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Dokument: Offener Brief an die Christen in Belarus

10. Dezember 2020

Liebe Brüder und Schwestern, Christen des schwergeprüften belarussischen Landes!

Wir, die Unterzeichnenden, Geistliche und Laien der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), anderer Lokalkirchen, Gläubige der römisch-katholischen Kirche sowie Christen anderer in Russland und anderen Ländern lebender Konfessionen, wenden uns mit diesen Worten der Solidarität, der Unterstützung und des Trostes an Euch.

Eine rechtliche Bewertung gesellschaftlicher Ereignisse ist die Angelegenheit von Juristen und nicht der kirchlichen Gemeinschaft. Doch nach den Grundlagen der Sozialdoktrin der ROK kann sie nicht „aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens“ isoliert und des „Rechts auf Bewertung der Tätigkeit der Staatsgewalt“ beraubt werden (III.3.), und insbesondere nicht deren moralischer Bewertung.

Jeder von uns weiß aus Erfahrung, dass „die Welt unter der Macht des Bösen steht“ (1 Joh 5,19). […] Die Ereignisse in Eurem Land in den letzten Monaten erlauben es uns jedoch nicht, sie still und gleichgültig zu beobachten. Durch politische Grenzen getrennt, sind wir Orthodoxen Glieder desselben Leibes Christi, und […] „wenn ein Glied leidet, leiden alle Glieder mit“ (1 Kor 12,26).

Am 16. August veröffentlichte der Synod der Belarusischen Orthodoxen Kirche einen Appell, der insbesondere sagte: „Wir glauben und hoffen, dass die Führung des Landes, die rechtlich den Auftrag hat, ihr Volk zu respektieren und zu schützen, die Gewalt stoppen und die Stimmen der beleidigten und unschuldig leidenden Opfer während der Zeit des Widerstands hören wird, und diejenigen, die Gräueltaten und Grausamkeiten vollbracht haben, einem rechtmäßigen Urteil und einer Verurteilung zuführen wird.“ Das ist nicht passiert. Keiner von denen, die „Gräueltaten und Grausamkeiten“ begingen, wurde verurteilt; im Gegenteil, der Grad der Gewalt nimmt nur zu. Hunderte Fälle von Verletzungen in Polizeistationen und Untersuchungshaftanstalten sind dokumentiert. […] So lautet das Zeugnis von Priester Alexander Kuchta […]: „Ich war dort und sah mit eigenen Augen die geschlagenen Menschen, die während der Haft geschlagen, in einem Polizeibus und im Gefängnis gefoltert wurden. Sie folterten mit Fäusten, Schlagstöcken und mit Elektroschocks. Sie gaben ihnen drei Tage hintereinander nichts zu essen, sie hielten 40 Menschen draußen oder in Zellen auf einer Fläche von 5x6 Metern (sie schliefen im Stehen) und schlugen sie regelmäßig. Einfach so. Ohne Grund. Weil sie es können... […]. Wozu? Warum?“ Seit Anfang August sind mehrere Menschen gestorben, darunter der 31-jährige Raman Bandarenka, der nach seiner Inhaftierung zu Tode geprügelt wurde. In Erwartung des Festes der Geburt Christi erinnern wir uns mit besonderer Schärfe und Schmerz an die Geschichte des Königs von Juda, der viele junge Leben zerstört hat, getrieben von der Angst, die Macht zu verlieren. […]

Diener der Kirche Christi, die ihre Stimme gegen Lügen und Gewalt erheben, werden in Belarus unter Druck gesetzt und bedroht. „Der Staat wird dem nicht gleichgültig zuschauen“, „die Strafverfolgungsbehörden müssen ihnen eine Lektion erteilen“ – diese Richtlinien der Regierung werden umgesetzt. Dem Erzbischof der römisch-katholischen Kirche Tadeusz Kondrusiewicz, der sich mit dem Appell an die Behörden wandte, einen Dialog aufzunehmen und die Gewalt zu stoppen, wurde die Einreise verboten. Priester Uladzimir Drabyscheuski, ein [orthodoxer] Geistlicher der Eparchie Homel, wurde für das Halten eines Plakats mit Newtons Porträt und seiner Formel „Auf jede Aktion folgt eine Reaktion“ sowie für die Teilnahme an einer friedlichen Demonstration insgesamt 25 Tage lang festgenommen. Priester Alexander Bogdan, ein Geistlicher der Eparchie Hrodno, wurde verwarnt, weil er am 13. September zum Gedenken an den verstorbenen Museumsdirektor Kanstanzin Schyschmakov Blumen niederlegte, der sich geweigert hatte, das endgültige Abstimmungsprotokoll zu unterzeichnen, und später tot aufgefunden wurde. Nach der Zerstörung des spontanen Denkmals am Ort der Gefangennahme von Bandarenka in Minsk am 15. November, schrieb der Leiter der Synodalabteilung für Information der BOK, Erzpriester Sergij Lepin, auf seiner Facebook-Seite: „Ich verstehe diese Verhöhnung des Porträts des ermordeten Mannes, der Blumen zu seiner Erinnerung nicht, warum dieses satanische Zertrampeln von Lämpchen und Ikonen, warum dieser Kampf gegen ein spontanes Denkmal draußen auf den Straßen ...? Was ist der Sinn? Nicht bewilligt, was? Aber dieses Verhalten und diese Einstellung – ist das etwa bewilligt? Von wem?“ Allein diese Infragestellung kostete den Priester eine offizielle Warnung der Staatsanwaltschaft […] Dieselbe Warnung erhielt der katholische Bischof Jurij Kasabuzki für seine kritischen Äußerungen zu demselben Thema.

Wir möchten den Bischöfen, Priestern und allen Christen, die ungeachtet der Gefahr an die Freiheit und Würde der menschlichen Person erinnern, die nach dem Ebenbild Gottes geschaffen wurde, unsere Solidarität, Unterstützung und unseren tiefen Respekt zusichern. […]. Leider sind heute viele davon überzeugt, dass die Kirche immer auf der Seite derer steht, die die Macht haben, dass sich die Kirche immer an sie anpasst und ihren Interessen dient. Euer Dienst zeigt, dass das nicht stimmt. Die auf YouTube veröffentlichte Predigt von Erzbischof Artemij von Hrodna erwärmte die Herzen von zehntausenden Menschen. Geistliche und Laien, Männer und Frauen – ihr alle handelt im Namen der Liebe, und das ist die größte Macht der Welt.

Wenn man an Euch denkt, erinnert man sich unmittelbar an die Worte, die Patriarch Tichon (Bellavin) ein Jahr nach der Oktoberrevolution an den Rat der Volkskommissare richtete: „Wir wissen, dass Unsere Ermahnungen bei Euch nur Bosheit und Zorn hervorrufen und dass ihr in ihnen nur Gründe suchen werdet, uns der Machtwidersetzung zu beschuldigen, doch je höher eure „Säule der Bosheit“ wird, desto zuverlässiger wird sie von der Rechtmäßigkeit unserer Ermahnungen zeugen. […].“ Jede Manifestation Eures freien Geistes wird Bosheit und Zorn hervorrufen, aber für Christen gibt es keinen anderen Weg. Lasst Euch von den Beispielen der Heiligen Ambrosius von Mailand, Johannes Chrysostomus, Philipp von Moskau und vielen anderen stärken, die keine Angst hatten, das Böse und die Unwahrheit der Machthaber aufzudecken [Lk 11,33].

Wir erheben unser Gebet für Belarus, in der Hoffnung, dass niemand mehr aufgrund seiner Überzeugungen gedemütigt, geschlagen, gefoltert oder getötet wird. Wir beten für diejenigen, die bei der Ausführung von Befehlen Gewalt und Waffen gegen Demonstranten einsetzen. Möge jeder, der Uniform und Waffen trägt, Gewissen, Ehre und Würde, Verantwortung gegenüber Mitbürgern, gegenüber seinen Brüdern und Schwestern erhalten.

Wir glauben, dass ein friedlicher Dialog die einzige Alternative zu Gewalt ist. Auf dem Weg zum Fest der Geburt Christi wissen wir, dass wir zusammen mit Euch allen, die in Minsk, Hrodna, Homel, Brest, Mahiljou, Wizebsk, in kleinen Städten und Dörfern leben, sehr bald dem göttlichen Christuskind begegnen und die Worte in einer Winternacht hören werden:

Ehre sei Gott in der Höhe, Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!

Quelle:
https://www.pravmir.ru/pismo-svyashhennikov-i-miryan-k-hristianam-belarusi/
Unterschriftenliste (Sammlung beendet): https://docs.1d5920f4b44b27a802bd77c4f0536f5a-gdprlock/spreadsheets/d/1s5ahLSKEikudQdzBUx9_paShGahHfYS2xOOCIv1pePU/edit#gid=2001690635.

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.

Bild: Ökumenische Prozession am 14. August 2020.