Einzigartig und vielfältig: Georgiens Protestbewegung gegen das Agentengesetz
Interview mit Sophie Zviadadze
In den letzten Wochen haben tausende Menschen gegen das umstrittene „Ausländische Agenten“-Gesetz demonstriert. Was sind die Gründe für die Proteste?
Seit der Wiederaufnahme des Gesetzesentwurfs zu „ausländischen Agenten“ fanden in den Straßen von Tbilisi ununterbrochen Massendemonstrationen statt. Das Gesetz sieht vor, dass sich NGOs, Medien oder sogar physische Personen als „Organisationen im Dienst einer ausländischen Macht“ registrieren lassen müssen, wenn mehr als 20 Prozent ihrer Finanzierung von ausländischen Geldgebern stammt. Wie in Russland zielt dieses Gesetz darauf ab, die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Organisationen und kritischer Medien einzuschränken und sie in den Augen der Öffentlichkeit als „Agenten eines fremden Landes“ erscheinen zu lassen. Das Gesetz erinnert viele an den Großen Terror von 1937 und die massenhafte Deklarierung von Menschen zu „Volksfeinden“.
Der Protestslogan „Ja zu Europa, nein zum russischen Gesetz“ bringt deutlich zum Ausdruck, warum zehntausende Menschen auf den Straßen sind. Der Protest, der sich zunächst gegen den Gesetzesentwurf richtete, ist faktisch zu einem Kampf für den Schutz der Souveränität Georgiens, grundlegender Werte, Demokratie und des europäischen Integrationsprozesses geworden. Die Initiierung des Gesetzes hat die Gefahr für den europäischen Weg des Landes durch die Regierungspartei offenbart. Die gewaltsame Auflösung von Demonstrationen sowie die Verhaftung und Einschüchterung von Protestteilnehmenden stellt die Demokratie des politischen Systems in Frage. Daher kommen Menschen unterschiedlicher Generationen, mit verschiedenen politischen Ideologien und aus verschiedenen sozialen Schichten an die Kundgebungen in Tbilisi. Die neue Generation, die sog. Generation Z, bildet dabei den Kern der Protestierenden. Sie prägt das Ethos der Bewegung: Selbstorganisation mit klaren bürgerschaftlichen Werten, Empathie und Solidarität. Symbole dieser Handlungen sind junge Menschen mit Gasmasken, bunten Regenmänteln sowie Flaggen von Georgien und der EU. „Wir sind die Generation Erasmus (womit das Erasmus-Programm der EU zur Förderung von allgemeiner und beruflicher Bildung, Jugend und Sport gemeint ist), wir wollen nicht in einem Staat nach russischem Vorbild leben“, sagte einer der jungen Leute auf einer Kundgebung.
Das „russische Gesetz“ hat sich als eine Art Trigger für die Gesellschaft erwiesen, so dass alle Slogans und politischen Prozesse im Zusammenhang mit der europäischen Integration eine neue starke Bedeutung erhalten haben. Daher sagen viele Menschen an den Demonstrationen, dass dieses Thema heute von existenzieller Bedeutung für das Land ist: Wie wird Georgiens Zukunft aussehen – autoritär oder demokratisch? Dabei ist auch darauf hinzuweisen, dass wir die Bildung einer neuen georgischen Gesellschaft erleben, der durch die gegenwärtige Protestbewegung Form und Klarheit gegeben wird. Der Protest zeigt, dass die neue Generation ein großes staatsbürgerschaftliches Bewusstsein hat, und dass es möglich ist, in Vielfalt vereint zu sein. Einer der symbolischen Ausdrücke dieser zivilen Einheit war die Feier des Osterfestes am 5. Mai auf dem Rustaweli-Boulevard, auf dem Hauptplatz des Protestes. Die Demonstranten versammelten sich bei der Kaschweti-Kirche, direkt gegenüber dem Parlamentsgebäude, und brachten rote Eier und Osterkuchen mit. Die Feier war etwas Besonderes, da es eine Art nationaler Feiertag war, der religiöse und nicht-religiöse Menschen vereinte. Zudem waren auch muslimische Mitbürger an diesem Tag auf dem Boulevard und bewirteten die versammelten Menschen mit traditionellen Süßigkeiten. In dieser Hinsicht ist der Protest einzigartig: Er ist inklusiv, ist ohne klare Anführer, hat Graswurzel-Chararkter und ist eine harmonische Kombination nationaler und ziviler Stimmen.
Ungeachtet der Proteste hat die Regierungspartei das umstrittene Gesetz verabschiedet. Welchen Zweck verfolgt die Partei mit dem Gesetz?
Trotz Massenprotesten und heftiger Opposition aus dem Westen hat die Regierungspartei „Georgischer Traum“ das „Agentengesetz“ in dritter und finaler Lesung am 14. Mai 2024 verabschiedet. Die Regierung hat die Forderungen der Zivilgesellschaft, einer beispiellosen großen und friedlichen Protestbewegung in der Geschichte des unabhängigen Georgiens, und – was ebenfalls denkwürdig ist – die Warnungen der Vertreter der EU, dass sich die Annahme des „Agentengesetzes“ negativ auf Georgiens Fortschritt auf dem EU-Weg auswirkt, nicht berücksichtigt. Dies wiederholten der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, und der Erweiterungskommissar Olivér Várhelyi in ihrer Erklärung am 15. Mai, in der sie die georgischen Behörden aufriefen, „das Gesetz zurückzuziehen“. Derartige antieuropäische politische Schritte, antieuropäische Rhetorik, Kritik an europäischen Partnern und populistische Narrative, die der russischen Ideologie ähneln, sind beispiellos in der politischen Geschichte Georgiens. Für die Öffentlichkeit war es lange Zeit schwierig, sich einzugestehen, dass die Regierung eine antieuropäische Politik verfolgt. Während des Protests wurde deutlich, dass die Regierung ihre Legitimität verloren hat. Sie hat das Vertrauen der Menschen vollkommen verspielt. Es klafft eine große Lücke zwischen dem klaren Bestreben der Bevölkerung nach europäischer Integration und der kontroversen Politik und Rhetorik der Regierung.
Diese Kluft zwischen der Regierung und der Gesellschaft spiegelte sich auch in den offiziellen Erklärungen von EU-Vertretern. Sowohl bei der Verleihung des EU-Kandidatenstatus im Dezember 2023 als auch in der Zeit danach appellierten sie an das georgische Volk und betrachteten es als Verteidiger der europäischen Integration des Landes. Am 14. Mai sprachen die Vorsitzenden der Auswärtigen Ausschüsse von europäischen Parlamenten zu den Menschen auf dem Rustaweli-Boulevard und drückten ihre Solidarität mit den Protestierenden gegen das Gesetz über „ausländische Agenten“ aus.
Mit der Verabschiedung des Gesetzes verfolgt die Regierung das Ziel, die Zivilgesellschaft zu schwächen, kritische Stimmen zu unterdrücken und ihre Macht mit allen Mitteln zu erhalten. Eigentlich hätte die Regierung damit rechnen können, dass die Öffentlichkeit wie im letzten Jahr die Gesetzesinitiative ablehnt. Es scheint, dass sie bei der Entscheidungsfindung nicht souverän agiert und nur die Anweisung des Oligarchen Bidsina Iwanischwili ausführt. Wir müssen außerdem annehmen, dass es noch weitere Motive gibt. Einer der Gründe könnte der Rückzug des Landes vom europäischen Integrationsprozess sein. Erwähnenswert ist in diesem Kontext ein weiteres fragwürdiges Vorgehen: Parallel zum Agentengesetz hat die Mehrheit des Georgischen Traums im Parlament wichtige Änderungen beim Steuergesetz verabschiedet, die die Verfahren zum Einbringen von Offshore-Kapital nach Georgien vereinfachen. Die Änderungen bei der Steuergesetzgebung, die Offshore-Investitionen erleichtern, geben Anlass zur Sorge über die Möglichkeit der Geldwäsche und die Integrität von Georgiens Finanzsystem. Die ist ein ernstes Problem, das erhebliche Folgen für den Ruf des Landes und die ökonomische Stabilität haben könnte.
Es ist kaum zu übersehen, dass die gegenwärtige Regierung ein Sprachrohr für die russische politische Agenda ist, die vom Oligarchen Bidsina Iwanischwili umgesetzt wird. Für die Bevölkerung und somit auch für die Teilnehmer der Kundgebung ist klar, dass es nach 30 Jahren erneut um die Wiedererlangung der Unabhängigkeit des Landes geht. Heute sind die Souveränität und Unabhängigkeit des Landes mit der europäischen Integration verbunden. Dies ist ein wechselseitiger Prozess: Wie in der Ukraine entscheidet sich auch in Georgien zusammen mit dem Schicksal des Landes die gemeinsame europäische Zukunft.
Auch georgische Universitäten haben ihre Solidarität mit den Protestierenden bekundet. Wie kam es dazu?
Seit mehr als einem Monat protestieren ununterbrochen Studierende auf dem Rustaweli-Boulevard. Vor ein paar Tagen haben Studierende mehrerer georgischer Universitäten einen Streik ausgerufen. Einige Professor:innen bekundeten ihre Solidarität mit ihnen. Mehrere Universitäten wie die Staatliche Ilia-Universität haben der Situation Rechnung getragen und angekündigt, dass die Studierenden die Möglichkeit haben werden, die versäumten Vorlesungen zu einem späteren Zeitpunkt nachzuholen. Dieses Vorgehen wurde jedoch nicht von allen Universitäten geteilt, einige riefen im Gegenteil die Studierenden zum Studium sowie zur „Trennung von Politik und Bildung" auf. Die Veröffentlichung einer gemeinsamen Sondererklärung durch einige Universitäten hat Zweifel und Fragen über die Autonomie der Universitäten aufgeworfen, wie frei sie von der Regierungspartei sind, und ob sie in ihrer Entscheidung souverän waren. Es wurde vermutet, dass die Universitäten, die Widerwillen gegen das „russische Gesetz“ zeigen, im bevorstehenden Genehmigungsverfahren auf künstliche Hindernisse stoßen könnten.
Wie reagieren die Georgische Orthodoxe Kirche und andere Religionsgemeinschaften auf die Proteste?
Der Protest gegen das „Ausländische Agenten“-Gesetz ist heute das wichtigste und heißeste Thema in Georgien. Vor diesem Hintergrund hat die Georgische Orthodoxe Kirche nur ein einziges Mal eine offizielle Erklärung abgegeben, während die Kirche sonst oftmals die Ereignisse in der Gesellschaft aufgreift, was die Absicht der Kirche zum Ausdruck bringt, die öffentliche Meinung zu beeinflussen. In ihrem Statement vom 1. Mai reagierte die Kirche auf die aktuellen Ereignisse mit einer bemerkenswerten Zweideutigkeit: Sie drückte ihre Bereitschaft aus, die Meinungsverschiedenheiten zu überwinden und „den bürgerlichen Frieden zu wahren“. Angesicht des gewaltsamen Vorgehens gegen die Demonstranten reagierte die Öffentlichkeit mit Kritik auf die Erklärung, die „weder Baum noch Borke“ sei, und den staatlichen Institutionen und den Protestierenden die gleiche Verantwortung für den Vorfall zuschreibe.
Ganz andere Akzente setzte Patriarch Ilia II. bei einer Ansprache in einer Kirchgemeinde am 12. Mai. Er erinnerte an die biblische Erzählung, wie König Nebukadnezar drei Jünglinge bestrafte und sie in einen Feuerofen warf, sie aber unversehrt entkamen. „Bitten wir den allmächtigen Gott, dass er, so wie er Aserja, Hananja und Mischaël vor der größten Prüfung bewahrte, auch Georgien retten wird und mit Frieden und Eintracht segnen wird“, sagte der Patriarch. Das Bild der drei Jünglinge in der biblischen Geschichte verband natürlich jeder mit den jungen Demonstranten, die das Hauptsymbol und die wahre Kraft dieses Protests darstellen. Selbst von Kritikern der Kirche wurde diese biblische Geschichte als indirekte Anerkennung der Wahrheit der Jugend verstanden. Inwieweit es sich dabei um eine echte religiöse Botschaft der Kirche oder um eine pragmatische oder sogar politische Taktik der Kirche handelt, wird sich in naher Zukunft zeigen. Einige Geistliche sind wie ein Großteil der Gesellschaft nicht mit dem Gesetz und der gegenwärtigen Situation einverstanden und sehen es als Ausdruck russischen Einflusses. Nach Jahren des Dämonisierens und Kritisierens der jungen Generation lobte die hohe Hierarchie sie zum ersten Mal von der Kanzel der Kirche, was die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich zog. Metropolit Grigol von Poti und Khobi erklärte zunächst, dass er nicht für die Verabschiedung des Gesetzes sei, und stellte dann in einer Predigt fest, dass „vor unseren Augen ein neues Georgien geboren wird, ein neues Georgien wird von neuen Menschen geschaffen“. Insgesamt bleibt jedoch die offizielle Position der Georgischen Orthodoxen Kirche angesichts der bedeutenden öffentlichen und politischen Ereignisse in Georgien uneinheitlich und uneindeutig, und es scheint, dass die Kirche abwartet, wie sich die Dinge entwickeln.
Der Bischof der Evangelisch-Baptistischen Kirche, Malkhaz Songhulaschwili, ragt durch seine zivile Haltung heraus. Am 15. Mai erklärte er: „Was jetzt in der georgischen Hauptstadt, in unserem Land geschieht, ist in der Tat ein Kampf für Gerechtigkeit. Das Beste, was wir heute als Land, als Kultur und als Einheit der Menschen haben, ist die in Freiheit aufgewachsene Jugend, die sich voll und ganz für den Aufbau der Gerechtigkeit einsetzt. Ihre unbesiegbaren Waffen sind Aufrichtigkeit, Freundlichkeit und Liebe. Wir alle müssen auf jeden von ihnen aufpassen.“
Im Allgemeinen nehmen Vertreter verschiedener ethnischer und religiöser Minderheiten an den Protestaktionen teil. Auch in dieser Hinsicht ist die Protestbewegung einzigartig.
Sophie Zviadadze, PhD, Associate Professor für Religionswissenschaft und Kulturwissenschaft an der Staatlichen Ilia-Universität in Tbilisi.
Übersetzung aus dem Englischen: Stefan Kube.
Bild: Tag und Nacht wurde gegen das sog. Agentengesetz in Georgien protestiert (Bild: Vakho Kareli).