Dorn im Auge Putins: Die Freiheit der Ukraine

04. März 2022

Ich bin ein Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU). Ich schreibe diesen Text am 27. Februar 2022, am vierten Tag des massiven russischen Angriffs auf die Ukraine. Ich kann nicht wissen, was in den nächsten Stunden und Tagen passiert, wenn dieser Text publiziert wird. Ich habe eine schlechte Mobiltelefon-Verbindung und der Zugang zum Internet ist erschwert. Mehrmals tags und nachts muss ich mich mit meinen Lieben schnell unter dröhnenden Sirenen in den Schutzraum begeben.

Doch ich möchte die Wahrheit an die Leserinnen und Leser herantragen, besonders an diejenigen, die außerhalb der Ukraine leben und die Gründe des Angriffs Russlands auf die Ukraine nicht verstehen. Hat Europa – die demokratische Welt, die Länder und Leute, die für die Freiheit und Würde des Menschen und den Wert des menschlichen Lebens einstehen – etwas falsch gemacht, so dass es jetzt zu diesem furchtbaren, grausamen Krieg in Europa gekommen ist?

Ich stütze mich bei meinen Beobachtungen auf eine lange Zeitspanne. Erstens geht es um den Informationsraum, den Russland geschaffen hat, und der bis 2014 in der Ukraine sehr stark war und auch seither noch ist. Russland übt einen ziemlich großen Einfluss aus. Zweitens kann ich mit meiner 30-jährigen Erfahrung als Priester, einschließlich einer längeren Zeit im Moskauer Patriarchat, bezeugen, dass sich im Verlaufe der Zeit die Rhetorik und das Narrativ der Russischen Orthodoxen Kirche verändert haben. Ihre Politik verantwortet meines Erachtens einen gewaltigen ideologischen Anteil an der gegenwärtigen Tragödie.

Ungesühnte Verbrechen der Vergangenheit
Anfang der 1990er Jahre gab es in der russländischen Gesellschaft ein kurzes Zeitfenster, während dessen die Freiheit und Würde der Person als prioritäre Werte betrachtet wurden. Doch für die gesamte Geschichte Russlands ist ein solches Verhältnis zum Menschen und seiner Würde eine seltene Ausnahme. Im Verlaufe der Zeit waren Millionen von Menschen Knechte des Zaren oder des Bojaren-Adels, Rädchen im Getriebe des sowjetischen Systems, „Lagerstaub“ in Stalins GuLAG. Es wäre falsch zu glauben, dass sich das ganze Volk dem entgegengestellt hätte. So sagte die große russische Dichterin des 20. Jahrhunderts, Anna Achmatowa (eine gebürtige Ukrainerin aus Kiew), die Sängerin des Leids dieses Jahrhunderts: „Die eine Hälfte des Volks war in den Lagern, die andere Hälfte hat sie bewacht“. Eine gewaltige Anzahl dieser Wächterinnen und Wächter hat die Macht über andere genossen, die Gewalt an den Schwachen und denjenigen, die mit diesem System nicht einverstanden waren. Millionen von Rädchen im Getriebe dieses Machtsystems, das in ihnen mittels Gewalt eine Weltanschauung formierte, freuten sich über die Möglichkeit, einfach Befehle auszuführen. Auch wenn dabei Menschen, Millionen von ihnen umkamen. Wer jedoch hat diese Millionen umgebracht? Für diese bösen Taten wurde niemals jemand zur moralischen oder juristischen Verantwortung gezogen!

Nach dem Zerfall der UdSSR gab es keinen „Nürnberger Prozess“. Die ehemaligen Politiker unter Stalin und Breschnew und die Angestellten der Staatssicherheit haben bis zu ihrem Tod eine erhöhte Rente erhalten (einige bis heute) und waren stolz auf ihre Orden und Abzeichen. So hat die russländische Gesellschaft Gewalt und Rechtlosigkeit jahrhundertelang für einen normalen Zustand gehalten: sich der Macht unterzuordnen und ein einfaches Leben eines Bewohners zu führen, die eigene und die Würde des anderen mit Füßen zu treten, Gewalt zu begrüßen und sie mit Vergnügen zu mehren. Viele russische Bürgerinnen und Bürger, die sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit befinden und damit einverstanden waren, gewöhnten sich gleichzeitig daran, Stolz für ihre scheinbare Größe zu empfinden. Die Erziehung zu Stolz und Überheblichkeit gegenüber der ganzen restlichen Welt ist ein Eckstein der russländischen Ideologie.

Obwohl Gewalt auch zu sowjetischen Zeiten in der Gesellschaft präsent war, deklarierte die kommunistische Regierung, die sowjetische Struktur sei human und menschenliebend, sie brüstete sich mit der Gleichberechtigung der Völker. Nach dem Zerfall der UdSSR, seit Anfang der 1990er Jahre, kann man nicht einmal mehr von einer vorgeheuchelten Menschlichkeit sprechen. Ein schreiendes Beispiel war der erste Krieg gegen das tschetschenische Volk von 1994 bis 1997. Zehn-, wenn nicht Hunderttausend Tote, grausame und unmenschliche Kriegsverbrechen – das haben die russländische Gesellschaft, aber auch die sogenannten demokratischen Länder teilnahmslos geschluckt. Niemand hat dem Aufmerksamkeit geschenkt! Und aufgrund dieser Teilnahmslosigkeit, in erster Linie des Westens, wurden der zweite tschetschenische Krieg, der Genozid in Syrien unter Teilnahme der russländischen Armee und der Mord an friedlichen Bewohnern der Ukraine im Donbass seit 2014 möglich.

Putins Hass auf die Ukraine
Als der ehemalige KGB-Mann Putin an die Macht kam, ermöglichte es eine Periode hoher Öl- und Gaspreise, dass der Traum des Regenten Russlands, den Zerfall der UdSSR zu rächen, zu einem unüberwindbaren Wunsch auswuchs. Ich bin kein Psychiater, um in den Kopf Putins zu schlüpfen und zu bestimmen, wann genau sein Wunsch der Wiederherstellung der UdSSR oder gar des Russländischen Imperiums zu einer Manie eines Paranoiden wurde. Wir können nur konstatieren, dass sich seine verletzte Selbstverliebtheit mit vollem Furor auf die Ukraine stürzte. Der Hass auf die Ukraine zeigte sich nicht erst 2014 nach dem ukrainischen Majdan, sondern bereits zuvor in den 2000er Jahren, als Putin in Gesprächen mit Präsident George W. Bush glaubhaft zu machen versuchte, dass die Ukraine kein Staat sei und kein Recht auf Existenz habe.

Ohne den Wahnsinn des alten Mannes im Kreml zu kommentieren, wollen wir dennoch die Reaktion der russländischen Gesellschaft auf ihn betrachten. Die Gesellschaft erwies sich angesichts des Leviathan-Staats als schal und schwach. Die Versuchung, sich an die durch Propaganda aufgebauschte Staatsmacht anzulehnen, war für den größten Teil der russischen Bevölkerung sehr stark, besonders nach der Okkupation der Krim. Gleichzeitig vegetiert der große Teil der Bevölkerung im öl- und gasreichsten Land der Welt am Rande des Existenzminimums dahin, doch die Gesellschaft hat die „Eroberung“ der Krim als Sieg Russlands gefeiert.

Kurz nach dem dreisten Übergriff auf die Krim und dem Versuch, die Ukraine durch einen Angriff im Osten des Landes zu spalten, begann Putin an seine vollkommene Straflosigkeit zu glauben, weil die Wirksamkeit der Sanktionen des Westens vernachlässigbar war. In diesen Tagen sehen wir die Folgen dessen, dass die zivilisierte Welt einen Terroristen verwöhnt hat.

Imperiale Ideologie der russischen Kirchenführung
Ein äußerst wichtiger Bestandteil von Putins Ideologie wurde ein Narrativ, das die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) kreiert hat. Einen religiösen Exklusivismus, ein Bewusstsein der eigenen Exklusivität, die Selbstwahrnehmung als „Heilige Rus‘“, als „Drittes Rom, und ein viertes wird es nicht geben“, gab es im russischen religiösen Bewusstsein als radikalen Konservatismus schon lange, aber weder im 19. Jahrhundert noch während der meisten Zeit des 20. Jahrhunderts entsprach dies dem Mainstream. Trotzdem ist Nationalismus, wie viele Forschende bemerken, für die Orthodoxie sehr kennzeichnend. Für die kleineren Völker Osteuropas und des Balkans, die in der Orthodoxie verwurzelt sind, wurde diese Form des Christentums zu einer tragenden Säule bei der Aneignung der nationalen Identität durch die orthodoxen Staaten im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Damals war die Orthodoxie in Russland zunächst ein Werkzeug des Staates, des Imperiums. Die russische Kirche beugte sich dem Zaren oder dem Imperium willig, bezeichnete die Macht als sakral und erhielt dafür Privilegien und Unterstützung. Der russische religiöse Nationalismus ist nicht der Nationalismus einer kleinen Nation, die um ihr Existenzrecht kämpft. Das ist vor allem ein imperialer Nationalismus, der nach der Dominanz über den gesamten Osten strebt.  

Die imperialen Eigenschaften der ROK begannen sich mit dem Beginn des Patriarchats von Kirill seit 2009 abzuzeichnen. Obwohl sich die Kirche als Institution dem Staat unterordnete, gab es während verschiedener Epochen im kirchlichen Organismus immer einzelne Figuren, die sich bemüht haben, die Gebote Christi zu erfüllen und nicht die offizielle Ideologie zu begünstigen. Beispielsweise in der Sowjetzeit, als die Bischöfe gegenüber der Regierung loyal sein mussten, gab es einzelne Kirchenhirten, die sich ihre christliche Freiheit bewahrten. Doch Patriarch Kirill entfernte aufgrund seiner persönlichen Ambitionen jede Möglichkeit in der Kirche, eine öffentliche Position zu vertreten, die sich von seiner eigenen unterscheidet. Er selbst begann in seiner Machtfülle Charakterzüge eines absoluten Monarchen in der Kirche anzunehmen, die einem russischen Staatsherrscher ähnelt. Rasch verschwanden jegliche Anzeichen einer sog. „Sobornost“, auf die einige religiöse Philosophen so stolz gewesen waren, indem sie die Sobornost für eine Errungenschaft der russischen religiösen Weltanschauung hielten. Sogar jedes beliebige Eigentum der Kirchgemeinden wurde gemäß dem neuen Kirchenstatut zum Eigentum der Eparchie, d. h. des Bischofs, der die absolute Macht innehat. Patriarch Kirill verfügt ebenfalls über absolute Macht über die Erzbischöfe und wurde so zum absoluten Monarchen in seinem religiösen Imperium.

Mit jedem Jahr verhärtete sich die Rhetorik des Patriarchen und seiner Sprecher. Insbesondere betonte man die Loyalität zur russländischen Armee. Militärgeistliche wurden zum zwingenden Attribut der militärischen Heere. Als 2014 die Krim okkupiert wurde und Russland in die Ostukraine eindrang, demonstrierten russische Priester ihre Unterstützung der Regierung, indem sie an Siegesfeiern teilnahmen, während Kirill selbst offiziell nicht anwesend war.

Ukrainische Orthodoxie als Sicherheitsrisiko für Putin
2014 und die folgenden Jahre wurden zu einer Prüfung für die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die zum Moskauer Patriarchat gehört. Bereits 1991 blockierte die ROK die Anerkennung einer eigenständigen Ukrainischen Orthodoxen Kirche, indem sie ihre ökonomische und Informationsmacht sowie die Unterstützung des Staates nutzte. Die Orthodoxen in der Ukraine wurden in den Beziehungen zu den Kirchen verschiedener Länder ständig von der UOK vertreten, was faktisch bedeutete, dass die Weltchristenheit (und insbesondere die Weltorthodoxie) sich mit der russischen Kontrolle über die ukrainische Orthodoxie einverstanden erklärte. Diese Kontrolle war vergleichsweise schwach, solange Metropolit Volodymyr (Sabodan) (1935–2014) ihr Vorsteher war, doch unter dem neuen Vorsteher Onufrij (Berezovskij) verlor die UOK praktisch ihre relative politische Unabhängigkeit. Zu ihrem Hauptsponsor und „grauen Kardinal“ wurde faktisch der Milliardär Vadim Novinskij, ein Russe, der unter der Regierung von Präsident Viktor Janukovytsch den ukrainischen Pass erhalten hatte, und sich ständig neben Onufrij zeigt (und auch neben dem nächstrangigen Bischof, Metropolit Antonij (Pakanitsch), der bereits als Nachfolger von Onufrij gilt).

Anfang 2019 entstand dank der Vereinigung des proukrainischen Teils der orthodoxen Bischöfe der Ukraine und dank der diplomatischen Anstrengungen von Präsident Petro Poroschenko die erneuerte Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die als autokephale Kirche und eigenständige Kirche der Weltorthodoxie vom Ökumenischen Patriarchat anerkannt wurde. Dieses Ereignis rief nicht nur eine hysterische Reaktion des Moskauer Patriarchats hervor – den Bruch mit Konstantinopel und den anderen Kirchen, welche die OKU anerkennen –, sondern auch den Zorn und die Entrüstung des russischen Präsidenten. Als Reaktion auf die Verkündigung der OKU rief Putin eine Sitzung des Sicherheitsrates Russlands ein, an der dieses Ereignis (die Anerkennung der OKU) als Gefahr für die nationale Sicherheit Russlands eingestuft wurde. Es bestätigten sich die einst von Putin gesprochenen Worte: Das Pfand der Unabhängigkeit Russlands sind die Nuklearwaffen und die Russische Kirche – wobei er die ukrainische Orthodoxie als Teil der russischen betrachtete. Damit gab er auch zu, dass die russländische Orthodoxie in ihrer kompromisslosesten, exklusivistischsten Form eine Stütze seiner Ideologie einer hochmütigen und hasserfüllten Beziehung zu anderen Staaten und Völkern ist. Und die Ukraine, die der Welt die Möglichkeit eines anderen Lebens und einer anderen Orthodoxie präsentierte, wurde zu einer Grundquelle seines nicht abebbenden Zorns – weil sie sich nicht unterwerfen will!

Patriarch Kirill und andere Hierarchen der ROK haben im vergangenen Jahrzehnt geschwiegen, als in Russland Würde und Freiheit mit Füßen getreten wurden, als Regierungsgegner getötet wurden, als ganze Völker angegriffen wurden – in Tschetschenien, in Syrien und im Donbass. Außerdem haben viele Priester den imperialen Chauvinismus und die Gewalt gutgeheißen.

Hilferuf an Europa
Ich glaube, dass die Ukraine siegen wird, weil ihr Geist stärker ist als Eisen, und weil Würde und Freiheitsliebe stärker sind als Hass und Bosheit. Aber die Möglichkeit eines Sieges ohne massenhafte Opfer unter der Bevölkerung hängt stark von der tatkräftigen Hilfe der zivilisierten Welt ab. Diese Hilfe muss schnell, genau und mächtig sein. Wir haben keine Zeit für eine langsame, stufenweise Verschärfung der Sanktionen für Russland.

Die Hilfe muss in erster Linie eine militärische sein. Weil das Böse der Welt sich nur realer Stärke beugt. Doch diese Stärke muss auch weise und konsequent sein, damit dieser wildgewordene Verrückte nicht die Welt auslöscht. Die Hilfe muss auch ökonomisch und humanitär sein. Weil sich in den nächsten Tagen in der Ukraine eine gewaltige humanitäre Krise entwickelt. Unterbrochen sind Kommunikation und Handlungslieferungsketten, insbesondere für Nahrung und Medikamente. Die Besatzer zerstören Wege, vernichten Schulen und Krankenhäuser, hindern Ärzte daran, den Menschen zu helfen.

Als Hoffnungssignal müssen die Länder Europas eine gemeinsame Entscheidung über die baldige Aufnahme der Ukraine in die Europäische Gemeinschaft fällen. Christinnen und Christen Europas und Menschen guten Willens! Helfen Sie uns!

Bohdan Ohultschanskyj, Priester der Orthodoxen Kirche der Ukraine (bis 2018 UOK-MP); Dozent an der Offenen Orthodoxen Sophia-Universität in Kiew.

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.