Polen: Bischofskonferenz kritisiert Bericht der staatlichen Missbrauchskommission

12. August 2021

Die Polnische Bischofskonferenz hat den ersten Bericht der staatlichen Kommission zur „Aufklärung von Handlungen gegen die sexuelle Freiheit und Sittlichkeit von Minderjährigen unter 15 Jahren“ kritisiert. Der Büroleiter des Kinderschutzbeauftragten der Bischofskonferenz, Piotr Studnicki, warf der Kommission am 5. August vor, ein falsches Bild vom Ausmaß sexualisierter Gewalt durch Priester zu vermitteln und der Kirche zu Unrecht mangelnde Kooperationsbereitschaft zu unterstellen.

Die seit November 2020 tätige staatliche Kommission hat im Juli ihren ersten Bericht veröffentlicht: In rund 29 Prozent der 349 Fälle, die der Kommission bislang gemeldet oder von ihr selbst aufgenommen wurden, ist demnach der Beschuldigte ein Geistlicher: in 100 von 349 Fällen. Bei 68 Beschuldigten handele es sich um einen Elternteil, bei 36 um einen anderen Verwandten. Der Bericht lasse freilich nicht den Schluss zu, dass 29 Prozent aller Missbrauchstäter Geistliche sind, präzisierte der Leiter der Kommission, Blażej Kmieciak im Interview der polnischen Nachrichtenagentur KAI. Nach in dem Report zitierten Untersuchungen seien Geistliche aber in etwa ein Prozent der pädosexuellen Verbrechen verwickelt. Die Kommission stellte bei einer eigenen Auswertung von Gerichtsakten von Strafprozessen aus der Zeit von Mitte 2017 bis Ende 2020 fest, dass unter den rechtskräftig verurteilten 265 Tätern zwei Priester waren. Die Kommission schlägt vor, dass die Justiz Strafverfahren zu Kindesmissbrauch mit Priorität durchführt und ein Kinderanwalt eingeführt wird. Auch eine Verschärfung des Strafmaßes sei wichtig.

Die Kommission forderte laut ihrem Bericht bei der vatikanischen Glaubenskongregation Ende Juni zahlreiche Daten an. Sie will demnach wissen, wie viele Strafverfahren wegen sexualisierter Gewalt gegen Kinder es seit 2002 gegen polnische Geistliche gab und wie viele Priester aus dem Klerikerstand entlassen wurden. Eine Antwort steht noch aus. Kmieciak lobte im Interview die Aufklärungsinitiativen der katholischen Kirche: „Die katholische Kirche hat zwei Recherchen durchgeführt. Es lohnt sich natürlich, diese einer externen Sekundäranalyse zu unterziehen, aber es ist das einzige Umfeld, das bisher eine Art Selbstdiagnose der Situation gestellt hat.“

Informationen erbat die Kommission auch von anderen Kirchen und den Zeugen Jehovas. Die orthodoxe Kirche, mit nach eigenen Angaben 600‘000 Mitgliedern Polens zweitgrößte Konfession, erklärte, ihr seien keine Fälle von Kindesmissbrauch durch Geistliche bekannt. Die meisten anderen Glaubensgemeinschaften machten bislang keine Angaben.

Den Schluss, dass 30 Prozent aller Missbrauchsstraftäter Geistliche seien, zogen viele Medien aufgrund einer Überschrift im Bericht (3.3.): „Fälle, in denen ein Geistlicher als Täter angegeben wird (fast 30%)“. Daher warf Studnicki der Kommission bei ihrer „unglücklichen“ Darstellung „wesentliche Vereinfachungen, Unklarheiten und sogar Verzerrungen“ vor, „die uns dem Beginn eines fruchtbaren und notwendigen Dialogs zum Wohle der Missbrauchten nicht näher bringen“ und kaum rückgängig zu machen seien.

Gleichzeitig verdiene der Bericht Dank und Anerkennung, weil er die gesamtgesellschaftliche Problematik sexuellen Missbrauchs von Minderjährigen aufzeige. Den Vorwurf einer mangelnden Kooperationsbereitschaft der katholischen Kirche weist Studnicki zurück wie auch die Behauptung, die Kirche habe Missbrauchsfälle vor 2008 systematisch vertuscht und müsse dafür belangt werden. Die Kirche habe der Kommission bereits im Mai angeboten, ausführliche statistische Daten zu übermitteln. Diese Initiative sei allerdings seinerzeit nicht auf Interesse gestoßen. Man sei auch bereit gewesen, mit der Kommission in Hinblick auf Kirchenakten zusammenzuarbeiten. Das müsse jedoch im Rahmen der Gesetze geschehen und auf einer klaren Rechtsgrundlage beruhen. Das Gesetz über die Aufarbeitungskommission verpflichte aber nur Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Übergabe der erforderlichen Unterlagen aus ihren Fallakten, nicht jedoch Religionsgemeinschaften.

Ewa Kusz, die Vizedirektorin des Kinderschutzzentrums der katholischen Kirche, brachte ihre Konsternation in der katholischen Zeitschrift „Der Bund“ (Więź) zum Ausdruck und kritisierte Kmieciaks Methode. Ungeachtet aller Gegenargumente immer wieder die mangelnde Gesprächsbereitschaft der Kirche zu betonen, schüre Aggressionen gegen die Kirche. Über dem medialen Wirbel und dem Streit mit juristischen Argumenten gingen die Opfer vergessen: „Ich stimme zu, dass es keine ernsthafte Analyse des Problems des sexuellen Missbrauchs in Polen sowohl in der Gesellschaft als auch in der polnischen Kirche gibt. Dies ist sicherlich ein Versäumnis der Kirchenoberen in Polen. Aber es ist auch ein Versäumnis des polnischen Staates. […] Verantwortlich für diesen Zustand sind die Oberen der polnischen Kirche, denn die bisherigen Aktivitäten waren überwiegend reaktiv, ohne eine langfristige, systemische Vision. Bisher gibt es keine Bereitschaft, ernsthaft zu analysieren und zu recherchieren. […] Die Lösung wäre ein gemeinsames Forschungsprojekt vieler sozialer Gruppen, einschließlich der Kirche. […] Fazit: Es ist notwendig, dass die Kommission und die delegierte Gruppe der Bischofskonferenz ohne Medien arbeiten und sich gemeinsam einigen.“

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