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Umfrage: Gläubige in Belarus unterschiedlich zufrieden mit ihren Anführern

11. Februar 2021

Angesichts der Ereignisse in Belarus seit der Präsidentschaftswahl im August 2020 kommt es zu Transformationen in der belarusischen kirchlichen Gemeinschaft, die langfristige Folgen haben könnten. Das Erwachen zivilgesellschaftlicher Aktivitäten, das große Ausmaß offensichtlicher Gewalt, Repressionen und Gesetzlosigkeit werfen bei Gläubigen Fragen zur Rolle der Kirche im gesellschaftlichen Leben, zur Rolle und Autorität kirchlicher Anführer sowie zur Rolle der Laien in der kirchlichen Gemeinschaft als auch in der Zivilgesellschaft auf. Um die Trends bei verschiedenen Konfessionen zu untersuchen, führten die Gruppe „Christliche Vision“ des Koordinierungsrats und das unabhängige soziologische Projekt „Volksbefragung“ vom 20. Dezember 2020 bis zum 10. Januar 2021 eine Untersuchung über den in Belarus beliebten Messengerdienst Viber durch, der die Identifizierung der Teilnehmenden über ihre Telefonnummer erlaubt.

An der Umfrage nahmen 4408 Personen teil, von denen die absolute Mehrheit (98–99 Prozent) den Protesten gegenüber positiv eingestellt ist, daran teilnimmt oder sie unterstützt. Schwerpunktmäßig umfasst die Auswahl Einwohner*innen der Stadt Minsk (80 Prozent), die eine höhere oder Postgraduiertenausbildung haben (mehr als 80 Prozent) und aus der Altersgruppe von 31 bis 50 Jahren (76 Prozent) stammen.

Konfessionell setzt sich die Gruppe aus 71 Prozent Orthodoxen, 14,6 Prozent Katholiken und 6 Prozent Protestanten (Baptisten, Pfingstgemeinden, Evangelikale, Reformierte und Lutheraner) zusammen. Diese Verteilung stimmt im Großen und Ganzen mit der konfessionellen Zusammensetzung im Land überein. In jeder Konfessionsgemeinschaft zeigte die Umfrage andere Trends: Unter den Orthodoxen überwiegen die Enttäuschung und Frustration über die Hierarchie, bei den Katholiken ist das Vertrauen in die lokalen Anführer gestiegen, während bei den Protestanten eine bedeutende Vielfalt zutage trat.

Unterschiede lassen sich nicht nur bezüglich der konfessionellen Zugehörigkeit ausmachen, sondern innerhalb der kirchlichen Gemeinschaften auch von der Nähe zur Kirche und der Eingebundenheit ins Gemeindeleben. In der Struktur jeder Gemeinschaft wurden die Teilnehmerinnen und Teilnehmer in vier Kategorien eingeteilt:

1) „professionelle Diener“: dazu zählen Leiter von Gemeinden, Geistliche, Theologen, Personen, die in der Gemeinde einen Dienst leisten (z. B. Singen im Chor, Hilfe bei der Durchführung von Riten, Unterrichten in der Sonntagsschule, Freiwilligenarbeit), sowie Mitarbeitende von kirchlichen Organisationen.
2) Personen, die Mitglied einer konkreten Kirchgemeinde sind und sich mit dieser identifizieren.
3) Personen, die regelmäßig an Gottesdiensten teilnehmen, aber nicht zu einer Kirchgemeinde gehören.
4) Personen, für die Religion wichtig ist, die sie aber individuell praktizieren, ohne Teilnahme an kollektiven Praktiken.

Unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit und der Eingebundenheit in das Gemeindeleben ähneln sich die Erwartungen der Befragten an die religiösen Anführer, wenn es um deren Beteiligung an einer Lösung der politischen Krise in Belarus geht: 89 Prozent aus jeder Konfessionsgruppe wählten die Antwort „Ja, sie sollen aktiv am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und dabei für den Schutz der Menschenrechte eintreten und Gewalt verurteilen“.

Orthodoxe: Enttäuschung und Ansätze einer neuen Gemeinschaftsbildung
Die Umfrageergebnisse zeigen eine totale Enttäuschung der Orthodoxen, die die Proteste unterstützen, hinsichtlich der Handlungen der Hierarchie der Belarusischen Orthodoxen Kirche (BOK). Die absolute Mehrheit der befragten Orthodoxen (rund 80 Prozent) erwartet von ihren Anführern keine Unterstützung für die protestierenden Mitbürger, ihre Hauptforderung besteht im Schutz der Menschenrechte und der Verurteilung von Gewalt (89 Prozent). Dabei erwartet die Mehrheit der Orthodoxen nicht einmal Aufrufe an die Regierung mit der Forderung, die Gewalt zu beenden, den Kirchenausschluss von Verantwortlichen für Gewalt oder die Teilnahme an Protesten. Es würde ihnen genügen, wenn die Gewalt und Gesetzlosigkeit offen verurteilt und die Ereignisse in den Medien und Predigten wahrheitsgemäß beurteilt würden: „Weiß als weiß bezeichnen und schwarz als schwarz“ – die Dinge also beim Namen zu nennen.

Nur 2 Prozent der orthodoxen Gläubigen, die an der Umfrage teilnahmen, sind mit den Handlungen der Kirchenleitung zufrieden, 74 Prozent hingegen sind unzufrieden. Das heißt, dass die orthodoxe Protestgemeinschaft keine Schritte der kirchlichen Führungsebene zum Schutz der Menschenrechte und Verurteilung der Gewalt sieht. Sogar wenn Hierarchen eine friedliche Lösung des Konflikts oder einen Dialog anmahnen, wird dies von der Mehrheit der protestierenden Orthodoxen nicht als authentisch und ungeheuchelt – nicht als „klare Position“ – wahrgenommen. Die von der höheren Hierarchie erklärte Position der „Neutralität“ stößt auf keinerlei Verständnis. Auf die offene Frage, was ihnen an den Handlungen der Kirchenführer nicht passt, antworteten die orthodoxen Umfrageteilnehmer*innen mit negativen Beurteilungen, die Desinteresse und Gleichgültigkeit bezeichnen: „sie verschließen die Augen“, „sie stecken den Kopf in den Sand“, „Vogel-Strauß-Taktik“, „sie tun so, als ob nichts sei“, „Gleichgültigkeit“ sowie der biblische Ausdruck „Lauheit“ (Offb 3,15-16). Die Unzufriedenheit mit den Handlungen und Positionen der Führungspersonen hat zu einem katastrophalen Vertrauensschwund geführt: 87 Prozent der Befragten vertrauen diesen weniger; in der Gruppe der am aktivsten im Gemeinde- und Kirchenleben engagierten Orthodoxen sind es 79 Prozent.

Die Strategien, um die Frustration und die Vertrauenskrise zu überwinden, unterscheiden sich zwischen den weiter von der Kirche entfernten Orthodoxen und den am stärksten ins kirchliche Leben eingebundenen deutlich. Bei der Kirche fernstehenden Personen führt die Enttäuschung dazu, noch weniger in die Kirche zu gehen (42 Prozent), zu einem Rückzug von der Religion überhaupt (12 Prozent) und auf lange Sicht zu einem Übertritt zu einer anderen Konfession. Die Bereitschaft dazu erklärten 30 Prozent der Befragten, obwohl nur 3 Prozent der Orthodoxen aussagten, dass sie tatsächlich schon die Konfession gewechselt hätten. Die Idee einer Autokephalie für die BOK spielte unter den Befragten keine große Rolle, nur 5 Prozent der Befragten prüfen für sich einen Wechsel der orthodoxen Jurisdiktion. Die weniger ins Gemeindeleben eingebundenen Orthodoxen, von denen der Großteil eine sehr schwache oder fast gar keine Verbindung zur Gemeinde hat (67 Prozent), glauben, dass es auf ihre Meinung nicht ankomme und die Meinung der Anführer unmöglich zu ändern sei (75 Prozent).

Die aktiven Gläubigen sind dagegen weder zu einem Übertritt zu einer anderen Konfession noch zu einer anderen Jurisdiktion noch generell zur Abkehr von der Religion bereit. Die Tendenz einer Distanzierung spiegelt sich vielmehr darin, dass rund 40 Prozent bereit sind, nicht mehr in die Kirche oder zu Versammlungen ihrer Gemeinde zu gehen; 20 Prozent sind bereit, die Kirchgemeinde zu wechseln. Auch in diesem Umfeld ist die Apathie groß (57 Prozent), doch sie resultiert oft aus der konkreten Erfahrung mit der Kirchenleitung – Briefen und Aufrufen, die unbeantwortet blieben sowie Repressionen gegen Geistliche und kirchliche Mitarbeiter wegen ihrer öffentlichen Position.

Nichtsdestotrotz gibt es bei den orthodoxen Aktivisten einen bedeutsamen Kern, der bereit ist, die Initiative zu ergreifen und den Kirchenführern seine Meinung zu sagen (27 Prozent) sowie aktiver im Namen der Kirche aufzutreten (18 Prozent). Allerdings hat die Kirchenleitung präventiv bereits ein spezifisches Dokument („Erklärung“) publiziert, in dem die Teilnahme am „politischen Leben der Gesellschaft“, nicht nur von Geistlichen, die „emotionale öffentliche Erklärungen“ abgeben, sondern auch von Menschen, die „sich als christliche Aktivisten positionieren“, verurteilt wird. Zwischen der Hierarchie und der Gruppe christlicher Aktivisten findet so eine Entfremdung statt. Letztere suchen selbstständig nach intellektuellen, emotionalen und organisatorischen Stützen und nach einer Sprache, mit der sie ihre Position sowohl für ihre Glaubensgeschwister als auch für die Gesellschaft verständlich ausdrücken können. Diese Sprache bildet sich im kollektiven Handeln, in Diskussionen auf Facebook, in Gemeinde- und Gebets-Chats, bei Diskussionen bedeutender Ereignisse, in der Abfassung von Petitionen und offenen Briefen oder in der Erstellung von Videos. Dieser kreative, emotional aufgeladene, aber auch chaotische Kommunikationsprozess führt zur Herausbildung von Strukturen innerhalb der kirchlichen Gemeinschaft, die den Strukturen der Zivilgesellschaft ähneln. Die kirchliche Gemeinschaft bemüht sich angesichts des Schweigens der Hierarchie, selbst zur Stimme der Kirche zu werden.

Katholiken: Gestiegenes Vertrauen in Bischöfe
Eine gegenteilige Situation lässt sich bei den befragten Katholiken beobachten, die die Proteste befürworten. 79 Prozent finden, dass die Leitung der römisch-katholischen Kirche in Belarus auf der Seite der protestierenden Bürgerinnen und Bürger steht. 42 Prozent der Befragten unterstützen die Handlungen ihrer Anführer, 27 Prozent teilweise, während lediglich 3 Prozent Unzufriedenheit mit der Position der Hierarchie bekunden. Bei den Katholiken, deren Vertrauen in die Führungspersönlichkeiten schon vorher groß gewesen ist, ist ein Vertrauenszuwachs um 38 Prozent festzustellen, während bei den Orthodoxen angesichts der gesellschaftspolitischen Krise ein Rückgang des Vertrauens in die Hierarchie um 86 Prozent zu beobachten ist.

Doch der Vertrauenszuwachs betrifft in erster Linie die belarusischen Hierarchen, gegenüber dem Papst und dem neuen vatikanischen Nuntius Ante Jozić ist dagegen eine ernsthafte Enttäuschung festzustellen: 84 Prozent der Katholiken und 76 Prozent der katholischen Geistlichen, die an der Umfrage teilnahmen, waren über das Verhalten des Nuntius während der Akkreditierung bei Alexander Lukaschenka am 3. November verstimmt. Ungefähr gleich viele (83 Prozent der Katholiken insgesamt und 75 Prozent der katholischen Geistlichen) sind mit dem Schweigen des Papsts zu den Ereignissen in Belarus nicht einverstanden. Die Enttäuschung über die Einstellung des Papstes und des Vatikans hat jedoch zu keinem dramatischen Vertrauensverlust in die Kirche geführt. Bisher bewahren die belarusischen Katholiken das Vertrauen in ihre Führungspersonen und eine wesentlich stärkere Verbindung zu ihrer religiösen Tradition als die Orthodoxen. Das gilt auch für diejenigen Gläubigen, die der katholischen Kirche fernstehen.

Ausgewogenes Bild bei den Protestanten
Bei den Protestanten (Baptisten, Pfingstgemeinden, Evangelikale, Reformierte und Lutheraner) lässt sich eine Vielzahl an – positiven wie negativen – Einstellungen bezüglich der jeweiligen Hierarchie beobachten, die sich in erster Linie auf die Vielfalt der evangelischen Kirchen und das Fehlen einer einheitlichen Struktur zurückführen lässt. Während sich bei den befragten Orthodoxen eine extreme Unzufriedenheit mit den kirchlichen Anführern und bei den Katholiken eine große Unterstützung für die eigenen Hierarchen beobachten lässt, sind die Protestanten weder besonders zufrieden noch besonders unzufrieden mit ihren Leitungsverantwortlichen. Sie tendieren vielmehr zu ausgewogeneren Positionen: 19 Prozent geben an, „teilweise zufrieden“ zu sein, 12 Prozent sind „teilweise unzufrieden“, 37 Prozent sind „unzufrieden mit einigen Anführern und zufrieden mit einigen anderen“. Zudem sehen evangelische Gläubige ihre eigene Rolle in der jeweiligen Gemeinschaft als eher bevollmächtigt an, nur 8 Prozent glauben, dass von ihrer Meinung nichts abhängt. Recht viele verspüren die Intention, Initiative zu ergreifen und mit den Anführern zu diskutieren (28 Prozent), oder das Bedürfnis, eigenständig im Namen ihrer jeweiligen Gemeinschaft zu sprechen (24 Prozent).

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Innerhalb der Zivilgesellschaft, die sich für einen demokratischen Wandel einsetzt, existiert eine recht bedeutende Gruppe Gläubiger verschiedener Konfessionen, deren Verteilung der gesamtgesellschaftlichen konfessionellen Struktur entspricht. Es sind Orthodoxe, Katholiken und Protestanten, die ihrer jeweiligen Glaubensgemeinschaft unterschiedlich nahestehen. In dieser Gruppe herrscht, unabhängig von der konfessionellen Zugehörigkeit, ein Konsens über zentrale Werte und darüber, die Menschenrechte zu schützen und Gewalt zu verurteilen. Ein deutlicher Unterschied besteht hingegen in der offiziellen Position der Kirchen und den Erklärungen ihrer jeweiligen Anführer, und dieser Unterschied spiegelt sich in der innerkonfessionellen und zwischenkonfessionellen Dynamik. Während die Einstellungen der orthodoxen Führungspersonen Unzufriedenheit hervorrufen und das Vertrauen des demokratischen orthodoxen Gemeinwesens untergraben, so werden die Handlungen der katholischen Hierarchen zum Angelpunkt der Vereinigung der katholischen Gemeinschaft, aber auch zum Anziehungspunkt für einen bedeutenden Teil weniger in das Leben ihrer Gemeinschaft integrierter Orthodoxer. Für die aktiveren Orthodoxen wird die unbefriedigende Reaktion ihrer kirchlichen Leitungsgremien auf die aktuelle politische Krise in Belarus zum Ansporn einer Schaffung einer orthodoxen Gemeinschaft, die von der Hierarchie unabhängig ist, aber innerhalb der vorhandenen Strukturen existiert. Wenn eines der Ergebnisse des Majdans die Orthodoxe Kirche der Ukraine ist, so könnte eines der Ergebnisse der andauernden belarusischen Revolution die Entwicklung einer orthodoxen kirchlichen Gemeinschaft und Aktualisierung horizontaler Verbindungen in ihrem Inneren sein.

Natallia Vasilevich, Direktorin des kulturellen Bildungszentrums Ecumena in Minsk, Doktorandin an der Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn und Moderatorin der Arbeitsgruppe „Christliche Vision“ des Koordinierungsrats der Anführerin des demokratischen Belarus, Svjatlana Zichanouskaja.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Eine ausführliche Darstellung der Untersuchungsergebnisse auf Russisch und alle Grafiken sind auf der Website belarus2020.churchby.info zu finden.