Ausgenutzt und weggeworfen? Arbeitsmigration fair gestalten
Arbeitsmigration prägt die Lebensrealität vieler Menschen in Europa, doch in der öffentlichen Wahrnehmung der Zielländer spielte das Thema lange Zeit keine große Rolle. Erst mit Skandalen wie beispielsweise in der Fleischindustrie ist die Öffentlichkeit hellhöriger für die häufig prekären Arbeitsbedingungen von Arbeitsmigrant:innen geworden. Renovabis, das Osteuropa-Hilfswerk der katholischen Kirche in Deutschland, schaut mit seiner diesjährigen Pfingstaktion, die unter der Überschrift „Sie fehlen. Immer. Irgendwo“ steht, genauer auf die Arbeitsmigration aus Osteuropa. Am 11. Mai fand dazu in Hannover eine hochkarätige Podiumsdiskussion statt, die u. a. den Fragen nachging, warum Arbeitsmigrant:innen immer wieder Opfer von ausbeuterischen Praktiken werden, und wie sich Arbeitsmigration fair gestalten lässt.
András Márton, Direktor der Caritas im Erzbistum Alba Iulia in Rumänien, verwies auf das hohe Armutsrisiko, was viele Menschen im Land zur Arbeitsmigration bewege. Dazu käme die mangelnde Wertschätzung des einzelnen Menschen – ein Erbe der kommunistischen Zeit. Márton berichtete zudem von dem Fair-Care-Migration-Modell, dass die Caritas-Organisation in Alba Iulia mit der Caritas in der Schweiz entwickelt hat, um eine faire Pendelmigration zu gestalten: Die Pflegefachkräfte, die für die Caritas in Rumänien arbeiten, dürfen ein- bis zweimal im Jahr für je zwei Monate als Angestellte bei der Caritas Schweiz arbeiten, aber dafür müssen sie den Rest der Zeit in Rumänien arbeiten. Denn die große Herausforderung sei, was mit den Pflegebedürftigen in Rumänien geschehe, wenn alle Fachkräfte ins Ausland abwanderten.
Martin Claus von der Bundesagentur für Arbeit wies daraufhin, dass Deutschland mit 30 Prozent das größte Empfängerland des gesamteuropäischen Migrationsgeschehens ist. Offiziell seien jährlich 117‘000 Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft angemeldet, davon 70‘000 aus Rumänien. Es gebe aber auch hochqualifizierte Fachkräfte, die nach Rumänien zurückkehrten. Von Arbeitsausbeutung seien insbesondere Menschen aus den strukturschwachen Randregionen Rumäniens betroffen, die als Saisonarbeiter in der Fleischindustrie oder in der Landwirtschaft in Deutschland arbeiten. Claus betonte, dass im Idealfall die Menschen vorab über ihre grundlegenden Rechte und Pflichten informiert werden müssen, um eine selbstbestimme Entscheidung über die Arbeitsmigration treffen zu können.
Katarzyna Zentner, die bei der Fachstelle für mobil Beschäftigte in Niedersachsen arbeitet, beleuchtete die Ursachen von Arbeitsausbeutung und Zwangsarbeit: Die Menschen kämen mit dem guten Glauben, in Deutschland Geld zu verdienen, sie würden aber getäuscht und zu unwürdigen Bedingungen beschäftigt. Begünstigt werde dies dadurch, dass die angeworbenen Arbeitsmigrant:innen oftmals weder die Landessprache noch die hiesigen Arbeitsstrukturen kennen. Vielfach würden sie Blanko-Arbeitsverträge unterschreiben oder gar keinen Arbeitsvertrag bekommen. Das größte Problem sei, dass Arbeitsmigrant:innen die Auszahlung des Gehalts bzw. eines Mindestlohns vorenthalten wird, und dass sie im Krankheitsfall keine Unterstützung erfahren. Zentner beklagte, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen, um gegen solche Praktiken vorzugehen, zwar vorhanden seien, diese aber von den Strafvollzugsbehörden noch viel zu wenig konsequent umgesetzt würden.
Irme Stetter-Karp, die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken, nahm vor allem den Bereich der Pflegemigration in den Blick. In der ambulanten und stationären Pflege gibt es einen hohen Anteil von Arbeitsmigrant:innen, wobei die 24-Stunden-Pflege ein besonders herausforderndes Arbeitsumfeld ist. Die Caritas und die Diakonie, die beide zu den größten Dienstleistern im Pflegebereich in Deutschland gehören, seien aufgefordert, für bessere Rahmenbedingungen für die Migrant:innen wie für die Angehörigen der Pflegenden einzutreten.
Der niedersächsische Landtagsabgeordnete Volker Meyer betonte, dass Deutschland seit Jahrzehnten auf Arbeitsmigrant:innen angewiesen ist, dies müsse jedoch in einem fairen Miteinander geschehen: faire Arbeitsbedingungen, gleiche Bezahlung und menschenwürdige Wohnbedingungen. Um mafiöse Strukturen zu unterbinden, seien die Migrationsberatungsstellen unverzichtbar. Stephan B. Eirich, Bundespräses der Katholischen Arbeitnehmerbewegung (KAB), erinnerte daran, dass auch das individuelle Konsumverhalten – Stichwort: Paketbranche – zu ausbeuterischen Arbeitsbedingungen beiträgt. Bei den Vermittlungsagenturen von Pflegekräften sei das Problem, dass sie die Arbeitsmigrantinnen in Scheinselbstständigkeit halten, die Firmen müssten die Frauen vielmehr regulär anstellen.
Thomas Schwartz, Hauptgeschäftsführer von Renovabis, unterstrich noch einmal, dass niemand freiwillig und ohne Not seine Heimat verlässt; vielfach herrschte in den Ländern Ost- und Südosteuropas Perspektivlosigkeit. Aufgabe von Renovabis sei es, den Menschen in den Herkunftsländern zu helfen, um die Not nicht zum Ausgangspunkt einer Entscheidung für Arbeitsmigration werden zu lassen. Dazu sei Aufklärungsarbeit notwendig, um korrupte Regime zu überwinden, und den Menschen Mut zu machen, vor Ort zu bleiben. Zudem erinnerte Schwartz an den „Münchener Appell“, den der Internationale Kongress von Renovabis im Herbst 2022 verabschiedet hatte. Ein Kernforderung darin lautet: „Verbunden mit der Anwerbung und Beschäftigung von Arbeitskräften aus den östlichen Nachbarländern muss ein finanzieller und sozialer Ausgleich für die Herkunftsländer geschaffen werden.“
Link zur Aufzeichnung der Podiumsdiskussion: https://www.renovabis.de/termine/podiumsdiskussion-zum-thema-faire-arbeitsmigration/
Mehr zur Pfingstaktion 2023 von Renovabis: https://www.renovabis.de/mitmachen/pfingstaktion
Stefan Kube