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Putins Traum einer Wiederbelebung der Sowjetunion ist zum Scheitern verurteilt

27. Februar 2022

Wie haben Sie den 24. Februar erlebt, an dem die russische Invasion in der Ukraine begann? In welcher Atmosphäre sind Sie aufgewacht?

Ich bin zum ersten Mal in meinem Leben so aufgewacht. Kiew wachte um fünf Uhr morgens unter Bombenangriffen auf. Die Schläge waren so stark, dass es offensichtlich war, dass sich der Krieg virulent intensiviert hatte. Noch am Vorabend hatte ich die Invasion bloß für einen Albtraum gehalten.

Eines der Fotos aus Kiew, das uns erreicht hat, zeigt die Flucht von Bewohnern der Hauptstadt auf der Straße. Wie verhält sich aus Ihrer Sicht die Zivilbevölkerung in Kiew?

Es gibt mehr Ukrainerinnen und Ukrainer in Kiew, die in den Krankenhäusern Schlange stehen, um Blut zu spenden, als Ukrainer, die in der Schlange stehen, um Benzin zu tanken oder Lebensmittelvorräte anzulegen. Es herrscht eine Entschlossenheit, zusammen zu stehen, in den Widerstand zu gehen und sich der Invasion und dieser Barbarei nicht zu beugen. Viele Zivilisten, wie ich oder meine Lehrerkollegen, beteiligen sich in letzter Zeit – und heute noch stärker – an der lokalen Verteidigung. Außerdem ist die Armee trotz einiger Prognosen stark. Mehrere russische Panzer wurden bereits funktionsunfähig gemacht. Soeben wurde auch ein russischer Hubschrauber abgeschossen. Es gibt ein echtes Engagement für die Freiheit, viel mehr als ein Gefühl des Hasses.

Ich sehe keine Hysterie um mich herum, weder in meinem Umfeld noch in den Medien oder in den sozialen Netzwerken. Es ist schwierig, die richtigen Worte zu finden. Ich will nicht pathetisch oder exaltiert sein. Es ist nicht Ruhe oder Gelassenheit, aber man hat die Streitereien und die vorübergehenden Emotionen beiseitegeschoben. Wir wissen, dass jede Geste der Person, die gerade vor uns steht, helfen muss.

Sie waren während der „Revolution auf dem Majdan“ im Jahr 2014 sehr präsent. Finden Sie denselben Widerstandsgeist wieder, der die Bevölkerung damals politisiert hatte?

Es stimmt, was wir erleben, erinnert mich an 2014, den Moment, in dem die Menschen plötzlich viel aufmerksamer aufeinander reagierten. Irgendwo befinden wir uns immer noch in der „Revolution der Würde“. Wir stehen aufrecht, um durchzuhalten, so wie wir die Barrikaden auf dem Majdan gehalten haben, nur in einem ganz anderen Maßstab, in einem anderen Format: dem einer riesigen Front von der Krim bis in den Norden der Ukraine. Wir wissen, dass es um Leben und Tod geht. Es herrscht eine Einfachheit der Gesten und Worte. Ich sah die Panzer, die fünf Meter von mir entfernt zur Front rollten. Auf den Gesichtern der Menschen, die dort standen, waren zwar klare Emotionen zu sehen, aber kein Rausch oder Exaltiertheit. Es geht einfach darum, die Feuerbrunst aufzuhalten. Das ist die treffendste Metapher. Und man sucht überall nach Wasser, um Hilfe zu leisten.

Befindet sich die Ukraine mehr noch als 2014 an einem Wendepunkt in ihrer Geschichte?

Ich würde sagen, dass dies der schwerste Tag unseres Lebens ist, noch vor der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986. Der Unterschied ist, dass damals die Lüge des Sowjetregimes eklatant war. Ihre Enthüllung hatte Millionen von Menschen in die Dissidenz getrieben. Heute kennen wir die Wahrheit. Die Revolution auf dem Majdan hat dieses von der Sowjetunion geerbte Imperium zu Fall gebracht. Und dennoch erwacht dieser monströse Leichnam wieder zum Leben.

Ist die Reaktion Europas der Situation angemessen?

Es steht mir nicht zu, das zu beurteilen. Jeder muss von dort, wo er steht, das Beste tun. Ich als Forscher in Kiew, die führenden Politikerinnen und Politiker in Paris und Brüssel. Aber ich denke, dass es an der Zeit ist, viel mehr zu tun als das, was bereits eingeleitet wurde. Die europäischen Entscheidungsträger müssen begreifen, dass sie entschlossener handeln müssen. Frankreich und Europa müssen sich für echte Solidarität und echten Widerstand gegen den Wahnsinn des Kremls entscheiden.

Was könnte das bedeuten?

In Bezug auf die Verteidigung ist der Himmel über der Ukraine der verwundbarste Ort. Erst vor kurzem sind Kriegsflugzeuge an meinem Fenster vorbeigeflogen, ohne dass man wusste, ob es sich um russische oder ukrainische Flugzeuge handelte. Während wir auf dem Land über eine lange Erfahrung mit Waffen verfügen, um russische Panzer abzuwehren, ist der Himmel eine ganz andere Sache. Wenn Sie den Himmel über der Ukraine verteidigen, verteidigen Sie auch den Himmel über Europa.

Zudem gibt es noch den wirtschaftlichen Hebel. Wir müssen bei den Sanktionen noch weiter gehen. Die Aussetzung der Zertifizierung der Nord Stream 2-Pipeline durch Bundeskanzler Olaf Scholz war wichtig. Aber man muss Putin und seine Entourage persönlich bestrafen. Die Masken sind gefallen: Wir wissen, dass er kriminell ist. Er hat viele Geldbörsen in europäischen Banken. Es ist an der Zeit, diesen höllischen Luxus zu stoppen. Die gesamte russische politische Klasse, die ihn unterstützt, muss geächtet werden. Sie muss das Gefühl haben, dass sie vor Gericht gestellt wird, und das Gericht muss heute beginnen. Bevor Putin vor Den Haag steht, müssen Sanktionen beschlossen werden. Er kann nicht schmutziges Geld gegen das Leben von Männern und Frauen eintauschen.

Putins Maske ist gefallen, sagen Sie. Bedeutet das, dass Europa ihm gegenüber zu lange nachgiebig war?

Ja, das ist jetzt offensichtlich. Letzte Woche hat Putin Macron während eines fünf- oder sechsstündigen Gesprächs ins Gesicht angelogen. Er behandelte die europäischen Staats- und Regierungschefs wie Unfähige. Ich glaube, dass die führenden europäischen Politiker bis zur letzten Minute nicht verstanden haben, dass sie es mit einem Gangster zu tun hatten. Oder sie dachten, dass er sich nur in der ehemaligen UdSSR so verhält. Nun, nein, er ist überall so.

Was diese Invasion offenbart, ist also eine allgemeinere Bedrohung. Haben Sie den Eindruck, dass wir am Vorabend eines globalen Konflikts stehen?

Das ist nicht ausgeschlossen, denn wieder einmal erleben wir das Handeln eines Wahnsinnigen. Wenn er wie heute mitten im Zentrum von Kiew herumschießen kann, nachdem er jahrelang von dieser Stadt als der „Wiege“ Russlands gesprochen hat, bedeutet das, dass er noch weiter gehen kann. Er hat keine Grenzen. Und auch keine Skrupel. In der Ukraine haben wir, abgesehen von Tschernobyl, noch weitere Atomkraftwerke. Wenn eine Bombe eines davon trifft, wird die Wolke nicht an den Grenzen der Ukraine Halt machen. Direkt oder indirekt kann Putin in ganz Europa Schaden anrichten. Man muss ihn jetzt stoppen.

Als ich 2015 in Paris vor diesen Gefahren warnte, glaubten einige Leute vielleicht, dass ich übertreibe. Aber nein, das habe ich nicht. Was seit der Annexion der Krim passiert ist, beweist das. Er will mit den Menschenrechten und dem aktuellen internationalen System brechen. Den Kopf in den Sand zu stecken und zu glauben, dass er an den Grenzen Halt machen wird, ist genau wie das Gerede von der Tschernobyl-Wolke. Man kann diese Aggression nicht mehr an einer Grenze eindämmen. Man muss den Brand an der Ausbruchsstelle löschen. Wir kennen die Liste der Maßnahmen, die ergriffen werden müssen. Wir brauchen die Solidarität aller europäischen Staats- und Regierungschefs und müssen bis zum Äußersten gehen.

Am Montag, den 21. Februar, behauptete Putin vor seinem Sicherheitsrat, dass die Ukraine eine „Schöpfung Vladimir Iljitsch Lenins“ sei. Befürchten Sie, dass er seinen Geschichtsrevisionismus bis zum Äußersten treibt?

Ja, denn Putins Raster ist die Sowjetunion. Ende Dezember wird sich die Gründung der Sowjetunion durch die Bolschewiki im Dezember 1922 zum hundertsten Mal jähren. Putins Traum ist es, eine zweite Sowjetunion zu schaffen – alles andere ist Literatur. Es ist historisch nicht haltbar, aber er montiert die Fakten wie im Kino, insbesondere bezüglich Lenin und Stalin. Er hält sich für einen Nachfolger der Architekten der Sowjetunion. Alles, was er tut, läuft jedoch darauf hinaus, die letzten Illusionen dieser Zeit zu töten, da er zeigt, dass es der KGB war, der das Rückgrat dieses Regimes bildete. Ich hoffe, dass wir jetzt Zeugen seines Todeskampfes sind.

Konstantin Sigov ist Direktor des „European Humanities Research Center“ und des Verlags „Dukh i Litera“ an der Universität der Kyiv-Mohyla Academy.

Das Interview mit ihm führte der Journalist Mathieu Dejean für Mediapart. Es erschien auch in englischer Sprache beim Berkley Center for Religion, Peace & World Affairs. Übersetzung ins Deutsche: Regula Zwahlen.