraine 2014, die zum Tod zahlreicher Menschen auf dem Majdan, dem Verlust der territorialen Unversehrtheit und zur Einmischung Russlands in den Krieg in der Ostukraine führten, senkten sogar bei der Opposition die Motivation für Proteste.

Pandemie annulliert Gesellschaftsvertrag
Mit dem Ausbruch der Coronavirus-Epidemie schien es zu einem noch größeren Erlöschen des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu kommen. Aber gerade die Epidemie und die Strategie des Covid-Dissidententums, die das Regime „zur Rettung der Wirtschaft“ wählte, annullierte abrupt den unausgesprochenen Gesellschaftsvertrag, der zwischen dem Regime und verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen bestand. Diesen Vertrag könnte man so formulieren: „Der Staat gewährleistet Frieden und politische Stabilität und das rechtfertigt die Begrenzung bürgerlicher Freiheiten.“1 Dies stellt die Loyalität der Gesellschaft gegenüber dem Regime sicher.

Obwohl die belarussische Gesellschaft laut soziologischen Forschungen eine der am wenigsten religiösen in Europa ist, genoss die Kirche als gesellschaftliche Institution ein großes Vertrauen in der Bevölkerung: mit rund 65 Prozent bei Umfragen nahm sie einen der ersten Plätze ein.2 In vielerlei Hinsicht war dieses Vertrauen eher nominal und nicht mit der Teilnahme der Kirche am politischen Prozess verbunden. Seit 2002 ist die orthodoxe Kirche in eine institutionelle Zusammenarbeit mit den staatlichen Organen eingebunden, die „Partnerschaft“ genannt wird, aber in einem bedeutenden Ausmaß asymmetrisch ist: mit einem „starken“ Staat und einer „schwachen“ Kirche. Obwohl die orthodoxe Kirche im Vergleich zu anderen Konfessionen vom Regime bestimmte Privilegien erhielt, wurde sie auch in ihren Rechten und der selbstständigen Teilnahme an der öffentlichen Sphäre eingeschränkt.3 Während der 2000er Jahre gab es eine gewisse Spannung zwischen dem Staat und den anderen Konfessionen (Protestanten und Katholiken), doch in den 2010er Jahren stabilisierte sich die Situation in der religiösen Sphäre. Die Kontrolle des Staates wurde durch bürokratische Maßnahmen ausgeübt, es kam zu einer gewissen „Erstarrung“ des religiösen Lebens, da alle religiösen Organisationen Loyalität gegenüber Regime bewahrten.4

Die Covid-19-Pandemie hat sich auch auf die Kirchen ausgewirkt. Laut vertraulichen Angaben des Instituts für Soziologie der Akademie der Wissenschaften für 2019 zeigen die Zahlen zum Vertrauen gegenüber der Kirche einen anormalen Wert: 45,6 Prozent.5 Andere staatliche und gesellschaftliche Institutionen erhielten noch tiefere Werte. Eine solche Situation kann als Vertrauenskrise gegenüber hierarchischen und mit dem Staat verbundenen Institutionen, darunter auch die orthodoxe Kirche, charakterisiert werden.

„Ein Katholik fälscht nicht“
Während der Wahlkampagne, die von Anfang an von Repressionen gegen alternative Kandidaten geprägt war, trat eine kleine Gruppe der katholischen Jugend (ihr informeller Anführer ist Artjom Tkatschuk) mit der Initiative „Ein Katholik fälscht nicht“ auf. Dazu gehörte eine Unterschriftensammlung für einen Appell an die Hierarchen, sich zur Situation der Gesetzlosigkeit, zur Missachtung der Menschenrechte und zum Machtmissbrauch zu äußern.

In die Arbeit der Bezirkskommissionen, in die Pyramide der Wahlfälschung, sind im ganzen Land zehntausende normale Menschen verstrickt, vor allem Lehrer und Mitarbeiter von Staatsunternehmen. Das funktioniert manchmal mit beruflich-administrativem Druck und/oder mit der Kompensation durch Güter – Prämien und freie Tage. Normalerweise nehmen viele an Wahlfälschungen Beteiligte dies als Erfüllung ihrer beruflichen und staatlichen Pflicht wahr, deshalb wird es selten als unmoralisch oder gar sündhaftes Handeln betrachtet. Die Kampagne der jungen Katholiken richtete sich genau an diese Kategorie unbewusst Beteiligter der Wahlkommissionen, unter denen nicht wenige Katholiken sind, um die Wichtigkeit auch für das religiöse Leben und die Folgen eines solchen Betrugs hervorzuheben. Sie drängten darauf, entweder die Teilnahme an der Wahlkommission oder die unmittelbare Teilnahme an Fälschungen zu verweigern, bzw. sogar die Motivation zu finden, auf Grundlage ihres Glaubens aktiv auf Ehrlichkeit und Offenheit bei der Organisation des Wahlprozesses zu bestehen. Es gelang dieser Initiative sowohl bei der demokratisch gesinnten Gesellschaft Aufmerksamkeit zu erregen, als auch bei vielen Geistlichen, die in Predigten, sozialen Netzwerken und Auftritten in den Medien die Unzulässigkeit einer Teilnahme an Wahlfälschungen aufgriffen. Durch die Initiative einer kleinen Gruppe, die von den aktiven Gläubigen positiv aufgenommen wurde und der sich die Geistlichen mit heimlicher Unterstützung der Hierarchie anschlossen, hat die katholische Kirche einen wichtigen Schritt zur Solidarisierung mit der demokratischen Gesellschaft und zur Erhebung ihrer Stimme in der Öffentlichkeit gemacht.

Loyale orthodoxe Hierarchie
Im orthodoxen Bereich gab es keine analoge Kampagne. Dafür gibt es mehrere Gründe. Erstens ist für die offizielle orthodoxe Kirche die Frage von ehrlichen Wahlen, Bürgerrechten und -freiheiten und einer demokratischen Staatsführung nicht so aktuell, als dass sie die Hierarchen zu öffentlichen Auftritten motivieren würde, sondern sie wird eher als „Einmischung in die Politik“ betrachtet, was ein unnötiges Risiko darstellt. Die orthodoxe Kirche hat sich im Rahmen des autoritären Regimes komfortabel eingerichtet, da sie eine Reihe symbolischer und ökonomischer Privilegien genießt. Wie der orthodoxe Geistliche Aleksandr Schramko bemerkt, „befindet sich der Episkopat der orthodoxen Kirche insgesamt in besonderen – servilen – Beziehungen zur Staatsmacht und bemüht sich, es ihr möglichst recht zu machen und gelegentlich sogar zu dienen. Dabei unterscheidet sich das Leben der Hierarchen sehr vom gewöhnlichen Alltagsleben des Volks, und deshalb können sie sich schwer vorstellen, wovon dieses Volk lebt.“6

Die Anwesenheit der Hierarchen beschränkte sich in der Vorwahlzeit darauf, mit ihrer Anwesenheit die zentrale Vorwahlaktion Lukaschenkas – die Ansprache des amtierenden Präsidenten ans Parlament und Volk – zu schmücken. Nur einer blieb fern: Erzbischof Artemij (Kischtschanka) von Hrodna und Volkovysk, der seit zwei Jahrzehnten eine ziemlich offene und kompromisslose Position im Verhältnis zum Staat einnimmt. Von den hochrangigen Geistlichen haben sich zwei mit Propaganda zur Unterstützung von Lukaschenka hervorgetan: Erzpriester Fjodor Povnyj in der Fernsehsendung „Sonntagspredigt“ und Erzpriester Andrej Lemeschonok, der Vorsteher des Klosters der Hl. Elisaveta, der mit dem Präsidenten auf der Covid-Dissidenten-Welle ritt und diesen dafür lobte, dass er die Kirchen an Ostern nicht geschlossen habe und am 9. Mai die Siegesparade durchführen ließ.

Zweitens hat die Hierarchie das Vertrauen der aktiven Geistlichen und Laien verloren, die eine bestimmte Strategie einer öffentlichen Theologie formuliert und in den vergangenen Jahren versucht haben, die Bischöfe – die als einzige bevollmächtigt sind, im Namen der ganzen Kirche zu sprechen – zu bestimmten Schritten in der Öffentlichkeit zu motivieren. Normalerweise lief das so ab: Es taucht ein gesellschaftliches Problem auf und die aktiven Gläubigen mobilisieren sich, um die Aufmerksamkeit der Hierarchie auf dieses Problem zu lenken und sie zu Handlungen und Äußerungen anzuregen. Es wurden Petitionen organisiert, die Menschen, die in der Kirche dienen oder eine theologische Ausbildung haben, unterschrieben und es wurden Informationen zur Verfügung gestellt. Das war ein Versuch, Handlungsmacht zu schaffen und der Hierarchie zu zeigen, dass eine bedeutende Zahl orthodoxer Gläubiger bestimmte Werte und Meinungen hat und von der Hierarchie Schritte erwartet. Doch von der Hierarchie wurden die Petitionen faktisch ignoriert. Die letzte große Petition war an Metropolit Pavel (Ponomarjov), bis vor kurzem Vorsteher der Belarussischen Orthodoxen Kirche, gerichtet, anlässlich der behördlichen Entfernung der Kreuze an der Gedenkstätte Kurapaty, wo Massengräber des stalinistischen Terrors liegen. Die Hierarchen, die sich sonst so kühn zu Verfolgungen des christlichen Kreuzes in Westeuropa äußern, sagten im Fall der brutalen Entfernung der Kreuze in Kurapaty so gut wie gar nichts.

Für die orthodoxe Gesellschaft ist das einerseits demoralisierend und frustrierend und lässt sie die Hoffnung verlieren, dass von der Hierarchie irgendeine adäquate öffentliche Reaktion erwartet werden kann. Andererseits ist das Vertrauen der Behörden in die orthodoxe Hierarchie und die Gewissheit über deren Loyalität gewachsen. Für die Hierarchie ist jegliche Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, die mit Kritik am autoritären Regime verbunden ist, höchst unerwünscht, wenn sie von als „orthodox“ konnotierten Menschen – Priestern, Studierenden geistlicher und theologischer Hochschulen und Mitarbeitern kirchlicher Strukturen – ausgeht. In einem solchen Fall distanziert sich die Hierarchie mit verschiedenen Mitteln von deren Handlungen oder von den Personen selbst, um ihre Loyalität gegenüber dem Regime zu bestätigen. So wurde im Sommer 2020 der Leiter der Sozialabteilung und des Pilgerdienstes der Eparchie Bobrujsk, Artemij Kuschner, entlassen. Kuschner hatte sich zuvor der Initiative „Ehrliche Menschen“ angeschlossen, die zur Wahlbeobachtung gegründet worden war. Er registrierte sich als unabhängiger Beobachter und platzierte in den Stories seines Instagram-Profils ein Foto vor einem Wahlbezirk mit einem weißen Band in der Hand und der Flagge des Stabs von Svetlana Tichanovskaja.7

Auf diese Weise wurde jegliche Teilnahme von Geistlichen und Laien an demokratischen Initiativen nicht nur nicht gefördert, sondern konnte zu Repressionen durch die kirchliche Linie führen. Deshalb äußerten sich Geistliche und Laien (Mitarbeiter kirchlicher Organisationen), sogar wenn sie sich an Initiativen beteiligten, öffentlich kaum dazu und nahmen als Privatpersonen daran teil, ohne ihre Zugehörigkeit zur orthodoxen Gemeinschaft zu zeigen. Im Gegensatz zur katholischen Initiative „Ein Katholik fälscht nicht“, die von der demokratischen Gesellschaft als moralische Handlung und Ausdruck des Muts der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit anerkannt wurde, zeigte sich die offizielle orthodoxe Kirche eher loyal dem Regime gegenüber, ohne eigene Stimme und nicht fähig, diese Stimme zum Schutz der Gerechtigkeit zu erheben.

Anmerkungen
1) Silitski, Vital: From Social Contract to Social Dialogue: Some Observations on the Nature and Dynamics of Social Contracting in Modern Belarus. In: Haiduk, Kiryl; Rakova, Elena; Silitski, Vital (eds.): Social Contracts in Contemporary Belarus. Minsk 2009, S. 160.
2) NISEPI: Dezember 2002: 65,7 Prozent; Juni 2004: 66,9 Prozent; Mai 2005: 68,1 Prozent (http://www.iiseps.org/?p=1800&lang=en); Dezember 2013: 63 Prozent; 2012: 63,2 Prozent (In: Babosov, Evgenij: Čelovek v social’nyh sistemah. Minsk 2013, S. 260).
3) Vgl. Vasilevich, Natallia: Unequal by Default: Church and State in Belarus in the Period of Consolidated Authoritarianism. In: Civil Society in Belarus, 2000–2015. Collection of texts. Warschau 2015, S. 97-127.
4) Vasilevich, Natallia: The Religious Sphere in Belarus: Stability and Controllability. Belarussian Yearbook 2018: https://nmnby.eu/yearbook/2018/en/page17.html.
5) https://www.facebook.com/burbalka/posts/10158741414739669.
6) https://theins.ru/obshestvo/234292.
7) https://bobr.by/news/religion/172311.

Natallia Vasilevich, Direktorin des kulturellen Bildungszentrums Ecumena in Minsk, Doktorandin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Mitglied des Koordinierungsrats der Oppositionskandidatin Svetlana Tichanovskaja.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

 

 



Bild: Ein Banner in Minsk für die belarussischen Präsidentschaftswahlen vom 9. August 2020. (© Homoatrox, CC BY-SA 3.0)