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Konkurrierende Zielvorstellungen. Zu den aktuellen Reisen des ÖRK nach Kyjiw und Moskau

01. Juni 2023

Katharina Kunter

Nach der Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) in Karlsruhe im Spätsommer 2022 werden allmählich programmatische Linien der neu gewählten Führungsgremien sichtbar. Das gilt auch im Hinblick auf die Beurteilung und Haltung gegenüber dem russischen Aggressionskrieg in der Ukraine. In Karlsruhe schien es noch so, als wünsche die Mehrheit der Delegierten, den Ukrainekrieg als ein europäisch-regionales Thema zu behandeln und entsprechend von der globalen Agenda des ÖRK zu verbannen. Die jüngsten Erklärungen des ÖRK gegen die andauernden Angriffe auf Zivilpersonen und zivile Infrastruktur in der Ukraine, die Verurteilung von Kriegsverbrechen gegen unschuldige Menschen, ökumenische Friedensgebete, die Stellungnahme zum Beginn des russischen Angriffskrieges vor einem Jahr (die Russland allerdings nicht erwähnte)[1] sowie die beiden aktuellen Besuche des ÖRK in Kyjiw und in Moskau im Mai 2023 zeigen, dass sich diese Linie nicht durchgesetzt hat. Neben einem vor allem seit dem aktuellen Ukraine-Besuch sichtbareren empathischeren Mitleiden[2] bemüht sich das neue Führungsduo mit Generalsekretär Jerry Pillay and dem Vorsitzenden des Zentralausschusses, Heinrich Bedford-Strohm, seit Beginn des Jahres 2023 zugleich um eine aktivere diplomatische Rolle als Friedensvermittler im Ukraine-Krieg. In diesen Kontext sind die beiden aktuellen Reisen in die Ukraine und nach Moskau einzuordnen.

Handelt es sich dabei jedoch um mehr als einen gut gemeinten kirchlichen Friedens-Aktionismus? Auffällig sind Unprofessionalitäten, die bereits im letzten Jahr zu beobachten waren: die erneut nur aus Männern bestehenden Delegationen, die zu späten und reaktiven eigenen, ausführlicheren Presseberichte und Interviews zu dem Treffen in Moskau, die dann sehr verallgemeinernd auf die sich bereits im Umlauf befindliche Darstellung des Moskauer Patriarchats reagieren mussten, oder die unausgewogene veröffentlichte Bildauswahl der Besuche. Angesichts der Tatsache, dass der ÖRK mit Jerry Pillay und Heinrich Bedford-Strohm jetzt von einem Professoren-Duo geführt wird, mutet auch die abwehrende Haltung gegenüber kritisch-nachfragenden Stimmen (von Pillay als „einige wenige“ Stimmen in den sozialen Medien bezeichnet[3]) merkwürdig an.

Die öffentlichen Berichte, Stellungnahmen und Interviews von Pillay und Bedford-Strohm zu den Reisen in die Ukraine und nach Moskau ergeben ein konzeptionell wenig ausgereiftes Gemenge unterschiedlicher, teils sich widersprechender oder konkurrierender Ziele und Vorstellungen. Leitend ist der Gedanke, dass sich der ÖRK als „ein Instrument des Dialoges“[4], als ein „safe space“ versteht, zu dessen christlicher Verantwortung es gehört, aktiv zum Frieden in der Ukraine beizutragen. Hinter sehr generalisierenden und vagen Aussagen dazu, wie das geschehen soll, lassen sich drei unterschiedliche Vorstellungen ausmachen:

1) Der ÖRK als Moderator des innerorthodoxen Konfliktes zwischen der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) und Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU): Die Vermittlung zwischen Mitgliedskirchen des ÖRK in einem nationalen oder internationalen Konflikt gehört zu den klassischen Aufgaben der Kommission der Kirchen für internationale Angelegenheiten (KKIA/CCIA). Sie besitzt reiche historische Erfahrung auf diesem Gebiet, etwa in der Konfliktmediation im Sudan, im Mittleren Osten oder auch im Versöhnungsprozess auf der koreanischen Halbinsel. Vorausgesetzt, beide Kirchen wünschen ausdrücklich die externe Moderation des ÖRK, wäre dieser Dialog ein sinnvoller Beitrag zum sozialen und politischen Frieden in der Ukraine. Zugleich wäre er eine große Herausforderung für den ÖRK: Denn noch sind weder die OKU, die die Mitgliedschaft beim ÖRK beantragt hat, noch die UOK in ihrer aktuellen Identität und Verfasstheit Mitgliedskirchen des ÖRK. Die UOK war in früheren Zeiten durch die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) im ÖRK vertreten. Seit Beginn des Krieges hat diese Praxis jedoch gestoppt, in Karlsruhe zum Beispiel war die UOK nicht mehr Teil der ROK-Delegation und nur als Gast anwesend. Der ÖRK müsste also eine gleichberechtigte und von der ROK unabhängige Beziehung zu beiden orthodoxen Kirchen in der Ukraine aufbauen und sie als Mitglieder in den ÖRK aufnehmen – und das mit expliziter Zustimmung, zumindest aber stillschweigender Billigung der ROK. Um Vertrauen als Moderator zu gewinnen, müsste der ÖRK weiterhin darauf hinwirken, dass die UOK die Mitglieder der OKU nicht mehr als „Schismatiker“, sondern als eine weitere orthodoxe Kirche in der Ukraine anerkennt. Schließlich müssten diese Prozesse nicht nur auf der hohen Kirchenleitungsebene ausgehandelt und vereinbart, sondern auch in den Gemeinden und in der von orthodoxen Christen und Christinnen mitgestalteten ukrainischen Zivilgesellschaft verankert werden. Der ÖRK dürfte sich also nicht nur als ein „Top-Diplomat“ auf höchster Ebene verstehen. Neben zahlreichen weiteren Aufgaben müsste all das unter Ausschluss propagandistischer Vereinnahmung durch das Moskauer Patriarchat geschehen – also abseits und ohne die ROK.

2) Es versteht sich von selbst, dass eine solche, hier nur kurz skizzierte innerukrainische Friedensinitiative im Widerspruch zu der Idee eines trilateralen Runden Tisches steht. Dieser soll, nach den jetzigen Planungen, zusammen mit den beiden orthodoxen Kirchen aus der Ukraine und der ROK in der ersten Oktoberwoche 2023 stattfinden: Am ersten Tag soll mit den ukrainischen Kirchen gesprochen werden, am zweiten Tag mit der ROK und am dritten Tag mit allen Kirchen gemeinsam. An diesem Runden Tisch möchte der ÖRK dann ein „sichtbares Zeichen der ukrainisch-russischen Versöhnung“ geben; ein Zeichen „eines gemeinsamen Grundes“, damit die „Militärlogik“ nicht das letzte Wort in diesem Krieg hat, und um die Einheit der orthodoxen Kirchenfamilie wiederherzustellen.[5] Schließlich soll an diesem Runden Tisch ausgelotet werden, inwiefern die Kirchen einen Beitrag zum Ende des Krieges leisten können.

Inhaltlich sind viele Fragezeichen hinter ein solches Format zu setzen. Vielfach wurde bereits darauf hingewiesen, dass es in einer nach wie vor anhaltenden grausamen brutalen Vernichtungs- und Kriegssituation, mit unüberschaubarem Leid und Traumata, moralisch äußerst fragwürdig ist, die Opfer des Aggressionskrieges zusammen mit den verantwortlichen Tätern und Unterstützern an einen gemeinsamen Tisch zu setzen. Beim ÖRK scheint dahinter eine nicht ausgereifte Vorstellung vom Täter-Opfer-Ausgleich und dem Konzept des vor allem nach dem Ende des Apartheidsystems in Südafrika in den 1990er Jahren erfolgreichen Konzeptes der restorative justice zu stehen. Zentral bei diesen opferzentrierten Ausgleichsbemühungen ist, dass der Täter oder die Täterin Verantwortung für ihre Taten übernehmen, eine aktive „Wiedergutmachung“ anstreben und ihnen deswegen mildernde Strafen oder auch Straffreiheit zugesprochen werden kann. Übertragen auf die Situation der Ukraine würde das bedeuten, dass die russischen Akteure vor allem anderen zunächst ihr Unrecht einsehen müssten. Auch das ist in der andauernden Kriegssituation schwer vorstellbar.

Darüber hinaus steht das Zustandekommen eines trilateralen Runden Tisches bereits jetzt unter keinem guten Vorzeichen: Im vergangenen Jahr scheiterten zwei für März und Juni 2022 vom ÖRK avisierte Runde Tische mit den Kirchen der Nachbarländer: der erste, weil Metropolit Ilarion (Alfejev), der damalige Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats, keine Einreisegenehmigung in die Schweiz erhielt, der zweite, weil derselbe just an dem Tag, an dem der Runde Tisch in Genf stattfinden sollte, seiner außenpolitischen Funktion enthoben wurde. In Karlsruhe kam es, trotz öffentlicher Ankündigungen, ebenfalls nicht zu einem ukrainisch-russischen Dialoggespräch. Inwiefern die ukrainischen Kirchen der Idee des Runden Tisches wirklich aufgeschlossen gegenüberstehen, ist den öffentlichen Äußerungen nicht zu entnehmen. Außerdem hat Patriarch Kirill in seinem Gespräch mit Jerry Pillay bereits freundliche Bedenken gegen vorhandene Fremdeinflüsse geäußert, und dass eine solche Idee erst intern geprüft werden müsse.

3) Schließlich kommt in den Äußerungen, dass der ÖRK jetzt dialog- und friedensvermittelnd tätig werden müsse, damit die Kirchen einen Beitrag zum Ende des Krieges leisten könnten, eine weitere, von den ersten beiden Initiativen unabhängigere Vorstellung zum Ausdruck. Sie knüpft an die jüngsten Debatten und die Ukraine-Erklärung des ÖRK von Karlsruhe sowie an die zurückliegende Dekade zur Überwindung von Gewalt an und lässt sich als eine aktualisierte Inanspruchnahme der Friedensinitiativen des schwedischen Erzbischofs Nathan Söderbloms im Ersten Weltkrieg deuten. Söderblom hatte sich 1914 mit seinem Appell „For Peace and Christian Fellowship“ für eine Versöhnung zwischen den kriegführenden und den neutralen Ländern eingesetzt. In seinem Friedensappell nannte er keine Schuldigen, stattdessen wies er auf die offenen Wunden Christi in diesem Krieg hin und warb dafür, dass die Kirchen Vorreiter bei der Versöhnung zwischen den Nationen werden sollten. Wie wir wissen, scheiterte seine Initiative. Doch Söderblom ging als aufrechter Christ, der später auch den Friedensnobelpreis zuerkannt bekam, in die Geschichte ein. Die europäische Gesellschaft, in die hinein Söderblom sprach, war damals jedoch eine ganz andere: Es waren Monarchien nach alter Ständeordnung, christliche Gesellschaften, in denen die Kirchen(vertreter) noch eine staatstragende Rolle besaßen. Die Idee eines christlichen Internationalismus, die sich in der damals entstehenden ökumenischen Bewegung verkörperte, war ebenso neu und innovativ, wie die aufziehenden Strukturen multilateraler Politik: der mit großen Hoffnungen verbundene Völkerbund wurde erst 1920 gegründet. Auch die Frage, wer für den Ersten Weltkrieg verantwortlich war, war für die Zeitgenossen weniger eindeutig, als sie es später für die Siegermächte im Versailler Vertrag war oder sich heute für Historiker ausnimmt, die im Großen und Ganzen die These einer „geteilten Schuld“ vertreten.

Die zeitlose Übertragung der Söderblomischen Friedensinitiative ist jedoch der heutigen Situation nicht angemessen. Es gibt einen eindeutigen Aggressor mit einem Aggressionskrieg in Europa, und die Kirchen haben ihre frühere gesellschaftliche Leitfunktion längst verloren. Nach den zurückweisenden Briefen Kirills vom März 2022 ist bereits im vergangenen Jahr deutlich geworden, dass der ÖRK der Ukraine und der internationalen Politik kein Friedenspfand anzubieten hat. Die darauffolgenden kirchlichen und ökumenischen Stellungnahmen und Initiativen wurden von der breiten Öffentlichkeit und Politik auch kaum mehr als hilfreich wahrgenommen. Es wäre also an der Zeit, dass der ÖRK anstatt unrealistischen Friedensrhetoriken aus dem vergangenen Jahrhundert nachzuhängen, sich auf die kleine, mühsame, langwierige und nicht gut vermarktbare Friedensarbeit in der Ukraine konzentriert.

Katharina Kunter, Professorin für Kirchliche Zeitgeschichte an der Universität Helsinki.

Foto: Oleg Varov/Pressedienst des Moskauer Patriarchats

 

[1] https://www.oikoumene.org/de/news/wcc-gathers-to-pray-for-peace-faith-and-hope-in-difficult-times; https://www.oikoumene.org/resources/documents/wcc-statement-on-ukraine-0

[2] https://www.oikoumene.org/news/during-prayer-in-bucha-ukraine-we-hear-the-cries-of-despair¸ https://www.oikoumene.org/resources/prayers/prayer-for-ukraine-by-bishop-rosemarie-wenner

[3] https://www.oikoumene.org/news/wcc-general-secretary-to-patriarch-kirill-the-war-in-ukraine-must-come-to-an-end

[4] https://www.oikoumene.org/news/wcc-general-secretary-after-the-visit-to-moscow-wcc-to-be-an-instrument-of-dialogue

[5] https://www.evangelisch.de/inhalte/215816/15-05-2023/bedford-strohm-oerk-will-mit-rundem-tisch-versoehnung-voranbringen, https://www.sonntagsblatt.de/artikel/kirche/bedford-strohm-so-will-weltkirchenrat-zu-ukrainisch-russischer-versoehnung-beitragen