Mit Respekt, Nostalgie und Treue zur von ihm gelehrten kritischen Funktion der Theologie - Nachruf auf Christos Yannaras (10.4.1935–24.8.2024)
Pantelis Kalaitzidis
Kurz nach seinem Tod fällt es mir nicht leicht, über Christos Yannaras zu sprechen und sein Werk nüchtern zu würdigen, insbesondere wenn wir bedenken, dass wir, die jüngere Generation griechischer Theologen, Yannaras’ Kinder sind: Von ihm haben wir die Grundlagen der Theologie erlernt; in seiner theologischen Sprache haben wir unsere ersten theologischen Worte formuliert, und in ihr formulieren wir noch immer unsere Versuche eines theologischen Diskurses. Seinetwegen haben viele von uns ein Theologiestudium begonnen. In der Atmosphäre seiner theologischen Synthese haben wir begonnen, dem Provinzialismus, der geistigen und intellektuellen Abmagerung der modernen griechischen theologischen Realität zu entkommen. Wir haben uns der weitläufigen Universalität der Orthodoxie geöffnet, und anhand seiner Schriften haben wir gelernt, uns in die theologischen Debatten der modernen Welt einzubringen, ohne Angst vor den Rückfragen, Ablehnungen, Feindseligkeiten unserer Gesprächspartner. Ohne Yannaras und die Auseinandersetzung mit seinem Werk und seiner Person wären viele von uns theologisch sprachlos geblieben. Für all das sind wir ihm sehr dankbar!
Gleichzeitig ist das Werk von Yannaras (wie auch die Werke anderer Theologen der 1960er-Generation) auch durch eine schrittweise Verschiebung von einem rein theologischen zu einem kulturhistorischen Diskurs geprägt, der letztlich hellenozentrisch bzw. manchmal ethnozentrisch wurde, indem er Referenzen zum „Genos“ oder zur Nation, Griechentum und einer neu-hellenischen Identität, zu den Besonderheiten und der Tradition des meist ökumenisch gedachten Hellenismus kombinierte. Dieses Element ist vor allem aufgrund der historischen Vergangenheit unauflösbar mit dem Antiwestlertum verbunden, so dass Griechentum und Antiwestlertum zu einem herausragenden Merkmal von Yannaras’ Werk wurden, insbesondere in seiner späteren Phase.
Ein inspirierender Theologe
Christos Yannaras (geb. 1935 in Athen) studierte Theologie und Philosophie in Athen, Bonn und Paris und lehrte anschließend in Paris, Genf, Lausanne, Rethymno (Kreta) und Athen. Erstmals machte er sich in den frühen 1960er Jahren mit der Publikation seiner ersten theologischen und literarischen Schriften einen Namen und später mit seiner herausgeberischen Tätigkeit in der Zeitschrift Synoro (Grenze) zwischen 1964 und 1967 (zwölf Ausgaben) und einer Buchreihe mit demselben Titel (acht Bände zwischen 1970 und 1973). In dieser Reihe erschienen einige seiner bedeutendsten Bücher, darunter „Die Freiheit des Ethos“ (1970). Im griechischen Kontext wurde Yannaras dem allgemeinen Publikum jedoch weniger durch sein systematisches theologisches und philosophisches Werk bekannt, sondern vor allem aufgrund seiner wöchentlichen Kolumnen, die er regelmäßig in griechischen Tageszeitungen publizierte, aber auch durch seine Auftritte in Radio und Fernsehen. Insgesamt hat er mehr als 80 Bücher publiziert, von denen viele in mehrere Sprachen übersetzt wurden.
Seit den frühen 1970er Jahren und insbesondere in den 1980ern, als er zum bekanntesten Theologen in Griechenland wurde, bestimmte Yannaras’ Werk die Entwicklung des theologischen und kirchlichen Lebens in Griechenland. Sein Werk bildete einen wichtigen Referenzpunkt für einen breiten Kreis von Theologen, Intellektuellen und Künstlern, insbesondere im Kontext der sog. „neo-orthodoxen Bewegung“.
In den 1990er Jahren mit ihrer geopolitischen Fluidität und dem Wiederaufbrechen nationaler Identitätskrisen erlangte sein Werk eine unerwartete nationale Reichweite und Publikum, doch verlor es seine theologische Dynamik und die Klarheit seiner theologischen Kriterien. Sein Werk, das einen bemerkenswerten Einfluss auf die griechische Welt und alle orthodoxen Kreise hatte, legt laut dem französischen Theologen Olivier Clément Zeugnis von einer „kreativen Theologie von weltweiter Reichweite“ ab. Die Bedeutung, Einzigartigkeit und die Radikalität von Yannaras’ Werk besteht in der Tatsache, dass es zu einem „Paradigmawechsel“ beitrug, indem es einen neuen theologischen und kulturellen Vorschlag einbrachte; es stellte auch eine Theologie des Bruchs und der Anfechtung dar und warf ernste anthropologische Fragen auf, insbesondere die des eros und der Sexualität.
Theologie der Person und neo-hellenische Identität
Yannaras’ radikaler und subversiver theologischer Vorschlag (der aus diesem Grund keinen Platz in den theologischen Fakultäten der griechischen Universitäten fand) zielt darauf ab: 1) die Orthodoxie von westlichen Einflüssen zu befreien, die dem orthodoxen Ethos fremd seien; 2) sie aus der „babylonischen Gefangenschaft“ der westlichen Theologie zu befreien und sie wieder auf die patristischen Quellen auszurichten; 3) eine kritische Auseinandersetzung der Orthodoxie mit den Herausforderungen und Sackgassen der konsumorientierten westlichen Zivilisation zu fördern. Yannaras zeichnet sich insbesondere durch seine Ausarbeitung einer Theologie der Person als Antwort der patristischen oder byzantinischen Theologie auf die ontologische Frage aus (vgl. sein Buch „Person and Eros“, 1976), und in der philosophischen Phase seines Werks durch seinen Entwurf einer kritischen Ontologie und einer relationalen Ontologie, die ebenfalls auf die Person fokussiert.
Im Weiteren griff er in die öffentliche Debatte ein, indem er regelmäßig Meinungsartikel und Kolumnen verfasste, zunächst ab 1972 in der Athener Mitte-Links-Tageszeitung To Vima, später ab 1993 in der Mitte-Rechts Tageszeitung Kathimerini. Seine Lieblingsthemen waren: die Emanzipation des Hellenismus von den entfremdenden westlichen Einflüssen, die Suche nach einer authentischen neo-hellenischen Identität durch die Wiederherstellung von Verbindungen zur byzantinischen und orthodoxen Tradition, und schließlich seine Vision der Geschichte des Hellenismus als Geschichte einer Lebensweise, einer Kultur, und nicht als Geschichte eines Ortes oder eines Staates. So distanzierte er sich von den entstellenden Prismen, die aus seiner Sicht vom griechischen Staat und seinen offiziellen Intellektuellen auferlegt wurden, die einfach westliche Ideen und Schemen importierten. Für Yannaras waren diese Themen so wichtig, dass sie sein eigentliches theologisches Werk überschatteten.
Derselbe hermeneutische Ansatz liegt auch einem Großteil seiner philosophischen Arbeit zugrunde. Die Priorität des letzteren wäre der Imperativ einer „hellenischen Lektüre“ von Platon und Aristoteles und einer hellenischen Sicht der Problematik, die die gemeinsame Haltung der Griechen gegenüber philosophischen Problemen unterstreicht. Dieser Imperativ führt zu einem hermeneutischen Schema, das sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität zwischen der antiken griechischen Philosophie und der patristischen Theologie unterstützt: Die Kontinuität betrifft die gnoseologische Ebene, da Erkenntnis in beiden Fällen ein Ereignis der Gemeinschaft und der Teilhabe sei und nicht das Ergebnis der Wahrnehmungsfähigkeit des argumentierenden Subjekts oder der Übereinstimmung zwischen der Vorstellung und dem Objekt der Vorstellung. Die Diskontinuität liege auf der ontologischen Ebene, da das neue Element, das von der patristischen Theologie, insbesondere von den kappadokischen Vätern, eingeführt worden sei, nicht nur die Unterscheidung zwischen dem Geschaffenen und dem Ungeschaffenen betrifft – die die altgriechische Unterscheidung zwischen dem Intelligiblen und dem Wahrnehmbaren ersetzt hat –, sondern auch die ontologische Priorität der Person vor ihrer Natur und die Identifizierung der Hypostase mit der Person. Yannaras sieht in dieser Identifizierung (die er im Wesentlichen von Metropolit Johannes Zizioulas übernommen hat) ein bedeutendes Ereignis für die Theologie, die Philosophie und ganz allgemein für die Zivilisations- und Denkgeschichte.
Kontinuität des Hellenismus
In Yannaras’ Werk steht Offenheit für Katholizität und Universalität der Orthodoxie neben griechischer Partikularität und Hellenozentrismus. Yannaras ist der griechische Theologe, der zwei widersprüchliche Tendenzen kombiniert: einerseits Kritik am kirchlichen Nationalismus und einen gewissen griechischen Provinizialismus, andererseits eine „hellenische“ Interpretation des Christentums und der Orthodoxie, ein kulturelles Verständnis des Glaubens und ein essentialistisches, metaphysisches Verständnis der griechischen Identität.
Yannaras‘ hellenische Hermeneutik und seine Idee der Kontinuität bedurften eines antiwestlichen Diskurses, um Gestalt anzunehmen. Sie forderten auch einen neuen Ansatz in der Kirchengeschichte und eine Version der Theologie, in der der ständige Konflikt zwischen Orthodoxie und dem Westen, zwischen der hellenischen Tradition und der Tradition von Westeuropa im Mittelpunkt steht. Dieser Konflikt wird zunächst als theologischer Disput dargestellt, doch schrittweise nahm er die Form einer kulturellen und identitätsbezogenen Auseinandersetzung an. Der Fall Yannaras ist ein typisches Beispiel für den Übergang vom theologischen zum kulturellen, hellenozentrischen und antiwestlichen Diskurs sowie für die Theorie der ungebrochenen Kontinuität des Hellenismus, eine Theorie, die für Yannaras nicht rassisch oder historisch, sondern philosophisch und kulturell ist. Aus verschiedenen Gründen, die hauptsächlich mit dem historischen und kulturellen Konflikt zwischen Ost und West zusammenhängen, systematisierte Yannaras die Idee einer ungebrochenen Kontinuität des Hellenismus als metaphysisches Prinzip, nicht im Bereich der Geschichte, sondern im Denken und der Kultur. Dies erreichte er, indem er eine Kontinuität des griechischen Logos oder Geistes von Heraklit bis zu Gregor Palamas proklamierte. Hinzu kommt seine Theorie zum diachronen Überleben einer kulturellen Hellenizität, die historische und religiöse Trennungen oder politische Regime überwindet und einige einzigartige Merkmale über die Zeit hinweg beibehält.
Diese Idee der ununterbrochenen Kontinuität des griechischen Logos und der daraus abgeleiteten Zivilisation ist ein konstantes Thema in Yannaras’ Werk seit den späten 1970er Jahren. Die Idee des griechischen Kontinuums blieb ständig präsent und nahm einen zentralen Platz ein, indem es im Bereich seiner „apophatischen Gnoseologie“ Gestalt annimmt, die nach Ansicht des späten Yannaras sowohl dem vorchristlichen als auch dem christlichen Hellenismus gemeinsam ist. Die Kontinuitätstheorie wandte er später auf die entscheidende Frage der Beziehung zwischen Hellenismus und Christentum an, und zwar so weit, dass sie im Widerspruch zu seinen früheren Positionen stand, die von einigen wesentlichen Unterschieden zwischen Hellenismus und Christentum ausgingen.
Kulturelles Verständnis der orthodoxen Liturgie und Antiwesternismus
Schon sehr früh wurde Yannaras’ Theorie von der ungebrochenen Kontinuität des hellenischen Logos durch eine eher historische und „politische“ Dimension ergänzt, auf der er besonders beharrte, wie zum Beispiel in seinem Buch „Grenzenloses Griechenland“ (Αόριστη Ελλάδα, 1994). Darin ging er so weit zu behaupten, dass wir Griechen „ein Volk von Aristokraten sind, wir verlangen das Beste und wir identifizieren dieses Beste nicht mit von Produktion unterworfener Arbeit. Ein aristokratisches Volk gibt der schöpferischen Muße den Vorrang, nicht der Arbeit – für diese Arbeit gibt es andere Völker und Stämme, Völker, die sich wie Herden den Anforderungen der Produktion unterwerfen, deren letztes Ziel für ihre religiöse Erlösung Arbeit und Treue ist – Labor et Fides.“
Auch in seiner Autobiographie (Ta Kath' Eauton) wird in mehreren Abschweifungen und Verweisen auf die orthodoxe liturgische Praxis der Adel der hellenischen Zivilisation zum Ausdruck gebracht und ihre Überlegenheit gegenüber anderen bestätigt, wobei Formulierungen verwendet werden, die der Realität des liturgischen „Wir“ widersprechen oder sie sogar negieren. In diesem Verständnis der liturgischen Praxis spielt es nur eine untergeordnete Rolle, ob dieses überlegene „Wir“ nicht national/rassisch, sondern kulturell ist; es spielt nur eine geringe Rolle, ob die trennende Rolle des Nationalismus von einem kulturellen oder universellen Hellenismus übernommen wird. Denn letzterer steht im Gegensatz zum liturgischen „Wir“, das die Kirche als geistige Heimat aller Menschen offenbart, und widerspricht dem Kern des biblischen Glaubens, dem Bewusstsein der orthodoxen Liturgie als Werk des Volkes Gottes, gleich welcher Sprache oder Epoche.
Diese Instrumentalisierung der liturgischen Tradition beschränkt sich nicht auf die Idee einer hellenischen Kontinuität in Zeit und Raum. Für Yannaras ist der orthodoxe Gottesdienst untrennbar mit der griechischen Identität und dem griechischen Charakter verbunden. Für ihn wird der orthodoxe Gottesdienst eher aus einer kulturellen als aus einer theologischen, geschweige denn aus einer eschatologischen Perspektive verstanden, da er als das charakteristische Element schlechthin angesehen wird, durch das sich das griechische Volk kulturell von dem weltweit vorherrschenden westlichen Paradigma abgrenzt. Die Zivilisation wird somit zur Voraussetzung für den Zugang zum kirchlichen Ereignis, was zu der Vorstellung führt, dass man nicht authentisch christlich sein kann, ohne die griechische Sprache (logos) und den griechischen Geist zu durchlaufen (vgl. z. B. seinen Artikel „Kirche und Kultur“, der 2003 in der führenden griechischen theologischen Zeitschrift Synaxi veröffentlicht wurde).
Yannaras’ Ideen haben eine lebhafte theologische Debatte ausgelöst, denn bei ihm wird Kultur zu einem Faktor des Ausschlusses aus dem kirchlichen Geschehen, wie zum Beispiel im Fall der westlichen mittelalterlichen Zivilisation: Diese ist nach Yannaras durch die Invasion barbarischer Stämme in die Gebiete des Weströmischen Reiches gekennzeichnet, was zu seiner Sicht des Westens als ein Feld der Barbarei und des kulturellen Primitivismus führt. Für Yannaras scheint der Westen für immer von den „Horden barbarischer Stämme und Ethnien, die die Gebiete des Weströmischen Reiches überschwemmten“, geprägt zu sein, und die sich trotz ihrer Taufe aufgrund ihres „kulturellen Primitivismus“ von der Kirche abgrenzten.
Ein integraler Bestandteil seines Antiwesternismus besteht darin, bei den bedeutenden Thomisten Marie-Dominique Chenu and Étienne Gilson, dem Kunsthistoriker Erwin Panofsky und dem Mediävisten Georges Duby die philosophischen und historischen Quellen zu finden, die er für seine radikale Kritik am mittelalterlichen und modernen Westen benötigte. Seit den 1970er Jahren, als er diese Mittelalterspezialisten entdeckte, gibt es keine einzige Schrift von Yannaras, die nicht auf diese Autoren verweist, um seine eigene Argumentation zu untermauern, dass die theoretischen Voraussetzungen für die Sackgasse der modernen Konsumgesellschaft in der mittelalterlichen Theologie und Philosophie zu suchen sind.
Die Hauptachse dieser aus dem Zusammenhang gerissenen Lesart bedeutender Historiker des Thomismus und des mittelalterlichen Denkens ist die Interpretation der Beziehung zwischen der Orthodoxie und dem Westen als radikale und permanente Opposition und das Verständnis der modernen Welt als bloßes Ergebnis des Mittelalters. Es stimmt, dass Yannaras nicht der erste war, der das Schema eines radikalen Gegensatzes zwischen West und Ost einführte; aber er war der erste, der diesen Gegensatz systematisierte, ihm theoretische Tiefe verlieh und sich dabei auf westliche Quellen (Gilson, Chenu, Panofsky, Duby) stützte.
Fehlende eschatologische Perspektive
Mir scheint, dass eine der Ursachen für Yannaras’ ethnokulturelle Verschiebung und sein Antiwesternismus im Fehlen einer eschatologischen Perspektive in seinem Werk liegt, das er in der Protologie und in einer Rückkehr zu den Wurzeln und der Tradition verankert wollte. In Yannaras’ Werk finden sich keinerlei Hinweise auf die reichhaltigen Debatten im 20. Jahrhundert über die Eschatologie als aktive Erwartung des Reiches Gottes. Die Eucharistie wird nicht als Vorgeschmack auf das Eschaton verstanden, sondern als vollständige Erfüllung der eschatologischen Verheißungen in der Gegenwart. Ebenso fehlt in seinen Schriften die ganze Debatte über die Dialektik zwischen Geschichte und Eschatologie, Gegenwart und Zukunft, des „bereits, aber noch nicht“, denn er entwickelte eine Theologie des „bereits“, eine Theologie der Ursprünge und nicht des Eschaton. Dies könnte die systematische Idealisierung von Byzanz, der Zeit der osmanischen Besatzung, des antiken Griechenlands und der Vergangenheit im Allgemeinen in seinen Schriften erklären.
Veranlasste der Mangel an einer eschatologischen Perspektive Yannaras dazu, die orthodoxe Vergangenheit zu idealisieren, so führten die Abwertung der historischen Methode und der Mangel an ökumenischer Sensibilität dazu, dass er eine bei den Orthodoxen sehr beliebte Methode anwandte; sie besteht darin, einerseits eine veraltete Version des Westens (scholastische Theologie, Inquisition, legalistische und pietistische Theologie usw.) und andererseits eine dynamischere Version der Orthodoxie (kappadokische Väter, Maximus der Bekenner, „mystische“ Theologie, Gregor Palamas usw.) einander gegenüberzustellen. Der „Westen“, auf den sich Yannaras bezieht, gibt es in der Realität nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass der Westen nicht eindeutig und einheitlich ist. Yannaras’ Bild des Westens ist eine Karikatur des wirklichen Westens. Er bezieht sich auf die Texte mittelalterlicher und scholastischer Theologen, insbesondere auf Thomas von Aquin, Anselm von Canterbury und Augustinus, aber kaum auf moderne und zeitgenössische westliche Theologen. Letztere scheinen jedoch über eine angemessene Kenntnis der patristischen Theologie, der Theologie der russischen Diaspora, der eucharistischen Ekklesiologie oder der Theologie der Person zu verfügen. In Yannaras’ Werk finden sich nur wenige Hinweise auf die Probleme und Herausforderungen der protestantischen oder katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts. Obwohl sein Werk Tausende von Seiten umfasst, findet man nur äußerst selten Zitate zeitgenössischer westlicher Theologen oder eine ernsthafte Auseinandersetzung mit ihrem Denken. In der Überzeugung, dass das Mittelalter die Entwicklung der westlichen Gesellschaften für immer geprägt hat, zieht es Yannaras vor, Gespräche mit einer fernen scholastischen Vergangenheit zu führen, anstatt sich auf die dynamische Gegenwart einzulassen, in der kosmogonische Veränderungen sowie neue Interpretationen und Synthesen stattfinden.
Es ist schade, dass Yannaras (und auch viele andere) in diesem vereinfachenden Verständnis des Ost-West-Verhältnisses gefangen blieb. Es ist schade, denn er war es vor allem, der die griechische Theologie aus ihrem intellektuellen Ghetto herausholte, und der es sich zur Aufgabe machte, die etablierte konservative Theologie zu kritisieren und in Frage zu stellen; er war wahrscheinlich der erste, der im griechischen Kontext einen energischen, dynamischen Dialog der Orthodoxie mit den Herausforderungen der modernen Welt formulierte. Er war derjenige, der schon in den 1960er Jahren, einer für den griechischen Kontext frühen Zeit, auf den Provinzialismus des ethnozentrischen kirchlichen Diskurses und die weite Dimension der ökumenischen Orthodoxie hinwies.
Wir, die wir seine Schüler waren und ihn aufrichtig geliebt haben, haben meiner Meinung nach gerade aus Loyalität zur Gabe des Fragens, die er uns mit seinen Schriften und seinem ganzen Leben großzügig geschenkt hat, die Pflicht, das antiwestliche, hellenozentrische und kulturelle Verständnis der Orthodoxie zu kritisieren, woher auch immer es kommt.
Dr. Pantelis Kalaitzidis, Direktor der Volos Academy for Theological Studies, Mitglied des Executive Committee of the European Academy of Religion.
Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.
Bild: Christos Yannaras an der Konferenz „Orthodox Constructions of the East“ vom 16.-19. Juni 2022 an der Volos Academy (Foto: Costis Drygianakis).