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Ambivalenzen aushalten: Wege zu einer versöhnten ukrainischen Orthodoxie

04. Mai 2023

Alla Vaysband

Es fühlt es sich so an, als würde man sich entweder unter eine Dampfwalze legen, die alles auf ihrem Weg mit hoher Geschwindigkeit zerstört, oder man steigt ein und fährt mit: Weil du schweigst und keinen guten Ausweg siehst. Weil du wegen der Worte in deinem Herzen riskierst, enge Freunde zu verlieren, mit denen du spätestens seit dem Majdan im Gleichklang geatmet hast. Oder du riskierst wegen deines Schweigens, andere enge Freunde zu verlieren, die auch den Majdan unterstützt haben, aber jetzt für viele zu Feinden geworden sind. Denn sie sind in einer Kirche geblieben, die zwar einige Schritte in Richtung Autokephalie gemacht hat, aber kirchenrechtlich Teil der Kirche des Aggressorlandes geblieben ist. Und damit meine ich nicht diejenigen, die die Ideen der russischen Welt unterstützen, Imperialisten sind oder von einer Rückkehr in die UdSSR träumen; solche Menschen fügen meiner Seele keinen Schmerz zu.

Krieg führt immer zu Ungerechtigkeit. Mit Blick auf meine russischen Freunde, die aktiv gegen ihre autoritären Regime gekämpft und unter diesem Kampf gelitten haben, ist der Hass der Ukrainerinnen und Ukrainer auf alles Russische ungerecht und beleidigend. Aber die ganze Zeit über habe ich verzweifelt die Ansicht verteidigt, dass die Ukrainer ein Recht auf diesen undifferenzierten, weil blinden Hass haben. Weil sich Schmerz in ihn verwandelt. Weil die Fähigkeit zur Differenzierung in einer Situation von großem Stress, Krieg und Trauma mit fast physiologischer Unumkehrbarkeit verschwindet. Und weil Hass notwendig ist, um Kraft für den Sieg zu sammeln. (Viele Russen sind der gleichen Ansicht).

Ich habe auch immer wieder gesagt, dass ich keinerlei moralisches Recht habe, über all diese Themen auch nur nachzudenken, weil ich nicht erlebt habe, was die Menschen in der Ukraine durchmachen, obwohl ich Tag und Nacht geholfen und mein eigenes Leben wegen des Krieges zur Seite geschoben habe. Ich will den Ukrainern zu helfen, mit psychologischen Traumata umzugehen (die Fähigkeit, zu differenzieren, kehrt zurück, wenn das Trauma geheilt ist), und nach dem Sieg werde ich darüber berichten, wie meine russischen Freunde der Ukraine die ganze Zeit über geholfen haben.

Aber nun gibt es eine radikal neue Situation. Denn Opfer einer ungerechten und beleidigenden Identifizierung sind nicht mehr nur die Bürgerinnen und Bürger des Aggressorlandes, die ihren Teil der kollektiven Verantwortung für das, was ihr Land tut, tragen, sondern Bürgerinnen und Bürger des Opferlandes. Die in der ukrainischen Armee kämpfen und Geld spenden, die Flüchtlingen, Verwundeten, Verletzten usw. helfen, die ebenfalls Angehörige, Verwandte, Häuser, Vermögen verloren haben, aber nun auch Gefahr laufen, ihre Kirche zu verlieren, die für sie eine Quelle der Kraft und des Lebens ist.

Natürlich verstehe ich, dass die Hauptverantwortung für dieses Leid bei der Führung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) liegt, die es noch nicht gewagt hat, sich vollständig von Moskau zu lösen und damit Millionen von Gläubigen zu Geiseln dieser Situation gemacht hat. Aber diese Einsicht beruhigt mich nicht gerade.

„Warum konvertieren sie nicht zur Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU)?“, fragen viele meiner Freunde. Die erste, absolut überzeugende Antwort auf diese Frage gab mir kürzlich einer der Priester der UOK, die die „Heilige Mutter Kirche von Konstantinopel“ gebeten haben, den betroffenen Pfarreien „für eine Übergangszeit einen separaten Status der [direkt dem Patriarchen unterstellten] Stauropegia oder des temporären Exarchats“ zu gewähren: „Es wäre möglich, die Entscheidung des Konzils von 2018 anzuerkennen, weil die UOK vom Patriarchat von Konstantinopel abstammt, aber die meisten unserer Gemeindemitglieder wünschen dies nicht, weil die aggressiven Methoden der OKU-Anhänger eher an Raubüberfälle erinnern als an den Wunsch nach brüderlicher Gemeinschaft. In den letzten 30 Jahren gab es im orthodoxen Umfeld der Ukraine Auseinandersetzungen aufgrund dieser Spaltung. Daher ist unserer Meinung nach eine Übergangszeit notwendig, um die Gemeindemitglieder zu erziehen und sie darauf vorzubereiten, das zu akzeptieren, wogegen sie jahrzehntelang aufgebracht wurden. Heute herrscht in unserem Land Krieg, wir haben kein moralisches Recht, Teil des Moskauer Patriarchats zu sein, aber die überwiegende Mehrheit der Gemeindemitglieder und Priester ist nicht bereit, sich der OKU anzuschließen, und zwar aufgrund der langjährigen Belastung durch gegenseitige Ressentiments, die durch die revanchistische Haltung des OKU-Klerus gegenüber dem UOK-Klerus und den Gläubigen noch verschärft wird.“

Dieser Antwort lässt sich eine weitere hinzufügen.

Auf der Suche nach einem Gleichgewicht
Eine Schülerin von Paul Ricoeur, die französische Philosophin und Ordensschwester Marguerite Léna hielt einmal in einem kleinen katholischen Kloster in Frankreich einen Vortrag über das für Nonnen sehr aktuelle Thema der Dialektik von Gehorsam und Freiheit. Wahres Christentum ist eine Dialektik bzw. ein Gleichgewicht von Gehorsam und Freiheit, des Rationalen und Mystischen, des Kosmischen und Historischen, des „Traditionellen“ und des „Modernen“, von Gnade und Gerechtigkeit. Dieses Gleichgewicht ist sehr zerbrechlich, sehr schwer zu erreichen und sehr leicht zu verlieren. Im Prinzip ist es wie mit der Demokratie und dem Fahrrad: man muss ständig in die Pedale treten. Deshalb trifft man es in den orthodoxen Kirchen eher auf der Ebene einzelner Priester oder Gemeinschaften (ich kenne einige!) an, aber auch auf der Ebene der Kirchen müssen wir über vorherrschende Trends sprechen.

Auch wenn es falsch wäre, diesen Gegensatz zu verabsolutieren, zeigt sich dabei: Die UOK ist in der Regel konservativer, mehr auf Autorität und Gehorsam, auf das Mystische, Ewige und das Heil der Seele ausgerichtet; die OKU hingegen ist moderner, achtet die Freiheit und Würde des Menschen mehr, ist offener für die Moderne, mehr auf das Öffentliche und Bürgerliche ausgerichtet. Es sind sehr unterschiedliche Kirchen. Zu behaupten, es sei doch egal, zu welcher Kirche man gehört, ist nur möglich, wenn man die Situation aus der Ferne betrachtet. Auch aus diesem Grund fällt es Gläubigen und Priestern der UOK schwer, zur OKU zu konvertieren, weil sie ihnen psychologisch und mental fremd ist.

Zu Covid-Zeiten waren meine Freunde in zwei große Gruppen aufgeteilt. Die einen sahen Covid-19 als eine bedrohliche Krankheit an, waren aber ziemlich leichtfertig, was die psychologischen und sozialen Probleme im Zusammenhang mit der Quarantäne betraf. Die anderen waren sehr aufgeklärt, was die psychologischen und sozialen Probleme im Zusammenhang mit der Quarantäne betraf, hielten aber die Pandemie selbst für ein weit hergeholtes Problem: Sie suchten nach Beweisen dafür, dass die Sterblichkeitsraten nirgendwo gestiegen waren, beriefen sich auf die Erfahrungen in Schweden, verbreiteten Verschwörungstheorien und kämpften verzweifelt für die Freiheit von Masken. Aber es gab auch eine kleine andere Gruppe: Diejenigen, die verstanden, dass Covid eine bedrohliche Krankheit ist, sich aber auch Sorgen um die Probleme machten, die mit der Quarantäne verbunden sind; diese Menschen besaßen das, was die Theologin Regina Elsner „die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten“ nennt.

Heute ist die Situation ähnlich. Die eine große Gruppe von Ukrainern sieht ein großes Problem in der Tatsache, dass es in einem Land, das Opfer einer Aggression war, weiterhin eine Kirche gibt, die zumindest kirchenrechtlich zur Kirche des Aggressorlandes gehört und deren Geistliche teilweise Agenten des russischen Einflusses in der Ukraine sind. Dennoch sieht diese Gruppe kein Problem darin, dass Millionen von Gläubigen dieser Kirche der OKU beitreten oder den Namen „russische Kirche“ annehmen sollten – obwohl ihre Kinder, Väter, Ehemänner oder Frauen bei der Verteidigung der Ukraine gestorben sind. Die andere große Gruppe von Ukrainern ist sich der tragischen Situation der UOK-Gläubigen bewusst, die sich gegenwärtig nicht der OKU anschließen können und Gefahr laufen, in schrecklichen Zeiten ohne die Unterstützung ihrer Kirche zu sein, die für sie eine Quelle der Kraft und des Lebens ist. Aber sie sehen kein Problem in der Existenz einer „Moskauer Kirche“ in der Ukraine, weil sie aufrichtig glauben, dass die UOK nach der Synode im Mai 2022 unabhängig geworden ist. Und es gibt eine weitere, sehr kleine Gruppe von Menschen, die das Drama in seiner Gesamtheit wahrnehmen: Sie verstehen, dass eine Kirche, die ihr Zentrum in einem Aggressorland hat, in der Ukraine nicht existieren kann, aber gleichzeitig erkennen sie, dass die Notwendigkeit eines Wechsels zur OKU für Millionen von UOK-Gläubigen eine Tragödie ist.

Die erste große Gruppe sind die Menschen, die nach dem Motto „Die Ukraine steht über allen Dingen“ leben und nicht verstehen, wie es in Kriegszeiten anders sein kann. Die zweite große Gruppe sind die Menschen, die nach dem Motto „Der Mensch steht über allem“ leben und nicht verstehen, wie es anders sein kann, auch (oder gerade) in Kriegszeiten. Und die dritte Gruppe sind Menschen, die bewusst oder unbewusst ein Gleichgewicht suchen. Die Wahrheit ist ein Gleichgewicht zwischen dem Politischen und dem Religiösen, dem Öffentlichen und dem Spirituellen, zwischen „die Ukraine über alles“ und „der Mensch über alles“. Wie aber kann eine Lösung der Probleme der UOK im Hinblick auf dieses Gleichgewicht aussehen?

Vordergründig scheint der Wunsch des Staates, den Einfluss der UOK-Strukturen zu begrenzen, aber den Bürgern nicht ihr Recht auf Gewissensfreiheit zu nehmen, völlig ausreichend zu sein. Aber eine Entscheidung darüber, wie genau dies geschehen soll, muss noch getroffen werden. Außerdem bedarf es einer gewaltigen Anstrengung, um sicherzustellen, dass die Haltung gegenüber der UOK-Struktur von der Gesellschaft nicht auf den gesamten Klerus und die Gläubigen übertragen wird. Genau dies geschieht aber gegenwärtig. Deshalb habe ich das Gefühl, dass die Dampfwalze fährt, und ich mit ihr fahre, wenn ich nur zusehe und schweige.

Langfristige Auswege aus dem Dilemma
Was die langfristigen Perspektiven betrifft, glaube ich, dass sich die UOK und die OKU zu einer einzigen orthodoxen Ortskirche vereinigen sollten. Aber diese Vereinigung erfordert eine lange, sorgfältige und mühsame Arbeit und sollte das Ergebnis eines Dialogs auf Augenhöhe sein. Denn wahres Christentum ist ein sehr komplexes und zerbrechliches Gleichgewicht von Gegensätzen, die heute eher zwischen diesen Kirchen geteilt bleiben. Aus der Perspektive unserer schrecklichen Gegenwart erscheint diese Aussicht absolut utopisch, aber ein solcher Dialog und damit eine Verständigung zwischen den Gläubigen der UOK und der Gesellschaft scheint dennoch möglich, wenn alle Konfliktparteien zum Dialog bereit sind und sich um gegenseitiges Verständnis bemühen. Dazu müssen folgende Voraussetzungen erfüllt sein:

  • Der Klerus und die Gläubigen der UOK anerkennen, dass der Bruch zwischen der UOK und der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) bisher nicht vollständig ist, und daher der Ärger der Gesellschaft über die Existenz einer „russischen Kirche“ in der Ukraine verständlich ist.
  • Der Klerus und die Gläubigen der UOK fordern nachdrücklich von ihrer Kirchenleitung, auf die Gesellschaft zu hören (einige haben bereits damit begonnen).
  • Der Klerus und die Gläubigen der UOK anerkennen, dass die OKU eine Kirche und keine öffentliche Organisation oder ein rein politisches Projekt ist.
  • Der Klerus und die Gläubigen der OKU stellen sich nicht mit weißer Weste dar und anerkennen, dass sie einen gewissen (oder großen) Anteil daran haben, dass viele ukrainische Patrioten immer noch in der UOK bleiben.
  • Der Klerus und die Gläubigen der OKU verurteilen die illegale Beschlagnahmung von Kirchen, so wie es die Kleriker und Gläubigen der OKU und der UOK, die am zwischenkirchlichen Dialog teilnehmen, kürzlich getan haben (unter diesen befinden sich Freunde von mir, über die ich froh, und auf die ich stolz bin)
  • Die Medien hören auf, Hysterie um die UOK zu schüren und beginnen, die Situation in ihrer Dramatik und Ambivalenz darzustellen.
  • Die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine erkennen, dass in einer demokratischen Gesellschaft die Schuld einzelner Personen nicht auf eine größere Gruppe abgewälzt werden kann, auch wenn dies in einer Kriegssituation unvermeidlich erscheint. Sind wir denn nicht davon überzeugt, dass die Ukraine unter großen Opfern die Demokratie in der ganzen Welt verteidigt?
  • Die Grenzen des Konzepts der „russischen Welt“ werden klar abgesteckt. Ich halte es für eine intellektuelle Schande, dieses Konzept auf die gesamte UOK – Strukturen, Klerus und Laien – und sogar auf die gesamte ROK zu übertragen.
  • Es werden zahlreiche Plattformen für den Dialog zwischen den Gläubigen der UOK und der OKU geschaffen, deren Ziel es ist, zu verstehen und nicht zu verurteilen.
  • Priester der UOK und der OKU tun vor den Gläubigen und voreinander dafür Buße, dass sie jahrzehntelang Feindschaft gesät haben. (Ich erinnere mich noch heute an den Moment, als Vater Bohdan Ohultschanskyj uns von dem Brief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Kollegen und seiner zentralen Formel „Wir vergeben und bitten um Vergebung“ erzählte).

Es braucht viel Arbeit zum Aufbrechen der Stereotypen und Mythen sowie Aufklärungsarbeit, um zu zeigen, dass es im wahren Christentum immer um Ausgewogenheit geht. Die Dampfwalze ist bereits in Bewegung, aber um der Zukunft der Ukraine und der Ukrainerinnen und Ukrainer willen könnte sie wohl noch gestoppt werden.

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen.

Alla Vaysband studierte an der Kyjiwer Musikakademie Musikgeschichte und -theorie und an der Ruhr-Universität Bochum Philosophie und Kunstgeschichte. Seit 2006 ist sie erste Vorsitzende des deutsch-ukrainisch-belarusischen Vereines Europa GrenzenLos e.V. Sie ist Initiatorin und Leiterin mehrerer Projekte zu zeitgenössischer Kunst, Kunst und Traumatherapie. Im Jahr 2021 war sie Mitorganisatorin und Co-Leiterin des Projekts „Religiöse Gemeinden und die Überwindung der gesellschaftlichen Polaritäten in der Ukraine“ (unterstützt aus Mitteln des Auswärtigen Amtes durch das IFA im Förderprogramm ZIVIK).