10 Jahre Patriarch Kirill – ein Rückblick auf seine bisherige Amtszeit

07. Februar 2019
Vor zehn Jahren, am 1. Februar 2009, wurde Kirill (Gundjajev) als neuer Patriarch der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) inthronisiert. Was sind aus Ihrer Sicht die bisherigen inhaltlichen Schwerpunkte seiner Amtszeit?
Kirill ging damals der Ruf voraus, ein Vertreter des weltoffenen, eher liberalen Teils der ROK zu sein, viele verbanden mit ihm große Hoffnungen in Fragen der theologischen Weiterentwicklung, der Stärkung synodaler Strukturen, dem Dialog mit der Gesellschaft und der Ökumene. Nach 10 Jahren im Amt als Patriarch lässt sich sagen, dass diese Hoffnungen nicht eingelöst wurden.

Innerkirchlich lag ein Schwerpunkt seines Engagements im Aufbau und in der Stabilisierung bürokratischer Strukturen und einer Zentralisierung kirchlicher Entscheidungsprozesse. Das Landeskonzil, höchstes kirchliches Organ, das unter Beteiligung von Bischöfen, Priestern und Laien über zentrale Angelegenheiten der Kirche entscheiden soll, wurde seit der Wahl Kirills nicht mehr einberufen. Als Beratungsorgan wurde von Kirill stattdessen die „Interkonziliare Präsenz“ eingerichtet, ein Gremium von Klerikern und Laien, das wichtige Grundsatzdokumente ausarbeitet, diskutiert und den Bischöfen zur Entscheidung vorlegt. Die Entscheidungen trifft am Ende jedoch immer der Hl. Synod unter der Leitung des Patriarchen.

Der Ausbau der theologischen Ausbildung, auch die staatliche Anerkennung theologischer Studienabschlüsse und die Implementierung theologischer Fakultäten oder Lehrstühle an staatlichen Universitäten zählen zu den Errungenschaften der vergangenen Jahre. Sie werden bisher aber nicht von einem spürbaren Anstieg theologischer Forschung begleitet. Initiativen, Theologie und das Wissen um die Kirche und ihre Tradition in der Gesellschaft zu verankern, leiden vor allem unter der Wahrnehmung der Kirche als neue staatliche Ideologie, die von großen Teilen der Bevölkerung reflexhaft abgelehnt wird. Die von Kirill noch als Metropolit geschaffenen Foren des kirchlich-gesellschaftlichen Dialogs, etwa das Allrussische Volkskonzil oder die Weihnachtslesungen, sind in diesen Jahren zu Räumen des politischen Schaulaufens geworden: sie dienen hauptsächlich der Unterstützung und Legitimierung der moralkonservativen Politik des Staates. Die Konzepte der „Russischen Welt“ und der „traditionellen geistlich-moralischen Werte“ stellen Kirills zentrale gesellschaftspolitische Ideen dar, sie sind jedoch Ausdruck einer politischen, nicht einer pastoralen Agenda. Die Stärkung der Allianz mit der staatlichen Führung und politischen Organen ist zu einem Markenzeichen der Amtszeit Kirills geworden. Das lässt sich neben der öffentlich sichtbaren jeweiligen Präsenz bei kirchlichen und politischen Großereignissen auch an den zahlreichen Kooperationen in der Kulturpolitik, in einer gemeinsamen Geschichtskonstruktion, vor allem aber am lautstarken Schweigen der Kirche zu der aggressiven Außen- und Innenpolitik der politischen Führung ablesen.

Kirill hat die Sozialkonzeption der ROK aus dem Jahr 2000 maßgeblich mitgeprägt. Wie ist seine Haltung zu den Herausforderungen der Moderne?
Die Sozialkonzeption von 2000 war als Grundlagendokument angelegt, dem umfassendere Ausarbeitungen zu den einzelnen Themengebieten folgen sollten. Tatsächlich war dieses Dokument ein bemerkenswertes Ereignis für die Orthodoxie, die bisher kaum sozialethische Grundsatzpositionen ausformuliert hat, und konnte als Aufbruch der ROK zu einem Dialog mit der modernen Gesellschaft gedeutet werden.

Die Ausarbeitung der Einzelthemen geht jedoch langsam voran und illustriert die Schwierigkeiten, vor denen die Kirche steht. Gerade im Bereich der Sozialethik fehlen nach wie vor theologische Forschungen, so dass die Haltung Kirills zu zentralen Themen der modernen Gesellschaft – Demokratie, Individualität, Pluralität, Säkularität – maßgeblich von der politischen Agenda geprägt ist, und weniger von theologischen Erkenntnissen. In dieser Hinsicht ist die pauschale Kritik an allem „Westlichen“ und eine Verteufelung individueller Freiheit, die in Kirills Stellungnahmen vielfach anzutreffen ist, einfacher, als eine differenzierte und selbstkritische Auseinandersetzung mit den Verflechtungen und Potentialen der eigenen theologischen Tradition.

In praktischer Hinsicht kann man aber durchaus sagen, dass Kirill seine Kirche Moderne-fähig gemacht hat. Die Presse- und Kulturarbeit, die Präsenz in sozialen Medien, Selbstdarstellung und Anpassungsfähigkeit der Kirchenleitung sind in den bisherigen zehn Jahren seines Patriarchats umfassend modernisiert und professionalisiert worden. Die sogenannte Performance der Kirche ist also durchaus in der modernen Gesellschaft angekommen.

Geprägt wurde Kirill auch durch seinen Lehrer, Metropolit Nikodim (Rotov) von Leningrad, und der aktiven Beteiligung an ökumenischen Prozessen in jungen Jahren. Wie positioniert er sich heute zur Ökumene?
Die ökumenischen Beziehungen sind sicher eines der problematischsten Themen in Kirills Amtszeit. Zum einen sehen wir eine zunehmende Verbesserung der Beziehungen zur römisch-katholischen Kirche. Zwar belastet die Frage des sogenannten Uniatismus nach wie vor den theologischen Dialog, gleichzeitig gab es eine Annäherung in gesellschaftspolitischen und moralischen Fragen. Neben zahlreichen Auftritten und Besuchen von Metropolit Ilarion (Alfejev) in Rom war das Treffen von Kirill mit Papst Franziskus in Havanna im Februar 2016 sicher der Höhepunkt dieser „strategischen Allianz“. Auch die Beziehungen zu den evangelischen Kirchen orientieren sich maßgeblich an gemeinsamen moralischen Werten: Sie haben sich in den vergangenen 10 Jahren da verbessert, wo man gemeinsam für traditionelle Familienformen und Geschlechterrollen eintritt, etwa mit evangelikalen Gemeinschaften in Amerika. Wo diese gemeinsame Front fehlt, also etwa bei vielen evangelischen Kirchen in Skandinavien und Westeuropa, wurde der Dialog abgebrochen.

Ausgerechnet für die Annäherung an die römisch-katholische Kirche steht Kirill aber unter massivem Druck in seiner eigenen Kirche. Die anti-ökumenischen und fundamentalistischen Stimmungen innerhalb der ROK sind nicht neu, sie haben allerdings während der Amtszeit von Patriarch Kirill deutlich an Kraft gewonnen und erschweren die Teilnahme an der ökumenischen Gemeinschaft. Als ein Effekt dieses Drucks wird u.a. die kurzfristige Absage der Teilnahme der ROK am panorthodoxen Konzil auf Kreta im Juni 2016 angesehen. Die offene Haltung vieler anderer orthodoxer Kirchen, besonders des Ökumenischen Patriarchats, zu den anderen christlichen Kirchen ist vielen in der russischen Kirche ein Dorn im Auge. Ökumene wird daher von Kirill vor allem als ein Ort verstanden, an dem die ROK die von ihr bewahrte Glaubenswahrheit verkündet, weniger als Ort des Dialogs oder des gegenseitigen Lernens.

Die innerorthodoxen Beziehungen schließlich sind in den vergangenen Monaten durch den Konflikt um die Ukraine eskaliert und der einseitige Abbruch der Kommuniongemeinschaft mit Konstantinopel seitens Moskaus ist Ausdruck einer tiefen Krise innerhalb der Orthodoxie.

Regina Elsner, Dr., katholische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.

Bild: patriarchia.ru (©Oleg Varov)