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Krieg, Frieden und Militärseelsorge: Lehren aus der Ukraine

17. November 2023

Interview mit Roman Zaviyskyy
Krieg, Frieden und Militärseelsorge: Lehren aus der Ukraine

Wie hat sich die Militärseelsorge in der ukrainischen Armee in den vergangenen Jahren entwickelt?
Die wichtigste Entwicklung geschah 2021, als Präsident Volodymyr Zelenskyj das Gesetz „Über den Militärseelsorgedienst“ unterzeichnete, das vom Steuerungskomitee des Parlaments entworfen worden war. Dieses Gesetz, das als „verspätete Dekommunisierung“ bezeichnet werden kann, eröffnete Möglichkeiten für die staatliche Institutionalisierung und Umsetzung der Militärseelsorge, ähnlich der langjährigen Tradition globaler Praktiken in diesem Feld. In der Vergangenheit waren immer wieder Einwände gegen eine vom Staat unterstützte Seelsorge in den Streitkräften auf einer eher postkommunistischen Interpretation des Verfassungsprinzips der Trennung von Kirche und Staat vorgebracht worden. Doch dieses Prinzip existiert in den Verfassungen vieler Länder, die dennoch seit Jahrzehnten, wenn nicht seit Jahrhunderten eine gut organisierte Militärseelsorge mit Unterstützung des Staats haben.

Was sagt das Gesetz über Militärseelsorge aus?
Das Gesetz regelt die Beziehungen bei der Umsetzung des verfassungsmäßigen Rechts auf Religionsfreiheit des Militärpersonals der Streitkräfte der Ukraine, der Nationalgarde der Ukraine, des Grenzschutzes der Ukraine und anderer militärischer Einheiten in Übereinstimmung mit der ukrainischen Gesetzgebung und legt die rechtlichen und organisatorischen Grundsätze des Militärseelsorgedienstes fest. Ein Militärgeistlicher muss ukrainischer Staatsbürger sein, der zu einer religiösen Organisation gehört, die in der Ukraine registriert ist. Zudem muss er ein Mandat der betreffenden religiösen Organisation zur Militärseelsorge erhalten haben. Zahlenmäßig darf das Personal der Militärseelsorge nicht weniger als 0,15 Prozent des Personals der Streitkräfte, Nationalgarde, anderer Militäreinheiten und des Grenzschutzes betragen. Daher stehen aktuell über 700 Stellen für Militärkapläne zur Verfügung. Das Gesetz sieht auch vor, dass interkonfessionelle Räte für Militärseelsorge, die dem Verteidigungs- und Innenministerium unterstehen, als beratende Organe eingerichtet werden.

Welche religiösen Denominationen werden aktuell von der Militärseelsorge vertreten?
Die Herangehensweise ist multireligiös. Um den spirituellen und religiösen Bedürfnissen der ukrainischen Streitkräfte angemessen zu entsprechen, ist die Einführung von entsprechenden Quoten für die konfessionelle Vertretung geplant. Staatlich unterstützte Militärgeistliche sind für alle in den Streitkräften verfügbar. Es ist zudem seine Plicht, einen Geistlichen der entsprechenden Konfession zu finden, falls ein Soldat einen Geistlichen aus seiner eigenen Glaubensgemeinschaft verlangt. Die Militärgeistlichen stehen auch Nicht-Gläubigen zur Verfügung. Aktuell gibt es über 200 Militärgeistliche von 700 möglichen Stellen, da der nötige Papierkram und die Formalitäten Zeit brauchen. Am wichtigsten ist, dass der Prozess begonnen hat. Zu den neu eingesetzten Militärgeistlichen zählen Vertreter der drei Hauptzweige des Christentums in der Ukraine: Orthodoxie, Katholizismus und Protestantismus. Neben dieser neuen Entwicklung dienen von der Kirche unterstützte Militärgeistliche in den Streitkräften, wie es bereits vor dem Inkrafttreten des neuen Gesetzes der Fall war.

Was sind die dringendsten Aufgaben und die Herausforderungen der ukrainischen Militärgeistlichen?
Das Motto der Militärseelsorge ist „nahe zu sein“. Zusätzlich zu ihren eigenen Glaubenstraditionen mit ihren liturgischen und sakramentalen Praktiken haben die Geistlichen die Aufgabe, menschliche Anwesenheit und Anteilnahme zu bieten, Sinn inmitten des sinnlosen Kriegsleidens zu stiften, die Bewahrung der Menschlichkeit inmitten der Entmenschlichung sicherzustellen, transzendente Erfahrung zu vermitteln, Mitgefühl zu verkörpern und Herausforderungen in Chancen zu verwandeln. Den blutigen Ansturm des Bösen und den Ozean des unschuldigen Leidens zu sehen, kann unerträglich sein. Hass ist hier ein natürlicher Gefährte. Die Geistlichen sollen aufzeigen, dass Hass keinen Sieg sicherstellen kann, menschliche Würde jedoch durchaus.

Wir leben in einer seltsamen Welt, in der das globale Böse mehr spirituelle Anführer, Stimmen und Gesichter hat als das Gute. Orthodoxe Soldaten hadern mit der Vorstellung, dass das Moskauer Patriarchat zum Patriarchat des Kriegs geworden ist, indem es Putins Regime mit der Ideologie der „Russischen Welt“ versorgt hat. Katholische Soldaten sind ratlos, weil die katholische Kirche – obwohl sie in der Person des Papstes mit den Kriegsopfern mitfühlt – Angst hat zu sagen, wer den Krieg angefangen hat. Daher sind die Militärgeistlichen aufgerufen, sich um das zu kümmern, was bedeutungsvoll ist, und eine Motivation anzubieten, um das Leben und die menschliche Würde zu schützen.

In der internationalen Öffentlichkeit wird viel über die westliche Waffenunterstützung für die Ukraine diskutiert. Welche Unterstützung brauchen die ukrainischen Militärgeistlichen?
Das Teilen von Erfahrungen und „best practices“ wäre für die ukrainischen Geistlichen sehr hilfreich, vor allem hinsichtlich der Ausbildung von Fähigkeiten, Professionalisierung in einem interdisziplinären Umfeld (Psychologie, Seelsorge, Sicherheit etc.). Auch eine gewisse multireligiöse Harmonisierung des pastoralen Diensts ist eine Herausforderung. Wissenstransfer benötigen wir zudem beim Management von Veteranen-Vereinigungen und der Seelsorge für die Familien der Gefallenen. Dies ist umso schwieriger angesichts einer schwindenden Teilnahme an etablierten religiösen Traditionen, die durch das Vorherrschen eines abstrakten Sinns für Spiritualität ersetzt werden: „Glauben ohne Zugehörigkeit“ – believing without belonging.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger, Regula Zwahlen.

Bei dem Interview handelt es sich um gekürzte deutsche Fassung des Gesprächs, das der niederländische Theologe Pieter Vos mit Roman Zaviyskyy geführt hat. Das ganze Gespräch findet sich unter https://tijdschrift.handelingen.com/article/view/18003/19626.

Roman Zaviyskyy, PhD, ist Philosoph und Theologe und Vorsitzender der ukrainischen Sektion der Europäischen Gesellschaft für Katholische Theologie. Kontakt: