Verschlossene Kirchentüren und virtuelles Gedenken an den Genozid
Covid-19 hat Armenien relativ spät erreicht, aber die Gesellschaft und die junge Regierung (seit knapp zwei Jahren im Amt) auf eine harte Probe gestellt. Am 1. März wurde der erste Covid-19-Fall bestätigt: ein armenischer Staatsbürger, der aus Iran zurückkehrte, war an dem Virus erkrankt. Innerhalb weniger Tage mussten Schutzvorkehrungen getroffen werden, um eine landesweite Epidemie zu verhindern. Weder das Gesundheitswesen noch die Wirtschaft waren auf einen derartigen Notfall vorbereitet. Die Armenische Apostolische Kirche schien zunächst ebenfalls ratlos und überfordert. In diese Krisenzeit fielen zudem Ostern und der Gedenktag des Völkermordes.
Ungewisse und ernste Situation
Auch ohne Corona-Krise befindet sich Armenien in einer angespannten innen- und außenpolitischen Lage. Die vorige korrupte Regierung mit ihren machtvollen Oligarchen hat sich zwar offiziell nach der friedlichen Revolution vor knapp zwei Jahren verabschiedet. Die ehemaligen Machthaber versuchen jedoch mit allen möglichen und unmöglichen Mitteln eine Gegenrevolution anzuzetteln, um erneut an die Macht zu gelangen. Nach wie vor sind die Grenzen zu zwei Nachbarländern – die Türkei und Aserbaidschan – geschlossen bzw. einseitig blockiert. Offiziell weist die Türkei noch immer die damalige Verantwortung für den Genozid von 1915 von sich. Der Konflikt mit Aserbaidschan um Berg-Karabach ist immer noch nicht aufgearbeitet bzw. abgeschlossen. Die Regierung in Baku droht öfters mit neuen militärischen Aktionen und immer wieder kommt zu Gefechten in den Grenzgebieten.
Armeniens Ressourcen sind knapp bemessen, und ein Großteil der Bevölkerung lebt in prekären Umständen. In den letzten Jahren gibt es zwar Fortschritte im IT-Bereich, allerdings bekommt nicht jeder dort eine gute Stelle. Auch der Tourismus hat an Bedeutung gewonnen. Doch stellt er für viele Menschen nur eine saisonale Beschäftigung dar․ In vielen anderen Bereichen arbeitet man jeweils für ein befristetes Projekt. Nicht selten werden Menschen nach mündlicher Absprache mit niedrigem Tageslohn beschäftigt. Daher versuchen viele Armenier als Arbeitsmigranten in anderen Ländern – vor allem in Russland – ihr Glück. Die Abhängigkeit von Moskau ist generell sehr stark. Im bergigen Armenien wäre ein Überleben ohne ununterbrochene Gas- und Öllieferungen aus Russland kaum möglich. Aber auch die iranischen Exporte sowie die georgischen Transfers von Waren und Lebensmitteln für das tägliche Leben sind überlebenswichtig.
Erschwert wird die Situation durch das mangelnde Vertrauen der Bevölkerung in staatliche Institutionen, das in Krisensituationen besonders schnell sichtbar wird. Bis heute wirken das sowjetische Erbe und danach die fast 25-jährige Vetternwirtschaft der Republikanischen Partei nach, wenn es um Gesetzestreue und Disziplin geht. Viele schenken den Anordnungen des Staates von daher keinen Glauben. Deswegen war die Lage außerordentlich ernst. Niemand konnte vorhersagen, ob und wie das Land die Corona-Krise meistern wird.
Harte, aber erfolgreiche Maßnahmen
Trotz der aufgezählten Schwierigkeiten taten die jungen und zum Teil unerfahrenen Regierungsmitglieder ihr Bestes und zeigten keine Schwäche. In Zusammenarbeit mit den staatlichen Institutionen und etlichen Freiwilligen wurden umgehend notwendige Maßnahmen getroffen, um die Pandemie in den Griff zu bekommen. Zunächst wurden Kitas, Schulen und Universitäten im März geschlossen. Der Unterricht wird bis Ende des Schuljahres im Online-Modus fortgesetzt. Später wurde ein Versammlungsverbot erlassen. Für öffentliche Einrichtungen gelten neue hygienische Anordnungen. Als die Fallzahlen dennoch weiterhin anstiegen, wurden nicht nur alle Grenzen geschlossen, sondern am 17. März auch der nationale Notstand erklärt, der begrenzte Reise- und Ausgehverbote und weitere Einschränkungen des öffentlichen Lebens vorsah.
Inzwischen zeigen die strengen Maßnahmen ihre Wirkung. Die Zahl der Infizierten und Verstorbenen ist – im Vergleich zu westlichen Ländern – relativ niedrig. Zwar steigen die Infektionen täglich um 3-4 Prozent, doch die MitarbeiterInnen des Katastrophenschutzes und des Gesundheitsministeriums können die Infektionsquellen bisher rechtzeitig identifizieren und in die Krankenhäuser bringen. So gibt es bis jetzt insgesamt 1867 Covid-19-Fälle, darunter 866 geheilte Menschen, die bereits die Krankenhäuser wieder verlassen konnten, und 30 Todesfälle (Stand: 28. April). Die Notstandsmaßnahmen wurden zwar gelockert, gelten aber noch bis einschließlich 14. Mai.
Für die Isolation von Kontaktpersonen hat die Regierung einige Hotels in Kurorten vorgesehen. Dort werden diese kostenlos verpflegt und stehen unter ständiger medizinischer Beobachtung. Das gleiche gilt für zurückkehrende Arbeitsmigranten und Reisende, die auf Staatskosten aus dem Ausland zurückgeholt und in Quarantäne gebracht werden. All diese Maßnahmen zeigen zwar positive Ergebnisse, dennoch sind die Einschränkungen enorm und zeigen schwerwiegende Folgen. Unternehmen sind verzweifelt und müssen ihre MitarbeiterInnen in unbezahlten Urlaub schicken. Die Regierung unterstützt die große Zahl an Arbeitslosen, sozial schwachen Familien und alleinlebenden RentnerInnen. Sie muss auch die Geschäfte und Apotheken im Auge behalten, damit die Preise für Lebensmittel, Schutzmasken, medizinische Handschuhe und Desinfektionsmittel in vernünftigen Rahmen bleiben. De Banken wurden von der Regierung aufgefordert, die Rückzahlungen von Krediten zu stunden. Viele Kleinunternehmer und Bauern erhalten zinslose staatliche Darlehen.
Zwei Maßnahmen stießen auf besondere Kritik: In der ersten Phase des Ausnahmezustands durften Journalisten bezüglich der Pandemie nur die offiziellen Stellungnahmen der Notstandsleitung veröffentlichen. So sollten Fake News und eine Panik in der Bevölkerung verhindert werden. Nach massivem öffentlichem Druck hat die Regierung diese Beschränkungen für Medien wieder rückgängig gemacht. Zweitens können mit Hilfe eines rasch erlassenen Gesetzes während des Ausnahmezustands alle telefonischen Kontakte infizierter Patienten überprüft werden, um auf diese Weise weitere Erkrankte rechtzeitig zu finden und zu isolieren. Zwar werden die Gespräche nicht direkt abgehört, weil es ausschließlich um die Lokalisation von Kontaktpersonen geht, die Kritiker sehen darin aber eine ernste Gefahr einer staatlich genehmigten Spionage.
Armenische Apostolische Kirche zeigt Präsenz
Am 13. März veröffentliche die Armenische Apostolische Kirche ihre erste Stellungnahme bezüglich der Pandemie. Die Kirchenleitung zeige sich dabei entschlossen, aber auch zurückhaltend in Bezug auf konkrete Maßnahmen. Die Gläubigen wurden aufgefordert, unbedingt die Vorschriften des Gesundheitsministeriums zu befolgen. Es gab jedoch keine Anweisungen bezüglich der Liturgie und der Durchführung von Sakramenten.
So blieben bis Mitte März weiterhin alle Kirchen offen und es fanden wie gewohnt Gottesdienste statt. Zuerst musste dann Etschmiadzin – die Stadt, in der der Patriarch-Katholikos Karekin II residiert – wegen Quarantäne geschlossen werden. Dort hatten sich nämlich nach einer Verlobungsfeier mit aus Italien eingereisten Verwandten fast 100 Menschen gleichzeitig infiziert. Daraufhin sprach der Katholikos persönlich ein Verbot von Kirchenbesuchen bis zur Karwoche aus und ordnete das Feiern von Liturgien in Abwesenheit der Gläubigen an, die jedoch online übertragen wurden. Taufen sollten nur im Notfall, z. B. bei einer schweren Krankheit, stattfinden. Trauungen sollten verschoben werden.
Die Mehrheit der Bevölkerung zeigte Verständnis für diese Maßnahmen und blieb zuhause. Die Polizei patrouillierte auf den Straßen und bei den Gotteshäusern. Einige konservative Kreise empörten sich jedoch und übten scharfe Kritik. Einige Geistliche gingen dabei so weit, dass sie ihren Widerspruch in verschiedenen Medien verbreiteten und indirekt zu christlichem Ungehorsam aufriefen. Sie verwiesen darauf, dass in den letzten 2000 Jahren die Kirchentüren noch nie für die Gläubigen verschlossen gewesen seien, und das kollektive Gebet bisher auf wunderbare Weise alle möglichen Krankheiten und Epidemien geheilt habe. Manche Liebhaber von Verschwörungstheorien verglichen die Schließung der Kirchen an Ostern sogar mit der Apokalypse.
In dieser Situation wurde der Kirche klar, dass sie sowohl in spiritueller als auch in sozialer Hinsicht mehr Präsenz zeigen musste. Dazu riefen nicht nur traditionsbewusste Gläubige auf, sondern auch einige Parlamentsabgeordnete. So segnete Karekin II. die Gläubigen zuerst mit den Reliquien des Hl. Gregor des Erleuchters, später mit der Lanze des Longinus und mit Reliquien vom Heiligen Kreuz. In sozialer Hinsicht konnten nicht alle Gemeinden ähnlich aktiv werden. Dank Spendern in den jeweiligen Regionen und aus der Diaspora konnten in manchen Gebieten Hilfspakte mit Lebensmitteln organisiert und verteilt werden. So organisierte beispielsweise die Diözese Vayots Dzor zusammen mit der Syunik-Developmentr NGO Hilfe in folgenden Bereichen: Zuerst erhielten kinderreiche Familien und bedürftige Senioren Lebensmittel; Bauern bekamen Saatgut, weil die letzte Ernte vollständig aufgebraucht war; Krankenhäuser erhielten Ikonen und Bibeln für jedes Zimmer; die MitarbeiterInnen aller Krankenhäuser wurden mit Schutzmasken und Schutzkleidung ausgestattet; neue Räume für Kontaktpersonen wurden bereitgestellt. Sicherlich würden die Kirchengemeinden noch viel mehr leisten, wenn sie die nötigen Mittel hätten. Da es in Armenien keine Kirchensteuer gibt und auch jegliche staatliche Unterstützung der Gemeinden fehlt, sind sie ausschließlich von privaten Spendern und Stiftungen abhängig.
Online-Gedenken an den Genozid
Die kirchlichen Feiertage in der Karwoche und an Ostern brachten eine völlig neue Dimension von Internet- und Fernsehgottesdiensten mit sich, die den meisten Armeniern in dieser Form bisher unbekannt gewesen waren. Natürlich veränderte der Ausnahmezustand auch das Gedenken an den Völkermord. Normalerweise kommen jedes Jahr am 24. April mindestens 1 Million Menschen nach Tzitzernakaberd, zum Denkmal für den Genozid in der Hauptstadt Jerewan. Sie schreiten langsam zum ewigen Feuer und legen dort Blumen nieder, um an die Opfer des Genozids im Osmanischen Reich zu erinnern.
Dieses Mal war alles anders. Das Gedenken begann bereits am Vorabend. Die Einwohner wurden aufgerufen um 21:00 Uhr mit angezündeten Kerzen an ihren Fenstern zu stehen. Am nächsten Tag gingen nur staatliche Delegationen und die Kirchenführung mit ihren Kränzen nacheinander zum Denkmal. Etliche Geschäfte bestellten jedoch auf eigene Kosten tausende von Blumen. Um 22:00 Uhr begann die Übertragung der Gedenkfeier im Fernsehen und Internet. Fast die ganze Nacht wurde ruhige Live-Musik gesendet. Dazu kamen atemberaubende historische Erzählungen zu Gehör. Die Menschen blieben zuhause, konnten sich jedoch mit SMS-Nachrichten unter Angabe ihres Namens beteiligen. Die Kurznachrichten konnten an eine eigens eingerichtete Nummer gesandt werden. Diese lautete einfach „1915“. Nach Einbruch der Dunkelheit zeigten Lichtprojektoren alle Namen der SMS-Absender, abwechselnd mit traditionellen Mustern, auf den großen Wänden des Denkmals.
Es gab nur eine einzige Ausnahme: Ein 82-jähriger Mann stand mit seinen Blumen mehrere Stunden draußen. Er wollte unbedingt zum ewigen Feuer. Schließlich wurde er von den Organisatoren zugelassen und sogar von der Polizei begleitet. Dort am Denkmal legte er ruhig seine Blumen nieder, bekreuzigte sich mehrmals und sprach sein Gebet. Vielleicht war das der berührendste Moment des Gedenkens: Der Mann wurde er zur neusten Symbolfigur des Überlebens.
Die aktuelle Krise hat zwar die Schwächen einzelner Institutionen aufgezeigt, aber auch viele mitfühlende Menschen einander nähergebracht. Trotz geschlossener Grenzen und einer geschwächten Wirtschaft gibt es bis jetzt in Armenien weder eine Inflation noch Engpässe bei der Versorgung von Lebensmitteln und Alltagswaren. Die Regierung stellt sich den Folgen der Krise; sie setzt sich für infizierte Patienten und bedürftige Gruppierungen ein. Auch die Kirche muss das Gebot der Nächstenliebe nun eindringlicher erfüllen. Schon jetzt allerdings ist für die Einwohner Armeniens und ihre Landesleute in der Diaspora klar geworden, dass weder der Völkermord noch das Coronavirus dieses Volk brechen können. Das bezeugt auch ein traditioneller Trinkspruch, der gerade oft zitiert wird: „Wir waren. Wir sind. Wir werden sein. Amen.“
Harutyun G. Harutyunyan, Dr. theol., selbständiger Berater und Projektentwickler bei der Syunik-Development NGO und der Diözese der Armenischen Apostolischen Kirche in Vayots Dzor, Armenien.
Bild: Erzbischof Abraham (Mkrtchyan) von Vayots Dzor und Mitarbeiter der Syunik-Development NGO beim Verteilen von Kartoffeln. (© Syunik-Development NGO)