Ukrainische Orthodoxe Kirche: Was uns erwartet, wenn...

19. Mai 2022

Serafim Pankratov

Was können wir erwarten, wenn das Schweigen der offiziellen Vertreter unserer Kirche [Ukrainische Orthodoxe Kirche, UOK] anhält, wenn keine Haltung zur Position von Patriarch Kirill ausgedrückt wird, und die UOK im Schoss der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) bleibt? Viele hat das Interview mit dem Vorsitzenden der Rada, Ruslan Stefantschuk, vom 25. April von RBK-Ukraina beruhigt, in dem er versicherte, dass die Frage eines Verbots der UOK während des Kriegs nicht erörtert werden wird. Darin sind jedoch zwei eindeutige Hinweise enthalten, dass dies nach dem Krieg geschehen wird: „Ungeachtet dessen, dass alle innerlich irgendwo ihre eigene innere Überzeugung haben, die in vielem mit dem übereinstimmt, von dem sie gesprochen haben, haben wir uns darauf geeinigt...“ und „Wir werden uns nach dem Krieg mit allem befassen.“

Das heißt, solange der Krieg dauert, werden die Behörden keine harten Maßnahmen gegen die UOK ergreifen. Im Übrigen betrifft das nur die Rada und die Zentralorgane der Regierung. Lokale Behörden (insbesondere in der Westukraine und in den Regionen, die unter russischer Okkupation standen) üben schon jetzt spürbaren Druck auf die UOK aus, indem sie von den Gemeinden verlangen, das Moskauer Patriarchat zu verlassen. In unserer Eparchie [Sumy] gab es bereits mehrere solcher Fälle. Den Vorstehern gelang es, einen Aufschub bei der Schließung von Kirchen zu erreichen, indem sie sich auf den Brief unserer Geistlichen über die Nicht-Kommemoration des Patriarchen und die Autokephalie beriefen sowie auf die Erwartung einer synodalen Entscheidung über den Status der UOK. Es ist nicht ausgeschlossen, dass sich dieser Druck in Zukunft verstärkt und auf alle Eparchien der UOK ausweitet... Es ist nicht ausgeschlossen, dass nach dem Ende des Kriegs neue Gesetzesinitiativen auftauchen, die auf eine Einschränkung der Tätigkeit der UOK zielen.

Aber noch verfügt die UOK über „Manövrierraum“. Es ist Zeit, klar und deutlich die eigene Autokephalie zu verkünden (wir werden hier nicht die Probleme ihrer Anerkennung erörtern, das ist eine separate Frage). Doch dieser Raum schrumpft buchstäblich vor unseren Augen...

Mich hat die Reaktion vieler mir bekannter Geistlicher und Laien auf meine vorangegangenen Veröffentlichungen überrascht und enttäuscht: sie haben sich gerade moralischen Argumenten gegenüber als unsensibel erwiesen. Deshalb muss ich zu einer zynischen Sprache von praktischen Verlusten und Nutzen übergehen. Hier ist der Rat nützlich, der auch mir mehr als einmal bei schwierigen Entscheidungen geholfen hat. Man teile ein Blatt Papier in zwei Spalten auf und schreibe auf die eine Seite die Argumente zugunsten einer Entscheidung und auf die andere Argumente zugunsten der gegenteiligen. Und dann beurteile man ihre Menge und die Gewichtigkeit jedes einzelnen.

Ich schreibe hier die Argumente für eine Trennung der UOK von der ROK auf, bringt ihr mir Gegenargumente. Die Argumente müssen jedoch begründet sein. Es genügt nicht zu verkünden, dass die strukturelle Einheit mit der ROK einen großen Wert darstellt, es muss erklärt werden, worin dieser besteht und in was für Vorteilen (darunter spirituellen) er sich ausdrückt.

1) Diese Trennung befreit uns von der kollektiven Verantwortung, die aufgrund der Unterstützung für den Krieg auf der ROK liegt. Sie wird mit der Zeit die UOK in den Augen der ukrainischen Gesellschaft rehabilitieren, unter der Bedingung, dass in unseren Kirchen keine prorussischen Ideen mehr geäußert werden. Schon jetzt sind sie, abgesehen von seltenen Ausnahmen, fast nicht mehr zu hören. Befürwortern der Russischen Welt und der slawischen Einheit könnte man vorschlagen, ein Exarchat der ROK in der Ukraine zu gründen, ihnen einige Kirchen (nicht viele, da es schon nicht mehr so viele Befürworter gibt) überlassen und dort sollen sie kommemorieren, wen sie wollen, und die Verantwortung für ihre Wahl tragen.

2) Das gibt unserer Kirche die Möglichkeit zurück, in Bildungseinrichtungen, der Armee und staatlichen Einrichtungen zu predigen. Bis zum Beginn des Krieges bestand eine solche Möglichkeit nur für einen kleinen Teil der Geistlichen (aller Ränge) dank persönlicher Vertrauensbeziehungen, aber wenn die UOK in der ROK bleibt, werden sogar diese Möglichkeit vielfach schrumpfen.

3) Wenn die UOK sich nicht abspaltet, dann wird sie einige westliche Eparchien vollständig verlieren (laut beständigen Gerüchten blicken einige schon in Richtung der Rumänischen Orthodoxen Kirche, andere in Richtung der Polnischen Orthodoxen Kirche), die übrigen werden die Mehrheit ihrer Gemeinden verlieren. Dieser Prozess hat schon begonnen, bald wird er lawinenartige Ausmaße annehmen. In der Eparchie Lviv beispielsweise sind von etwas über 60 Gemeinden nur noch etwas mehr als zehn übrig.

4) Wenn sich die UOK nicht abspaltet, wird mit der Zeit ein massenhafter Übertritt dörflicher Gemeinden zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) beginnen. Die Mehrheit der dörflichen Gemeinden ist sowieso schon klein. Ein Dorfbewohner ist unermesslich viel abhängiger von der Meinung der lokalen (dörflichen) Gemeinde als ein Städter von der Meinung seiner Treppenhausnachbaren. Die Mehrheit der dörflichen Geistlichen lebt vorwiegend von Kasualien, aber von jetzt an wird die Zahl der Menschen, die lieber einen Geistlichen der „ukrainischen“ und nicht der „Moskauer“ Kirche rufen, stark steigen. Die verbleibenden Dorfgemeinden der UOK werden aufhören zu wachsen (was überhaupt selten war) und beginnen zu schrumpfen (dazu mehr im nächsten Punkt). Bereits jetzt gibt es Fälle von lokalen Behörden, die die Aktivität der UOK verboten haben, und während des Kriegs kann dem fast nicht entgegengetreten werden.

5) Die Predigt des Christentums geht nicht nur von oben (von der geistlichen Hierarchie), sondern auch von unten, von den Laien, sogar zu einem größeren Teil von ihnen aus. Eltern geben ihren Kindern den Glauben weiter, Großeltern den Enkeln, Nachbarn den Nachbarn, jemand den Mitarbeitenden, jemand den Freunden. Dem Erfolg einer solchen Predigt schaden vor allem die persönliche Unwürdigkeit des Predigers oder Vorurteile gegenüber seiner religiösen Gemeinde. Wenn wir uns nicht von der ROK trennen, werden unsere Laien aufgrund der Vorurteile, die natürlich in den Medien und sozialen Netzwerken unterstützt würden, isoliert werden.

6) In den letzten Jahren ist die Zahl der Absolventen unserer geistlichen Bildungseinrichtungen stark zurückgegangen, und ihre „Qualität“ ist stark gesunken (Wissensstand, Lernvermögen, spirituelle Motivation). Der Prozentsatz derer, die nach dem Abschluss des Priesterseminars zum Priester geweiht werden, ist stark zurückgegangen; dabei hat das negative Verhältnis der Gesellschaft zur UOK hat eine wesentliche Rolle gespielt (das ist mir von unseren Abgängern bekannt). Wenn die UOK in der ROK bleibt, wird die Mehrheit der Seminare geschlossen werden, die „Qualität“ der Absolventen weiter sinken, und ein ungebildeter Klerus ist wesentlich geneigter, Christus und sein Evangelium mit pseudogeistlichen und pseudokirchlichen Ideen zu verdunkeln.

7) Auseinandersetzungen mit der Gesellschaft werden viele nicht aushalten und entweder das kirchliche Leben verlassen oder übertreten. Ein Teil der städtischen Kirchen wird mit der Zeit unter dem Druck der gesellschaftlichen Meinung natürlich ebenfalls zur OKU übertreten.

8) Die Mehrheit des patriotischsten und aufopferndsten Teils der ukrainischen Gesellschaft wird nicht Teil unserer Gemeinden werden (in der Armee beispielsweise sind die Stimmungen gegen das „Moskauer Patriarchat“ sehr stark), und auch nicht die Mehrheit derer, die die Einheit mit der ROK, die diesen Krieg absegnet, für unmoralisch hält (übrigens haben viele die UOK schon verlassen und verlassen sie weiterhin gerade aus diesem Grund). Die UOK wird die „Hinteren hüten“, und wir haben sowieso schon einen beträchtlichen Prozentsatz geistlicher Egoisten, die sich ausschließlich auf den eigenen Nutzen konzentrieren, sowie Anhänger magischen Denkens und Formalisten.

9) Bei uns wurde früher auch ständig der Komplex der Beleidigung durch die Gesellschaft aufgeblasen: wir werden verfolgt, wir werden ignoriert, wir werden nicht unterstützt, uns wird etwas weggenommen. Jetzt bleibt die Platte für immer bei diesem Lied stecken. Das wird den inneren Frieden und die Psychologie sehr vieler in der UOK verändern, ihnen den inneren Frieden rauben, sie in Opposition zur Gesellschaft stellen, sie zu Gekränkten von allem und allen machen. Wenn (wie in sowjetischer Zeit) die Gesellschaft Christus verfolgt, bringt das ungeachtet der äußeren Prüfungen innere Freiheit und sogar spirituelle Freude über die Anteilnahme am verfolgten Christus. Wenn eine Verfolgung aufgrund der eigenen Rigidität, Uneinsichtigkeit, Heuchelei […] und fehlende Sensibilität für moralische Fragen ausgelöst wird, dann bringt dies Kränkung, rigoristische Stimmungen und das Gefühl stolzer Überlegenheit („Nur wir sind kanonisch“) hervor.

10) In unserer Eparchie gab es einen Fall, bei dem ein Teilnehmer des Konflikts im Donbass wegen seiner Vorbehalte gegen das „Moskauer Patriarchat“ den Ältesten der Kathedrale verprügelte, der dann in ein Koma fiel und nicht mehr erwachte. Der Krieg 2014–2021 hat die Mehrheit der Gesellschaft nicht betroffen, viele verstanden nicht, warum es einen Krieg im Donbass gab. Die Anzahl der an den Kriegshandlungen Beteiligten war wesentlich tiefer und die Intensität der Gefechte viel geringer. Die Zahl getöteter Zivlist:innen war während acht Jahren im Donbass um ein Mehrfaches kleiner als in den 60 Tagen dieses Krieges allein in Mariupol. Nach diesem Krieg wird der Hass gegen Russland und alles, was damit verbunden ist, unvergleichlich, unermesslich größer sein. In den Händen wird eine große Menge Waffen bleiben (viele Waffen wurden in den ersten Tagen ohne Registrierung verteilt, es wird viel Beute geben), die Zahl der Menschen mit posttraumatischen Belastungsstörungen wird im Vergleich zu den letzten Jahren riesig sein. Und der Verlauf von besonders schlimmen Fällen von posttraumatischen Belastungsstörungen wird mit der Zeit nicht schwächer sondern schlimmer. Wer kann schon voraussagen, wohin das alles für die UOK führen kann?

11) Wenn die UOK ihren früheren Status behält, wird der Staat ihr früher oder später besondere wirtschaftliche Bedingungen auferlegen. Die Mehrheit der Gemeinden wird das nicht verkraften.

All diese „Verfluchungen“ könnten auf dem Gewissen unseres Episkopats lasten. Oder sie versuchen, unsere Kirche zu retten, sie aus der Falle zu führen und wieder „Segen“ zu sein – ihre verlorene Berufung wiederherstellen , die ukrainische Gesellschaft zu erleuchten und für den Triumph christlicher Ideale in ihr zu kämpfen. Oder sie schauen zu, wie alles vor ihren Augen zusammenbricht und müssen danach Christus auf die Frage antworten: Was habt ihr mit meinem Weinberg gemacht?

Umhin komme ich auch nicht, über das zentrale moralische Problem zu schreiben, das auch ein liturgisches ist. Stellen sie sich eine Liturgie in einer Kathedrale vor, bei der vor der Kommunion aus dem Altarraum der größere Teil des Episkopats und der Priester kommt und sich an die in der Kirche Stehenden wendet, gegenüber seinen Gemeindemitgliedern auf die Gemeindemitglieder derjenigen zeigt, die im Altarraum geblieben sind, und sagt: „Das sind Faschisten, schlagt sie, schlitzt sie auf!“. Und dann würde sich ein Teil der Gemeindemitglieder mit Messern auf den anderen stürzen, den einen schneiden sie den Hals durch, andern den Kopf ab, das Blut strömt durch die ganze Kirche, auch der Altar und der Thron sind blutbespritzt, einige der Frauen und Kinder werden vergewaltigt, und der Teil der Bischöfe und Priester, die im Altarraum geblieben sind, sagt währenddessen zu denen, die zum Blutbad aufgerufen haben: „Christus ist unter uns, liebe Mitbrüder, kommt und empfangt die Kommunion mit uns aus dem gleichen Becher! Und wir bitten um eure heiligen Gebete!“. Lässt Sie das nicht erschaudern?! Wie ist das für die, die erstochen und vergewaltigt werden? Kann es sein, dass es nötig ist, dem Teil, der zum Blutbad aufgerufen hat, etwas zu entgegnen, entschiedenen Protest zu verkünden? Ist die Einheit mit ihnen in Christus garantiert? Aber vielleicht sagen Sie, dass nicht alle in diesem größeren Teil „Erstecht sie!“, schreien und nicht wenige gibt, die zerknirscht mit den Köpfen nicken und stumm, „betend“ seufzen? Und was ändert das im Kern, übertönt das die Aufrufe zum Töten?

Wenn wir unsere Armee und unser Volk unterstützen, dann können wir nicht in geistlicher Einheit mit denjenigen sein, die die Vernichtung unserer Soldaten und unseres Volkes segnen und rechtfertigen –  die Einheit ist schon zerstört!

Serafim Pankratov, Archimandrit in der Eparchie Sumy.

Dieser Text erschien am 2. Mai 2022 auf der Facebook-Seite des Autors: https://www.facebook.com/archimandrite.seraphim.pankratov/

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Bild: Profilbild des Autors auf Facebook