Polen: Kirchen gedenken 100 Jahren staatlicher Unabhängigkeit

15. November 2018

Anlässlich des 100. Jahrestags der Wiedererlangung der polnischen Unabhängigkeit am 11. November haben die römisch-katholischen Bischöfe Anfang November einen Hirtenbrief veröffentlicht, der die tragende Rolle des christlichen Glaubens und der katholischen Kirche in der polnischen Geschichte betont. In dem Hirtenbrief warnen die Bischöfe vor einem Abrücken von christlichen Prinzipien, da dies das Familienleben und den Staat gefährden könne.

Im Hirtenbrief, der am 4. November in allen katholischen Gottesdiensten verlesen werden sollte, erklären die Bischöfe, dass das Feiern des Jahrestags neben dem Gedenken an die Geschichte „zur Reflexion über den aktuellen Zustand Polens und die Bedrohung seiner souveränen Existenz“ veranlasst. Die staatliche Unabhängigkeit sei der polnischen Nation „nicht ein für alle Mal gegeben“, sondern verlange von jeder polnischen Generation „Liebe zum Vaterland“, die – neben bürgerlichem Gemeinsinn, Solidarität zwischen den Generationen und Verantwortung für die Schwächsten der Gesellschaft – Teil des universalen Gebots der Nächstenliebe sei. Mit Verweis auf das Dokument „Die christliche Gestalt des Patriotismus“ erinnerten sie daran, dass die Liebe zum Vaterland nur eine Etappe auf dem Weg zum himmlischen Vaterland sei, das alle Menschen und Völker umfasse.

Die Bischöfe betonen die Rolle von Geistlichen und Laien der katholischen Kirche, der Christen anderer Konfessionen und zahlreicher Kulturschaffender bei der Wiedererlangung der Unabhängigkeit. Sie würdigen auch die Familien und besonders die Frauen, die der nächsten Generation der Polen jeweils „die Liebe zu Gott, Kirche und Vaterland“ vermittelten. Nach 123 Jahren Fremdherrschaft sei der unabhängige Staat nicht allein durch bewaffnete Kämpfe und politische und diplomatische Bemühungen erreicht worden, „sondern vor allem durch die Liebe zu Gott und den Nächsten, beharrlichen Glauben und Gebet“.

Als größte Gefahr für den Zerfall der Republik sehen die Bischöfe „das Abrücken vom katholischen Glauben und christlichen Prinzipien als Grundlagen unseres Familien- und Volkslebens und des Funktionierens des Staats“ an. Gefahren durch „Alkohol, Drogen, Pornografie, den Gefahren aus dem Internet, Glücksspiel“ führten vor allem unter Jugendlichen zur moralischen und geistigen Schwächung des Volks. Zudem kritisieren sie Egoismus von Einzelnen und ganzen Gruppen, eine mangelnde Sorge um das Gemeinwohl sowie „die Schmähung und Geringschätzung des katholischen Glaubens, nationaler polnischer Traditionen und von allem, was unsere Heimat ausmacht“.

Die liberale katholische Zeitschrift Tygodnik Powszechny fasste die Reaktionen der Medien auf den Hirtenbrief zusammen: „Eine verpasste Chance; Fehlen einer attraktiven Vision für zeitgenössische Polen; Vervielfältigung des Stereotyps vom katholischen Polen; Umgehung wichtiger Themen der Gegenwart wie das Befolgen der Verfassung oder Offenheit für Migranten und Flüchtlinge; ein Geschenk der Hierarchen an die Kirchenkritiker.“ Adam Leszczyński, Soziologieprofessor an der Universität für Sozial- und Geisteswissenschaften in Warschau, bezeichnet den Brief auf der unabhängigen Medienplattform oko.press als kurios und findet vor allem die Geschichtsfälschung erschütternd: Bei weitem nicht alle Unabhängigkeitskämpfer seien gläubig gewesen und schon gar nicht alle Katholiken. Sowohl die Sozialisten unter Józef Piłsudski als auch die National-Demokraten unter Roman Dmowski hätten sich damals von der Kirche distanziert. Der polnische Patriotismus sei nicht lückenlos mit dem katholischen Glauben verbunden, im Gegenteil hätten die katholische Kirche und der Vatikan die Unabhängigkeitsbewegung im 19. Jahrhundert oft kritisiert und zur Loyalität gegenüber den Regierungsmächten aufgerufen. Die Werke des Nationaldichters Adam Mickiewicz, der im Brief unter den „christlichen Künstlern“ Polens aufgeführt wird, seien 1848 in die Liste verbotener Bücher aufgenommen worden, deren Lektüre die Exkommunikation bedeuten konnte. Die Botschaft sei also: „Pole, ohne Katholizismus gibt es Dich nicht, es gibt kein Polen ohne die Kirche. Nicht-katholische Polen sind in dieser Optik im besten Falle eine schlechtere Sorte von Bürgern, und im schlechtesten Falle wird ihnen das Polentum abgesprochen. In Zeiten echter Bedrohungen für Polen, Europa, die Welt und den Planeten, hätten wir von den wichtigsten Würdeträgern der polnischen Kirche wahrhaftig etwas mehr erwartet.“

Neben dem Hirtenbrief haben die Bischöfe zusammen mit dem Polnischen Ökumenischen Rat am 10. November einen „Brief der Kirchen“ publiziert, der die Liebe zum Vaterland aller Bürger ungeachtet ihrer Herkunft und Religion und die Werte der Toleranz und Solidarität herausstellt. Trotz unterschiedlicher politischer Überzeugungen und Visionen für Polen hätten die Kämpfer für die polnische Unabhängigkeit aus verschiedenen Kirchen und Religionen die Liebe zum Vaterland geteilt, deren integraler Bestandteil Offenheit, Toleranz und Solidarität sei: „Zu diesen Werten müssen wir immer wieder zurückkehren. Das ist gerade jetzt unbedingt nötig, da unser Land in Folge der zivilisatorischen Veränderungen und gesellschaftlichen Prozesse der letzten Jahrzehnte für viele das Vaterland ihrer Wahl geworden ist.“

Polen hat am 11. November seine staatliche Wiedererrichtung 1918 am Ende des Ersten Weltkriegs nach 123-jähriger Besetzung durch seine Nachbarstaaten gefeiert. 1795 hatten Preußen, Russland und Österreich die polnische Adelsrepublik vollends zerschlagen.

Regula Zwahlen