Kirchliche Diplomatie und die religiöse Dimension des russisch-ukrainischen Kriegs. Ein Konferenzbericht
Stefan Kube
Die religiöse Dimension des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine und die Rolle von kirchlicher Diplomatie standen im Mittelpunkt einer internationalen Konferenz vom 29. bis 30. Juni 2023 an der Ukrainischen Katholischen Universität (UKU) in Lviv. Die Konferenz, an der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus der Ukraine, den USA. Polen, Georgien, Deutschland, Österreich, der Schweiz und Israel teilnahmen, war Teil eines Forschungsprojekts der UKU und des „Nanovic Institute for European Studies“ an der Universität von Notre Dame im US-Bundesstaat Indiana.
Das erste Panel widmete sich Fragen der Religionsfreiheit und der nationalen Sicherheit der Ukraine unter den Bedingungen des Krieges, wobei es vor allem um die religionspolitischen Spannungen um die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK) ging. Die ukrainischen Behörden werfen der UOK vor, sich nicht definitiv vom Moskauer Patriarchat getrennt zu haben und haben daher eine Reihe von Maßnahmen zur Einschränkung ihrer Tätigkeit in der Ukraine in die Wege geleitet. Myroslav Marynovych, Vizerektor der UKU und ein Dissident zu Sowjetzeiten, charakterisierte die gegenwärtige Herausforderung im Umgang mit der UOK als „Weg zwischen Skylla und Charybdis“. Auf der einen Seite gebe es Belege für die Kollaboration von Hierarchen der UOK mit dem russischen Aggressor, die man unter dem Aspekt der nationalen Sicherheit nicht ignorieren könne. „Auf der anderen Seite riskieren wir eine Verletzung der Religionsfreiheit, eines fundamentalen Merkmals der Demokratie. Beim Verteidigen der Demokratie könnten wir sie unbeabsichtigt zerstören“, so Marynovych. Mit Blick auf die Geschichte seiner eigenen Kirche, der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, die 1946 in der Sowjetunion worden war und nur im Untergrund weiter existieren konnte, warnte Marynovych: „Wollen wir in die Vergangenheit zurückkehren? Letztlich hat auch Stalin das Argument der staatlichen Sicherheit in Anspruch genommen, als er die UGKK, die mit einem ‚feindlichen ausländischen Agenten‘ – dem Vatikan – verbunden war, liquidierte. Beunruhigt uns diese Parallele nicht?“ Statt die Aktivitäten einer ganzen religiösen Organisation zu verbieten, plädierte Marynovych für die rechtliche Verfolgung und Verurteilung einzelner Mitglieder und Geistlicher, die sich der Kollaboration schuldig gemacht hätten.
Der Leiter der ukrainischen Religionsbehörde, des „Staatlichen Dienstes für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit“, Viktor Yelenskyj, verteidigte das Vorgehen seiner Behörde gegenüber der UOK: Diese Kirche habe seit 2014 die falsche Seite der Konfrontation gewählt und sich geweigert, die ukrainischen Soldaten zu ehren. „Diese Organisation hat seit Jahren antiukrainische Narrative verbreitet, die gegen unsere Staatlichkeit, Identität, Kultur, Sprache und mehr gerichtet waren. Hier geht es nicht nur um dutzende Kollaborateure, gegen die ein Tatverdacht geäußert wurde, sondern um die subversiven Tätigkeiten des ganzen ‚Unternehmens‘“, so Yelenskyj. Daher habe das ukrainische Parlament ein Gesetz erlassen, das die Aktivitäten religiöser Organisationen, deren Zentrum sich in einem feindlichen Aggressorstaat befindet, verbietet. Es liege nun an der UOK, ihre Verbindungen zur Russischen Orthodoxen Kirche endgültig zu trennen. Wenn sie das nicht täte, hätte der Staatliche Dienst für Ethnopolitik und Gewissensfreiheit das Recht, sich an das Gericht zu wenden. „Das Gericht wird das abschließende Wort haben. Das ist ein demokratisches Verfahren und eine Standardmaßnahme, die das Land zum Schutz seiner selbst unternimmt“, sagte Yelenskyj.
Bohdan Ohultschanskyj, Dozent an der Offenen Orthodoxen Sophia-Universität in Kyjiw, wies darauf hin, dass Freiheit auch mit Verantwortung einhergehe: „Wenn eine religiöse Organisation sich als exklusiv ansieht und alle anderen als Häretiker bezeichnet, ist das keine Sprache von Feindseligkeit? Ist das ein Hinweis für Religionsfreiheit? Wenn unser Nachbarland sich zum Krieg entscheidet, und seine Vertreter in der Ukraine still bleiben, ist das ein Zeichen auf Religionsfreiheit? Wir müssen unterscheiden, was eine religiöse Aktivität darstellt und was nicht“, so Ohultschanskyj. Aus dem Innenleben der UOK berichtete Oleksandr Sorokin, der als Priester in der Kyjiwer Eparchie der UOK wirkt und zu den Unterzeichnern eines offenen Briefs an Metropolit Onufrij, das Oberhaupt der UOK, hinsichtlich des Status und der Zukunft der UOK gehört. Sorokin, der selbst 2015 aus Avdijivka im Donbass geflohen ist, unterstrich, dass ein Verbot der UOK gar nichts löse. Alle Kollaborateure sollten vor Gericht gebracht werden, „aber erlauben sie uns unsere Arbeit zu tun, denn die Menschen hören auf uns, sie folgen uns und sie fühlen, welche Seite die richtige ist“, appellierte Sorokin an der Konferenz.
Das zweite Panel beschäftigte sich mit „Religiösen Aspekten der Ideologie und Politik des modernen Russlands“. Dabei wurde immer wieder auf das Konzept der „Russischen Welt“ bei der Rechtfertigung des russischen Angriffskriegs verwiesen. Anatoliy Babynskyj, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Kirchengeschichte an der UKU, machte allerdings deutlich, dass das Konzept der „Russischen Welt“ jüngeren Datums sei und im kollektiven Bewusstsein der russischen Gesellschaft noch keinen prominenten Platz einnehme. Zentraler und länger verwurzelt sei vielmehr die Idee der „Heiligen Rus“, die bei der Entwicklung des russischen imperialen Narrativs im 19. Jahrhundert mit geopolitischer Bedeutung aufgeladen worden sei. Patriarch Kirill habe sich bereits vor seiner Wahl zum Oberhaupt der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) immer wieder auf dieses Narrativ bezogen, so 2002 bei einem Besuch auf der Krim, als er sich für einen engeren Zusammenschluss von Russland und der Ukraine aussprach. Vyacheslav Karpov von der Western Michigan University in den USA analysierte in seinem Vortrag die Übergabe einer Gottesmutterikone von Patriarch Kirill an den Oberkommandierenden der Rosgvardija, Viktor Zolotov, am 13. März 2022 in der Christ-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Die Ikone, die an eine angebliche Erscheinung der Gottesmutter vor russischen Soldaten vor einer erfolgreichen Schlacht bei der polnischen Stadt Augustów im Jahr 1914 erinnert, verkehre die traditionelle byzantinische Ikonographie, weil sie Maria nicht als Beschützerin, sondern als Kommandeurin darstelle. Darin zeige sich eine Paganisierung des Bildes der Gottesmutter, da Eigenschaften der antiken Göttin Athene, die auch als Göttin des Kampfes galt, auf Maria übertragen würden.
Das dritte Panel beleuchtete Möglichkeiten und Grenzen religiöser Diplomatie. Der ehemalige EU-Botschafter beim Hl. Stuhl, Jan Tombiński (2016–2020), rekapitulierte in seinem Vortrag verschiedene Friedensbemühungen der Päpste und anderer kirchlicher Akteure im 20. Jahrhundert, wobei zumindest die Bemühungen von Papst Franziskus und Justin Welby, des anglikanischen Erzbischofs von Canterbury, zur Eindämmung der Waffengewalt im Südsudan und in der Zentralafrikanischen Republik zeitweise erfolgreich waren. Tombiński zeigte jedoch auch die Grenzen von religiöser Diplomatie auf und empfahl kirchlichen Akteuren, sich eher auf den Versöhnungsprozess nach dem Ende von Konflikten zu fokussieren. Beim Versöhnungsprozess sei insbesondere eine Versöhnung mit der Geschichte notwendig. Dabei müsse jede Nation vor allem ein kritisches Verständnis der eigenen Vergangenheit entwickeln: „Wenn wir beim Analysieren unserer eigenen Geschichte nicht ehrlich sind, wird uns die Geschichte einholen.“ Die orthodoxe Theologin und ehemalige georgische Botschafterin beim Hl. Stuhl, Tamara Grdzelidze, verwies auf die Unterschiede bei der diplomatischen Ausbildung innerhalb der katholischen und orthodoxen Kirche. Die Vertreter orthodoxer Kirchen, die in diplomatische Prozesse involviert seien, hätten zumeist keine spezielle Ausbildung für diese anspruchsvolle Tätigkeit durchlaufen. Zumeist würden die orthodoxen Vertreter die Interessen ihrer nationalen Kirchen und Länder vertreten, d. h. nationale Interessen würden die Kirchen durchdringen. Vor diesem Hintergrund beurteilte Grdzelidze auch die Bemühungen des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) kritisch, die ROK und die ukrainischen orthodoxen Kirchen an einen Tisch zu bringen, da die ROK aufgrund ihrer Verbundenheit mit dem russischen Staat kaum als unabhängiger Akteur bei solchen Verhandlungen anzusehen sei. Mit der diplomatischen Rolle des Vatikans und seines Ansatzes „super partes“ (über den Konfliktparteien stehend) setzte sich Andrij Hlabse von der Universität von Notre Dame auseinander. Dieser Ansatz gerate angesichts des russischen Angriffskriegs, der fundamentale moralische Werte und demokratische Prinzipien verletzte, an seine Grenzen: Wenn die katholische Kirche weiterhin glaubhaft für Menschenrechte eintreten wolle, könne sie nicht zu den Verbrechen der russischen Armee schweigen und sich neutral gegenüber den Konfliktparteien geben.
Das dritte Panel setzte sich mit den Herausforderungen für den ökumenischen Dialog auseinander. Oleksandra Kovalenko, die Teil der ukrainischen Delegation an der Vollversammlung des ÖRK im September 2022 in Karlsruhe gewesen war, und Natallia Vasilevich, die als Delegierte des Ökumenischen Patriarchats an der Vollversammlung teilgenommen hatte, berichteten von ihren Erfahrungen in Karlsruhe. Aus Sicht von Kovalenko sei es an der Vollversammlung einerseits gelungen, für das Anliegen der Ukraine zu werben und Interesse für das Land zu wecken, andererseits bestehe bei den ökumenischen Gesprächsplattformen die Gefahr, dass sie zur Verbreitung russischer Propaganda missbraucht werden. Zudem ging Kovalenko auf innerukrainische Herausforderungen beim ökumenischen Dialog ein: Unter den Gläubigen und Geistlichen gebe es zwar die Bereitschaft für Dialog und Kooperation, aber diese fehle auf der Ebene der Kirchenleitungen. Vasilevich, die an der Erstellung der Erklärung der ÖRK-Vollversammlung zu „Krieg in der Ukraine, Frieden und Gerechtigkeit in der Region Europa“ beteiligt war, berichtete von den Taktikten der russischen Delegation während des Redaktionsprozesses des Dokuments. Kritisch gegenüber dem aktuellen Zustand der ökumenischen Bewegung und ihren Vermittlungsbemühungen mit Blick auf den Krieg in der Ukraine äußerte sich Yuri Avvakumov, Professor an der Universität von Notre Dame: „Die Herausforderung des historischen Augenblicks ist so groß, dass wir einen Neubeginn brauchen. Eine Umkehr des Herzens und Verzicht auf Scheinheiligkeit ist vonnöten. Um glaubwürdig zu bleiben, muss die christliche Welt von morgen postkonfessionell werden – und das bedeutet auch ‚postökumenisch‘“.
Das vierte Panel ging auf theologische Neubewertungen von Krieg und Frieden ein. Andreas Trampota vom Institut für Theologie und Frieden in Hamburg zeichnete die Entwicklung von der Lehre vom „gerechten Krieg“ zum kirchlichen Konzept vom „gerechten Frieden“ nach, wobei er für die absehbare Zukunft zu dem Ergebnis kam, dass „die Ethik des gerechten Friedens eine Ethik des gerechten Kriegs einbeziehen wird“. Der Theologe Thomas Németh aus Wien machte als theologische Herausforderung vor allem eine Verhältnisbestimmung von Frieden und Gerechtigkeit geltend. Eine Option für Wahrheit und Gerechtigkeit dürfe dabei auf keinen Fall die Perspektive des Opfers außer Acht lassen. Taras Dyatlyk, Vizerektor des „Eastern European Institute of Theology“ in Lviv, beleuchtet aus einer praktischen Perspektive, wie evangelische Seminare in der Ukraine in ihrer theologischen Ausbildung auf den russischen Angriffskrieg reagiert haben. Die Seminare wurden dabei nicht nur zu Orten des Lernens, sondern auch zu Betreuungs- und Versorgungszentren für Flüchtlinge.
In einer hochkarätigen Abschlussrunde diskutierten der Religionssoziologe José Casanova, der Apostolische Nuntius in der Ukraine, Erzbischof Visvaldas Kulbokas, der Philosoph Oleksiy Panych, Metropolit Borys Gudziak, der auch Präsident der UKU ist, sowie Volodymyr Turchynovskyy, Direktor des Internationalen Instituts für Ethik und zeitgenössische Fragen an der UKU, spirituelle und ethische Prinzipien, um Frieden und Sicherheit in Europa und weltweit zu gewährleisten.
Die Konferenzbeiträge werden Ende dieses Jahres in englischer Sprache im UKU-Verlag erscheinen.
Foto: Oleksandr Urban, Pressedienst der UKU