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Ethik, nicht Ritual. Alexej Navalnyj als Christ

07. März 2024

Ivan Petrov

Nach Alexej Navalnyjs Tod am 16. Februar verkündete seine Familie, er sei ein orthodoxer Christ gewesen. Am 1. März wurde er nach orthodoxer Tradition in Moskau begraben. Obwohl alle in der Kirche Getauften ein orthodoxes Begräbnis erhalten, äußerten andere Leute Zweifel: Wie häufig ging Navalnyj zur Kirche und nahm an den Sakramenten teil? Einige seiner Anhänger wiederum erklärten, man müsse ihn unbedingt als Märtyrer kanonisieren. Allerdings nicht in der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), da diese vollkommen vom Kreml abhängig ist, und vielfach von Alexej kritisiert wurde, sondern in irgendeiner anderen orthodoxen Jurisdiktion.

Alexej selbst hat sich bereits lange vor seiner Verhaftung als „typischen postsowjetischen Gläubigen“ bezeichnet, der Fastenzeiten und einige Traditionen einhält, aber sehr selten zur Kirche geht und wenig über sie weiß. Außerdem sagte er, dass sich sein Umfeld, zu dem viele Atheisten gehörten (bis 25 Jahre auch er), oft über seinen Glauben lustig mache. Aber er wolle seinen Glauben nicht „in politisches Kapital konvertieren“. Offensichtlich meinte er damit die demonstrative Teilnahme Putins und anderer Politiker an religiösen Zeremonien.

Wichtig war ihm am Glauben, „sich als Teil von etwas Größerem und Allgemeinerem“ zu fühlen, das eine „besondere Ethik und Selbstbeschränkung“ beinhalte. Es versteht sich von selbst, dass jede Aussage eines Politikers billig ist, wenn sie nicht in seinen Handlungen Bestätigung findet. Doch diese Prüfung hat Alexej bestanden.

Schon die Geschichte, wie er die Vergiftung im August 2020 überlebt hatte und danach nach Russland zurückkehrte, erinnerte manche gar an die Auferstehung Christi im Evangelium. Noch deutlichere Parallelen zog die Geschichte seiner dreijährigen Verhaftung unter härtesten Bedingungen, der plötzliche und wahrscheinlich gewaltsame Tod, und dass seine Mutter lange darum bitten musste, ihr den Leichnam ihres Sohnes zu übergeben.

Während der dreijährigen Gefangenschaft hatte Alexej wenige Möglichkeiten mit der Außenwelt zu kommunizieren, doch hörten wir von ihm eine echte christliche Verkündigung. In seinem Schlusswort am 20. Februar 2021 vor Gericht sagte er: „Ich bin heute ein gläubiger Mensch, und das hilft mir stark in meiner Tätigkeit, weil alles viel, viel einfacher wird. Ich zerbreche mir weniger den Kopf, habe weniger Dilemmata in meinem Leben, weil es ein Buch gibt, in dem allgemein, mehr oder weniger klar geschrieben steht, was man in jeder Situation tun soll.“ Danach interpretierte er ein Zitat aus der Bergpredigt: „‘Selig, die hungern und dürsten nach Gerechtigkeit – sie werden gesättigt werden‘ (Mt 5,20) – dieser Satz scheint etwas exotisch, seltsam zu sein, doch eigentlich bringt er die wichtigste politische Idee zum Ausdruck, die es heute in Russland gibt.“

In seinem Blog, den er mit Hilfe seiner Anwälte führte, schrieb Alexej, dass er sich darum bemühe, sein Streben nach Gerechtigkeit und den Wunsch, die Schuldigen zu bestrafen, nicht in Hass ihnen gegenüber auswachsen zu lassen. Doch was bedeutet das in der Praxis, welche Wahl bleibt einem Gefangenen schon? Alexej erzählte auch, wie man einen weiteren Gefangenen zu ihm in die enge Kammer sperrte, der schon lange die Regeln der Hygiene vergessen hatte. Also musste er tagaus tagein mit ihm im Abstand einer Armlänge dasitzen. Alexej schrieb: „Gemäß den Gefängnisregeln hätte ich diesen Kerl aus der Zelle jagen sollen – ihn schlagen oder bedrohen. Doch… einen unglücklichen, kranken, lahmen, vieljährigen Alkoholiker schlagen – das wäre nicht die richtige Antwort auf die wichtige Testfrage ‚Und was würde Jesus tun?‘“

Nach dieser Erzählung sind Fragen, wie häufig Alexej gebeichtet und die Kommunion zu sich genommen hat, überflüssig. Ehrlich gesagt kenne ich die Antworten darauf nicht. Sein Christentum stellt die Ethik an erste Stelle und nicht das Ritual. Und das ist in der gegenwärtigen Situation besonders bedeutsam, wenn die offizielle Kirche genau das Gegenteil tut. Eine Kanonisierung ist nicht zu erwarten, denn es gibt keine formalen Grundlagen zu behaupten, dass Alexej für seinen Glauben an Christus getötet und deshalb zum Märtyrer wurde. Doch besteht kein Zweifel daran, dass er sein Leben für erhabene Ideale dahingab, und diese Ideale waren in höchstem Masse vom Evangelium geprägt. Was beeinflusst denn die Köpfe und Herzen der Menschen – etwa ein offizieller kirchlicher Status der einen oder anderen Person? Wir haben einen Berg voller Blumen und gewaltige Warteschlangen vor dem Friedhof gesehen – Verehrung durch das Volk braucht keine offizielle Kanonisierung.

Zu Lebzeiten haben einige Aussagen und Handlungen Alexejs bei vielen (auch bei mir) Widerspruch und Unverständnis ausgelöst, doch seine Ansichten haben sich verändert. Das eine wie das andere ist für einen Politiker normal. Seine Leistungen sind aber unbestritten: Er war praktisch der erste russische Oppositionspolitiker, der es geschafft hatte, eine weit verzweigte Struktur in den Regionen des Landes aufzubauen und viele Tausende Menschen zu mobilisieren. Zwar lernte der Kreml mit Hilfe repressiver Maßnahmen erfolgreich damit umzugehen. Doch eine andere Tatsache kann er nicht aus der Welt schaffen: Mit seinem Leben und insbesondere mit seinem Tod hat Alexej ein Beispiel dafür gegeben, wie christliche Werte und Ideen Grundlage praktischer politischer Handlungen sein können. Und die offizielle Kirche hat rein gar nichts damit zu tun.

Solange es in Russland eine öffentliche Politik und einen Parteienwettbewerb gab, wurde immer wieder über die Gründung einer christlichen Partei nachgedacht, mehrmals gab es auch solche Versuche, doch ohne sonderlichen Erfolg. Vermutlich weil eine solche Partei unter russischen Bedingungen nur unter klerikaler Kontrolle existieren und nur die Interessen von Wählern vertreten könnte, die starke rechtsnationalistische Ansichten haben.

Alexej hat der ganzen Welt und vor allem der russischen Opposition gezeigt, dass es für Christen in der Politik einen anderen Weg gibt, so wie es auch ein anderes Russland und auch eine andere russische Orthodoxie gibt. Dieses Wissen kann nicht mehr rückgängig gemacht werden.

Ivan Petrov (Pseudonym), russischer Publizist und Kirchenkenner.

Übersetzung aus dem Russischen: Regula Zwahlen, Forum RGOW.

Dieser Beitrag erscheint in Kooperation mit der Zeitschrift reformiert.info.

Bild: Tausende erwiesen Alexej Navalnyj bei der Beisetzung am 1. März die letzte Ehre (Foto: Shutterstock.com / Aleksey Dushutin).