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Russland: Kirche gegen Verschärfung des Gesetzes gegen häusliche Gewalt

05. Dezember 2019

In der Debatte um eine strengere Gesetzgebung gegen häusliche Gewalt in Russland hat sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) auf die Seite der Gegner gestellt. Die ROK solidarisierte sich mit einer Protestveranstaltung am 23. November und bezeichnete diese als „sehr wichtiges Signal, das nicht ignoriert werden kann“. Zwar räumte Vachtang Kipschidse, stellv. Leiter der Synodalabteilung für die Beziehungen der Kirche zu Gesellschaft und Medien, ein, dass sich die „orthodoxe Öffentlichkeit keine Illusionen“ in Bezug auf häusliche Gewalt und ihre Bedrohung für Familien mache. Aber die Methoden des Gesetzesprojekts „wecken viele Zweifel“. Sie basierten auf westlichen Erfahrungen im Kampf gegen häusliche Gewalt, hinsichtlich ihrer Effektivität bestünden aber große Fragen. Zudem entspreche die westliche Neudefinition der Familie nicht dem russischen Ziel, die traditionelle Familie zu stärken.

Vor den Folgen einer Verschärfung der Gesetze warnte auch Erzpriester Dimitrij Smirnov, der Leiter der patriarchalen Kommission für die Familie. Der Kampf gegen häusliche Gewalt sei lediglich ein Vorwand, tatsächlich werde darauf gezielt, Kinder einfacher ihren Familien wegnehmen zu können und sie „Homosexuellen zur Erziehung zu übergeben“, wie das in den USA seit der Annahme eines ähnlichen Gesetzes der Fall sei. Das Gesetz schlage im Prinzip vor, die Gerichte durch eine NGO zu ersetzen, die sich „auf dem Rücken der Steuerzahler einmischt und das Resultat wird die Zerstörung der Überreste unserer Familien“ sein. Ein wirklicher Schritt im Kampf gegen häusliche Gewalt wäre laut Smirnov eine Anordnung des Präsidenten, dass die Polizei auf Klagen von Frauen reagieren soll.

Aktuell verfügt Russland über kein eigenes Gesetz zu häuslicher Gewalt. Ein Zusatz zu einem anderen Gesetz, der Körperverletzung innerhalb der Familie unter Strafe stellte, wurde 2017 so geändert, dass häusliche Gewalt beim ersten Mal keine Straftat mehr ist. Alle bisherigen Versuche zu einem Gesetz gegen häusliche Gewalt sind gescheitert und jeweils auf entschlossenen Widerstand von konservativen Gruppen und Schützern sog. traditioneller Werte gestoßen. Der aktuelle Gesetzesentwurf stammt von der Duma-Abgeordneten Oxana Puschkina, Mitglied der Regierungspartei Einiges Russland. In den sozialen Medien wurden sie und ihre Mitverfasserinnen bedroht. Puschkina spricht von einer „gut organisierten und gut finanzierten Kampagne“ gegen den Gesetzesentwurf. Sie hat beim Innenministerium eine Beschwerde eingereicht und darum gebeten zu untersuchen, ob das Vorgehen der Bewegung Sorok Sorokov, einer orthodoxen Organisation, als Drohung gegen sie einzustufen ist.

In einem offenen Brief haben über 180 Organisationen zum Schutz traditioneller Werte den Gesetzesentwurf als Produkt der „Genderideologie“ verurteilt. Auf der Website CitizenGo haben mehr als 23‘000 Personen eine Petition gegen den Gesetzesentwurf unterzeichnet, unter anderem weil er auf der „radikalen Ideologie des Feminismus“ beruhe. Finanziert wird die Website, auf der auch Material gegen Abtreibungen, Impfungen und Rechte für sexuelle Minderheiten zu finden ist, vom sog. orthodoxen Oligarchen Konstantin Malofejev, dem Gründer des nationalistisch-monarchistischen Internet-TV-Senders Zargrad.

Bei den Gegnern des Gesetzesentwurfs ruft die Berücksichtigung verschiedener Formen häuslicher Gewalt, darunter physische, psychische, wirtschaftliche und sexuelle Gewalt, besondere Besorgnis hervor. So befürchten sie, dass das Vorenthalten von Konsumgütern einem Kind gegenüber als wirtschaftliche Gewalt oder die Pflicht, im Haushalt zu helfen, als Ausbeutung eingestuft werden könnten. Ähnliche Argumente waren auch an der Protestaktion im Moskauer Sokolniki-Park am 23. November zu hören. Die größte Sorge gilt der Institution der Familie entsprechend einem konservativen Rollenverständnis.

Häusliche Gewalt ist in Russland ein verbreitetes Phänomen. Eine staatliche Statistik von 2012 kam zum Schluss, dass mindestens 20 Prozent der russischen Frauen einmal im Leben Opfer von physischer Gewalt durch ihren Partner werden. 2016 berichtete das Innenministerium, dass 64‘421 Gewalttaten innerhalb der Familien begangen wurden, rund die Hälfte davon gegen die Ehefrau oder Partnerin. Aktivisten befürchten, dass die tatsächlichen Zahlen wesentlich höher sind, da die Fälle oftmals der Polizei nicht gemeldet werden oder die Polizei nichts unternimmt. Am 25. November, dem internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen, fand in Moskau eine Kundgebung statt, bei der die Teilnehmenden auf das Ausmaß des Problems in Russland hinwiesen.

Am 29. November veröffentlichte der Föderationsrat, das Oberhaus des russischen Parlaments, eine angepasste Version des Gesetzesentwurfs, der auf scharfe Kritik der ursprünglichen Initiantinnen stieß. Nun fehlten wichtige Passagen, in dieser Form sei der Entwurf weitgehend nutzlos und biedere sich bei „radikal konservativen Gruppen“ an.

Im Juni hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschieden, dass die russischen Behörden nicht angemessen auf Anschuldigungen wegen häuslicher Gewalt reagierten, und Russland aufgefordert, rechtliche Anpassungen vorzunehmen. Dabei geht es um die Klagen von vier Russinnen, deren Fälle vom EGMR zusammengenommen worden sind. Die Frauen waren in Russland Opfer häuslicher Gewalt geworden und beschuldigten die russischen Behörden, nicht angemessen mit ihrer Situation umgegangen zu sein. Im November berichtete die russische Zeitung Kommersant, das Justizministerium habe dem EGMR geantwortet, das Problem werde „ziemlich übertrieben“. Laut Kommersant gibt Russland zwar zu, dass es häusliche Gewalt „in Russland, wie in jedem anderen Land“ gebe, aber das „Ausmaß des Problems“ sowie die „Schwere und das Ausmaß seines diskriminierenden Effekts auf Frauen“ sei „übertrieben“. Bezüglich der Diskriminierung kommt das Justizministerium zum Schluss, Männer seien stärker betroffen. Sogar wenn die Mehrheit der Opfer Frauen seien, wofür es keine Belege gebe, sei es „logisch“, dass männliche Opfer in dieser Situation „stärker unter Diskriminierung leiden“, da sie in der Minderheit seien und von ihnen keine Bitten um Schutz vor Gewalt erwartet würden. (NÖK)