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Eine Einladung an Papst Franziskus, nach Kiew zu reisen

06. April 2022

Was ist am 24. Februar geschehen?
Drei Katastrophen sind an diesem Tag eingetreten: Die erste betrifft mein Land. Innerhalb weniger Stunden sind wir dazu zurückgekehrt, schwere Artillerie in Aktion und die Schreie von Zivilist:innen zu hören – ein Getöse, das wir nach dem Zweiten Weltkrieg vergessen konnten. Vor wenigen Tagen hat eine russische Rakete den Fernsehturm im Zentrum der Stadt getroffen. Seitdem fürchten die Einwohnerinnen und Einwohner von Kiew und der ganzen Ukraine, morgens aufzuwachen und zu entdecken, dass in der Nacht eine Bombe eine der heiligen Stätten unserer Hauptstadt getroffen hat: die Sophien-Kathedrale, das Kloster des Hl. Michael oder das Höhlenkloster. Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Maria-Entschlafens-Kathedrale im Höhlenkloster in Kiew zerstört; bereits 1936 hatten die Bolschewisten die Kathedrale des Hl. Michael dem Erdboden gleichgemacht Der Putinismus offenbart sich nun in seiner wahren, brutalsten Form – ein Regime, das aus dem Neostalinismus hervorgegangen ist. Ich möchte nicht, dass es der russischen Artillerie, die heute wie von einer unverbesserlichen neosowjetischen Regierung verhext handelt, gelingt zu beschädigen, was zu zerstören den Bolschewisten die Zeit gefehlt hat.

Die zweite Katastrophe betrifft ganz Europa: Das, was geschieht, betrifft uns alle. Ich beziehe mich auf eine Tragödie, die vielleicht schlimmer als Tschernobyl ist. Dieses Mal handelt es sich nämlich nicht um eine technische Fehlfunktion. Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg steht Europa vor einem Feind, der es zerstören will und dieses Ziel offen deklariert. Der Krieg ist kein Krieg nur zwischen Russland und der Ukraine, sondern zwischen unserer Kultur und denen, die sie als zu vernichtende Bedrohung betrachten: eine Dichotomie, die nicht erst 2022 entstanden ist, sondern eine Antithese, die im Verlauf der letzten Jahre geboren wurde. Die Krim wurde 2014 besetzt und man kann sagen, dass seit dieser Zeit viele Angst hatten und nicht geschaut haben, was passiert – die Bedrohung, die sich hinter einer acht Jahre dauernden Invasion versteckt hat. Wir haben alle die Tragweite des Übels unterschätzt, das heute ins Spiel gekommen ist und eine Krise hervorgerufen hat, die in jeglicher Hinsicht die schlimmste Krise des 21. Jahrhunderts zu sein scheint; ein nicht nur militärischer und wirtschaftlicher Notstand, sondern vor allem ein spiritueller. Eine Tragödie, die weniger als drei Flugstunden von Rom entfernt geschieht.

Die dritte Katastrophe betrifft Russland: In nur einem Monat ist jede Anstrengung zunichte gemacht worden, die in den letzten 30 Jahren zum Neuanfang nach dem Ende des bolschewistischen Regimes gemacht wurde. Was wir jetzt sehen, ist die schlimmste Manifestation des Bolschewismus und Stalinismus. Nach der Revolution von 1917 gab es in Russland noch viele Personen, die das Leben bezeugten. Heute scheint die Mehrheit einer zerstörerischen Macht sowie einem völlig ideologischen Narrativ und einer völlig ideologischen Kultur hörig zu sein. Ich gebe ein einziges Beispiel: Hunderte Professoren und Rektoren russischer Universitäten haben ein Dokument zugunsten dieses Kriegs unterschrieben, ein handfestes Zeichen für die totale Niederlage der russischen Kultur.

Was stützt die ukrainische Bevölkerung in dieser Situation?
Was mich vor allem beeindruckt, ist die Solidarität. Ich sehe, mit welcher Aufmerksamkeit Frauen geholfen wird, die in diesen Tagen in der Metro von Kiew gebären. Sie sind die Trägerinnen eines neuen Lebens und erinnern uns, dass unser Widerstand der Bejahung des Lebens, der Liebe und unserer Menschlichkeit entspringt. Mir scheint dieser Aspekt wichtig, die Ukrainer:innen wissen, was sie verteidigen: Sie schützen das Menschliche, unsere Familien, unsere Gesellschaft, unsere Freiheit und unseren einzigen Wunsch, in Frieden leben zu können. Ich wiederhole, der Krieg betrifft nicht nur die Ukrainer und Russen, was geschieht, ist ein Konflikt zwischen denen, die die eigene Menschlichkeit lieben, und denen, die sie zu vernichten versuchen. Deshalb halte ich es für unabdingbar, wenn unser Land frei sein wird, die Ursachen dieser Katastrophe zu untersuchen. Nur dann wird es die Möglichkeit eines gerechten Friedens geben, und dieses Adjektiv betone ich. Es wird notwendig sein, diejenigen, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben und noch immer begehen, vor Gericht zu stellen. Persönlichkeiten wie der ermordete russische Oppositionspolitiker Boris Nemzov und der inhaftierte russische Menschenrechtsaktivist Jurij Dmitirijev verdeutlichen, dass die Schandtaten des Kommunismus nie bestraft oder verurteilt wurden. Ich glaube, es wäre ein schwerer Fehler, diesen Weg der Amnesie fortzusetzen. Mehr denn je tritt die Notwendigkeit eines Urteils zutage, ein essenzieller Schritt für die Zukunft der ganzen russischen Gesellschaft. Nicht um einen Rachefeldzug zu planen, sondern damit ein neues Leben knospen und sprießen kann und die ganze Menschheit die „Reinigung der Erinnerung“ verwirklichen kann, von der Johannes Paul II. gesprochen hat.

Was bedeutet das?
Es ist wichtig, dass die Russen, die Ukrainer und die ganze Welt das Geschehene beurteilen und sich daran erinnern. Wenn diese Arbeit verraten wird, überlebt die Menschheit nicht, sie verliert sich. Am 23. Februar, bevor der Krieg ausbrach, schrieb ich auf Anfrage einiger deutscher Katholiken einen Brief, in dem ich betonte, welche Gefahr der russischen Entscheidung, Memorial zu verbieten, entspringen könnte. Memorial war die größte Menschenrechtsorganisation im Land, die sich für die Aufarbeitung der Ereignisse und internationale Anerkennung der Verbrechen der Sowjetzeit einsetzte. Die Ukraine wurde deshalb angegriffen: mit ihrer Existenz lässt sie nämlich nicht zu, dass die Erinnerung an die Verbrechen vom Stalinismus bis zum Putinismus ausgelöscht wird.

Papst Franziskus, die Kirche, die ganze Welt betet und geht auf die Straße, damit der Krieg aufhört. Erreicht sie die Unterstützung der Völker?
Wir sehen, dass wir nicht allein sind. Es gibt Hilfe, die Kiew erreicht, und sie ist sehr wichtig. Es geht um kugelsichere Westen, Kleider, Nahrung... auch das Wort, unser Dialog, lässt uns spüren, dass wir nicht isoliert sind. Was das Gebet betrifft, so ist dieses wesentlich, weil es den Schleier fallen lässt, es lässt uns entdecken, dass das Böse nur zum Nihilismus führt, zur Selbstzerstörung, und das ist es, was wir bekämpfen wollen. Ich füge eine letzte Bemerkung hinzu: der große Theologe Dietrich Bonhoeffer sagte, dass die Dummheit ein gefährlicherer Feind des Guten als das Böse ist. Ich befürchte, dass hinter der Gewalt, die wir erleben, diese andere Gefahr steckt. Während das Böse per Definition damit endet, selbstzerstörerisch zu sein, wird die Dummheit hingegen mit der Zeit stärker, sie potenziert sich. Diese Bedrohung kann nur überwunden werden, wenn auf spiritueller Ebene gehandelt wird, die rein kulturelle reicht nicht.

Es kommen einem die Proteste auf dem Majdan 2014 in den Sinn. Auch damals verfolgte die Welt, was in der Ukraine geschah. Was ist heute von diesen Momenten geblieben?
Diese Frage reicht weit, da sie direkt mit den jetzigen Ereignissen verbunden ist: 2014 war die Revolution der Würde. Heute fechten wir einen Krieg zum Schutz der Menschenwürde aus. 2022 spricht nicht mehr nur der Majdan in Kiew, das ganze Land ist ein riesiger Platz geworden, der verlangt, das Individuum zu respektieren, ungeachtet seiner ethnischen Identität. Der Mensch ist unendlich viel wichtiger als jegliche Macht und keine Tyrannei kann das Recht eines jeden auf Leben und Freiheit unterdrücken. Als gerade der Krieg ausgebrochen war, sprach ich mit dem Pianisten Valentyn Sylvestrov: In der Nacht vom 24. auf den 25. Februar, als der Himmel der Ukraine zum ersten Mal von Bombardierungen zerrissen wurde, schickte er mir einige Aufnahmen von 2014, als er vom Majdan nachhause zurückging. Man hört Gesang, unsere Nationalhymne. Aber die Melodie ist anders: sie klingt wie ein Psalm, ein Gebet, um die Proteste in Kiew zu unterstützen und das auszudrücken vermag, was die ganze Welt durchmacht. Er ist 84 Jahre alt, in diesen Wochen haben Komponisten vom Kaliber Arvo Pärts ihn aufgefordert, die Ukraine zu verlassen, und Anfang März hat er endlich eingewilligt. Sylvestrov hat mit seiner Tochter Kiew verlassen und ist drei Tage und Nächte bis an die Grenze gereist. Dort hat er die Grenze zu Fuß überquert. Die Moskauer Dichterin Olga Sedakova hat ihn mit König Lear verglichen, dem shakespeareschen Herrscher, der unter dem Himmel wandert. Mein Freund Sylvestrov kam in Berlin an, wo er in eine große Kirche eingeladen wurde. Bevor er zu spielen begann, wiederholte er die Zehn Gebote. Danach spielte er ein Stück, das er unterwegs in den Westen komponiert hat: eine nostalgische Melodie, imstande alle sprachlichen Barrieren zu überwinden und den ganzen Krieg zu berichten; die Reise derjenigen, die ihr Land verlassen haben, und die Hoffnung des ganzen ukrainischen Volks.

Worauf hofft es?
Vor wenigen Tagen hat der Bürgermeister von Kiew Papst Franziskus in die Ukraine eingeladen. Einige europäische politische Führungsfiguren haben schon entschieden, in unsere Hauptstadt zu kommen; aber ich denke, ein Besuch des Papstes wäre etwas einzigartiges, eine Tatsache mit prophetischen Konnotationen. Ich weiß, diese Anfrage klingt paradox, aber der jetzige Papst hat uns an ähnliche Gesten gewöhnt. Ich hoffe wirklich, dass Franziskus annimmt und nicht aufgehalten wird. Ich lade alle ein, beginnend mit den Leser:innen dieses Interviews, die Einladung zu unterstützen und dafür zu werben, so dass ein entscheidender Schritt nicht nur zum Erlangen des Friedens für unser Land, sondern auch für das Wohl der ganzen Menschheit unternommen würde.

Konstantin Sigov, Direktor des „European Humanities Research Center“ und des Verlags „Dukh i Litera“ an der Nationalen Universität Kiew-Mohyla Akademie.

Das Gespräch führte Alberto Perrucchini für die italienische katholische Monatszeitschrift Tempi, publiziert wurde es am 3. April 2022.

Übersetzung aus dem Italienischen: Natalija Zenger.

Bild: Das Höhlenkloster in Kiew. (Shutterstock)