„Christus und dem Evangelium treu bleiben“
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Ein Aufruf von Geistlichen und Laien der Russischen Orthodoxen Kirche, die zwar in Russland bleiben, aber den Krieg ablehnen.
Veröffentlicht am 7. Januar 2025, dem Tag des Weihnachtsfestes in Russland
Dieses Glaubensbekenntnis wurde von Kirchenleuten, Klerikern und Laien, verfasst, die größtenteils in Russland leben und sich genötigt sahen, auf jegliche Hinweise auf die Autorenschaft zu verzichten. Jeder, der die hierin enthaltenen Thesen teilt und bereit ist, sie an andere weiterzuleiten, sei es mündlich oder schriftlich, öffentlich oder auf privatem Weg, kann sich als Teilnehmer an diesem Bekenntnisakt betrachten.
Die Phänomene, auf die in diesen Thesen Bezug genommen wird, haben in unserer Kirche seit langem zugenommen. Das Schweigen der Kirchenleute kann als Zustimmung oder Akzeptanz empfunden werden, und deshalb haben wir kein Recht zu schweigen.
Wir, Kleriker und Laien, Kinder der Russischen Orthodoxen Kirche – einschließlich derer unter uns, die derzeit in verschiedenen Ländern verstreut sind und anderen Jurisdiktionen angehören – glauben und bekennen, dass wir alle, unabhängig von den irdischen Umständen und den Forderungen irdischer Machthabender, aufgerufen sind, vor der Welt Zeugnis für die Lehre Jesu Christi abzulegen, und immer abzulehnen, was mit dem Evangelium unvereinbar ist. Keine irdischen Ziele oder Werte können von Christen über die oder anstelle der Wahrheit gesetzt werden, die in der Lehre, dem Leben und der Person Jesu Christi offenbart wurde.
1. ÜBER GOTT: Über das Gebot „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“
Wir Christen glauben an Gott, „den Schöpfer des Himmels und der Erde, alles Sichtbaren und Unsichtbaren“ (Glaubensbekenntnis von Nizäa-Konstantinopel, Anm. des Übers.), an Gott, den „Unaussprechlichen, Unerkennbaren, Unsichtbaren, Unbegreiflichen, Ewigen, Unveränderlichen“, „vor Dem Himmel und Erde, das Meer und alles, was in ihnen ist, erbeben“ (Liturgie des hl. Johannes Chrysostomus, Ordnung des Sakraments der Heiligen Taufe).
Frappierend ist die Leichtfertigkeit, mit der nicht nur Politiker und Journalisten, sondern auch Kirchendiener den Namen Gottes in ihrer Rhetorik verwenden und dem Schöpfer des Universums unerschrocken zuschreiben und vorschreiben, auf welcher Seite Er in irdischen Konflikten zu stehen und welche der irdischen Herrscher Er zu unterstützen hat.
Dieser Gebrauch des Namens Gottes für politische Zwecke ist nichts anderes als ein Verstoß gegen das Gebot: „Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen“ (Ex 20,7).
2. ÜBER DAS REICH GOTTES: Über die Unzulässigkeit der Vermischung dessen, was „Gottes“ und „des Kaisers“ ist, sowie die Unzulässigkeit der Verwandlung der Kirche in ein Instrument irdischer Machthabender
Das Wirken Christi beginnt mit der Verkündigung des Reiches Gottes (Mt 4,17). Die Botschaft von diesem Reich ist das Herzstück seiner Verkündigung: „Sucht aber zuerst nach dem Reich Gottes und nach seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33). Christus lehrt, dass dieses Reich sich von allen irdischen Staaten unterscheidet: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“ (Joh 18,36). Wir Christen sind seine Bürger: „Unsere Heimat ist im Himmel“ (Phil 3,20). Wir beten zu Gott: „Dein Reich komme, dein Wille geschehe, wie im Himmel so auf Erden“ (Mt 6,10). Weil er von diesem Reich gepredigt hatte, verurteilten die irdischen Machthaber und ihre Diener Christus zum Tode mit den Worten: „Jeder, der sich selbst zum König macht, lehnt sich gegen den Kaiser auf. [...] Wir haben keinen König außer dem Kaiser“ (Joh 19,12-15).
Wir wissen, dass der Staat und die Institutionen zur Unterstützung von Recht und Ordnung in dieser Welt notwendig und unvermeidlich sind. Sie schaffen die Voraussetzungen für ein normales Leben der Gesellschaft, indem sie menschliche Aggression und Kriminalität niederhalten. Deshalb antwortet der Apostel Paulus denen, die ihn gefragt haben, dass Gott die Macht als eine Institution des Rechts und der Ordnung eingesetzt hat, die diejenigen zurückhält, die Böses tun:
„Es gibt keine staatliche Gewalt, die nicht von Gott ist; die jetzt bestehen, sind von Gott eingesetzt. [...] Denn sie (die staatliche Gewalt) steht im Dienst Gottes für dich zum Guten. […] Sie steht im Dienst Gottes und vollstreckt das Urteil an dem, der Böses tut“ (Röm 13,1-4).
Der Wert dieser irdischen Macht ist praktisch und vergänglich; sie ist nicht dazu da, das Paradies auf Erden zu errichten, sondern um diejenigen, die Böses tun, daran zu hindern, die Erde in eine Hölle zu verwandeln.
Ohne die praktische Bedeutung der irdischen Macht und die Pflichten des Christen gegenüber der Gesellschaft aufzuheben, unterscheidet Christus klar zwischen der irdischen Macht und dem Reich Gottes, zwischen der Beziehung des Christen zu irdischen Machthabenden und zu Gott: „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Mt 22,21). „Den Herrn, deinen Gott, sollst du anbeten und ihm allein dienen“ (Mt 4,10). Deshalb ist jegliche Vermischung dessen, was „Gottes“ und was „des Kaisers“ ist, von Vollmachten und Aufgaben der irdischen Machthabenden mit der Macht und Herrschaft Gottes, unvereinbar mit der Lehre Christi.
Umso unvereinbarer mit der Treue zu Christus ist ein Zustand, in dem die Kirche zu einer ideologischen Abteilung des Staatsapparates wird, die als „Klammer“ (ein von der politischen Nomenklatura in Russland gern benutzter Begriff, Anm. d. Übers.) die politischen Bedürfnisse eines bestimmten Regimes bedient.
3. ÜBER DIE MENSCHENWÜRDE: Über die vorgebliche „Häresie der Menschenverehrung“ und die Unzulässigkeit, den Menschen als Verbrauchsmaterial zu missbrauchen
In der Heiligen Schrift lesen wir, dass der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde (Gen 1,26). Etwas Ähnliches wird in der Heiligen Schrift weder über die Nation noch über den Staat noch über eine Partei gesagt.
Wir lesen, dass Gott sich nicht schämt, die Menschen „Kinder“ und „Brüder“ zu nennen, denen er gleich wird, um sie von der Sklaverei der Sünde und des Todes zu befreien (Hebr 2,11-18). Im Glaubensbekenntnis bekennen wir, dass Gott Mensch geworden ist, „um uns Menschen und um unseres Heiles willen“. Aber weder die Heilige Schrift noch das Glaubensbekenntnis sagen uns, dass Gott Mensch geworden ist um der Größe oder des Heils einer Nation, eines Staates oder einer Partei willen.
Nach dem Wort Christi können nicht nur weltliche und soziale Regelungen, sondern sogar die wichtigsten religiösen Regelungen und Gebote nicht als Selbstzweck betrachtet werden, sondern sind um des Menschen willen da: „Der Sabbat wurde für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27).
Deshalb steht für die Jünger Christi der Mensch über jeder Nation, jedem Staat und jeder Partei – und das ist keine „globale Häresie der Menschenverehrung“, sondern eine Folge der christlichen Lehre, dass der Mensch das Ebenbild Gottes ist.
Der Missbrauch des Menschen als Instrument, als ein „Rädchen oder Schräubchen“, als Verbrauchsmaterial für den Staat oder andere irdische Institutionen ist mit der Lehre Christi unvereinbar.
4. ÜBER DIE GLEICHHEIT DER VÖLKER VOR GOTT und die Unzulässigkeit der nationalen Selbstverherrlichung
Im Neuen Testament lesen wir, dass im neuen Menschen, im Gegensatz zum alten, „nicht mehr Griechen und Juden, Beschnittene und Unbeschnittene, Barbaren, Skythen, Sklaven, Freie, sondern Christus alles und in allen ist“ (Kol 3,11). In der Welt des Neuen Testaments kann es keine Nationen geben, die Gott gefallen oder missfallen: „Gott ist nicht parteiisch, sondern in jedem Volk ist ihm willkommen, wer ihn fürchtet und tut, was recht ist“ (Apg 10,34-35).
Jede Erniedrigung einiger Völker und jede Erhöhung anderer, jede Form von nationalem Messianismus und nationaler Selbstverherrlichung ist mit der Lehre Christi unvereinbar, insbesondere jene, die unter der Losung „Gott ist mit uns!“ einem Volk das Recht zuschreibt, über das Schicksal anderer Völker zu entscheiden.
Deshalb können wir nicht akzeptieren, dass christliche Werte und Sinngehalte einer geopolitischen Agenda untergeschoben werden, einer Ideologie, die den Glauben an Christus durch den Glauben an die „russische Welt“, an die besondere Bestimmung des russischen Volkes und des russischen Staates, ersetzt.
Eine solche Verfälschung reduziert Gott auf eine nationale Gottheit, verengt die Orthodoxie auf eine nationale russische Religion und einen der Aspekte des nationalen Selbstbewusstseins. Sie zerstört die Lehre vom universalen Charakter der Kirche und führt zu einem Bruch mit anderen orthodoxen Ortskirchen. Aber die Kirche Christi ist größer als jede Ortskirche, auch als die Russische Orthodoxe Kirche.
Bei einer solchen Verfälschung wird die kirchliche Terminologie für politische Zwecke verwendet. An die Stelle der Lehre von der Einheit der Orthodoxen Kirche wird die Lehre von der „Einheit der Russischen Kirche“ gesetzt, und die Worte über die „Dreieinigkeit des russischen Volkes“, die in kirchennahen Dokumenten erklingen, passen die theologische Terminologie der heiligen Väter an die Bedürfnisse des politischen Diskurses an und geben dem politischen Konzept den falschen Anschein einer kirchlichen Doktrin.
Es ist ein Ausdruck von Hochmut und geistlicher Selbstüberschätzung, die eigene Nation als „universalen Herrscher“ (katechon – „Aufhalter“ des Antichrist, Anm. d. Übers.) zu bezeichnen, der die Welt vor dem Bösen schützt, und als „letzte Festung, die die Welt vor dem Kommen des Antichrist bewahrt“. Im Dasein jedes Volkes kämpfen Gott und der Teufel, und für jedes Volk ist der Ausgang dieses Kampfes bis zum Jüngsten Gericht unbekannt.
5. ÜBER DAS LEBEN NACH DEN GEBOTEN CHRISTI und dessen Ersatz durch den „Kampf für traditionelle Werte“
Christen sind aufgerufen, durch ihr eigenes Leben Zeugnis von den moralischen Lehren Christi abzulegen, wie sie im Neuen Testament dargelegt sind. Aber nirgendwo im Neuen Testament wird gesagt, dass Christen den „Außenstehenden“, also jenen, die keine Kirchenmitglieder sind, Werte – welche auch immer: moralische, familiäre, häusliche, politische oder religiöse – aufzwingen sollen.
Der Apostel Paulus regelt zwar die Lebensnormen der ersten christlichen Gemeinden, zwingt die Christen aber nicht, diese Normen den „Außenstehenden“ aufzuzwingen, und fordert sie darüber hinaus auf, den Umgang mit den „Außenstehenden“, die nicht nach diesen Normen leben, nicht zu brechen: „Denn sonst müsstet ihr ja aus der Welt auswandern […]. Was geht es mich denn an, die Außenstehenden zu richten? Habt ihr nicht die zu richten, die zu euch gehören? Die Außenstehenden aber wird Gott richten“ (1 Kor 5,10-13).
Selbst die wichtigsten moralischen Werte des Christentums sollen wir nicht mit Gewalt, sondern nur durch unser eigenes Beispiel verkünden.
Der erbitterte „Kampf“, um den „Außenstehenden“ die „traditionellen Werte“ durch Zwang und gerichtliche Verfolgung, repressive Gesetze und Denunziationen aufzuzwingen, ist nichts anderes als ein Versuch, den Schwund wahrhaft christlicher moralischer Werte wie Liebe, Freiheit, Mitgefühl und Barmherzigkeit im inneren Leben der Kirche selbst zu verschleiern.
Wir können eine Predigt, in der „traditionelle“ und „nationale“ Werte die Moral des Evangeliums, die Gebote Christi und Christus selbst ersetzen und verdrängen, nicht als christlich ansehen.
6. ÜBER DIE CHRISTLICHE NÄCHSTENLIEBE und deren Ersatz durch die Predigt von Gewalt und „Heiligem Krieg“
Christus sagt zu seinen Jüngern: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, das tut auch ihnen! Darin besteht das Gesetz und die Propheten“ (Mt 7,12); „Liebt eure Feinde, segnet, die euch fluchen, tut wohl denen, die euch hassen, und bittet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Bösen und Guten und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte. Denn wenn ihr nur die liebt, die euch lieben, welchen Lohn könnt ihr dafür erwarten […]? Seid also vollkommen, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“ (Mt 5,44-48).
Von den Aposteln bis zu den Asketen unserer Zeit, wie dem heiligen Siluan vom Berg Athos, haben die Nachfolger Christi bezeugt und bezeugen, welch bedeutende Stellung die Lehre von der Feindesliebe in der christlichen Ethik hat. Christus lehrt seine Jünger: „Leistet dem, der euch etwas Böses antut, keinen Widerstand, sondern wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin! Und wenn dich einer vor Gericht bringen will, um dir das Hemd wegzunehmen, dann lass ihm auch den Mantel“ (Mt 5,39-40).
Wir wissen, dass die Anwendung von Gewalt manchmal der einzige Weg sein kann, um noch schlimmere Gewalt zu verhindern. Aber auch eine solche Gewalt, die als das geringere Übel gewählt wird, ist immer noch Gewalt, zwar ein geringeres, aber dennoch ein Übel.
Jede Predigt, die Gewalt verherrlicht, sei diese Gewalt politisch oder sozial, öffentlich oder häuslich, ist mit der Lehre Christi unvereinbar.
Der schlimmste Fall von Gewalt ist der Krieg. Wir wissen, dass Staaten manchmal gezwungen sind, Krieg zu führen, also Gewalt und Mord zu begehen, um noch schlimmere Gewalt und noch schlimmeren Mord zu verhindern. Doch auch in diesem Fall bleibt Gewalt Gewalt und Mord eine Sünde.
Wir können denjenigen dankbar sein, die – da sie sich dem Bösen widersetzt haben und dies manchmal um den Preis des eigenen Lebens – durch Gewaltanwendung noch schlimmere Gewalt verhindert haben.
Aber diese Dankbarkeit kann und darf nicht in eine Verherrlichung, Romantisierung oder Heroisierung des Gewaltaktes selbst münden. Für den Christen ist diese Dankbarkeit unweigerlich mit der Trauer darüber vermischt, dass die Gewalt in unsere Welt gekommen ist und dass sie durch Gewalt gestoppt werden musste.
Sowohl die Kirchenväter als auch das Kirchenrecht bezeugen die Sündhaftigkeit des Mordes, unabhängig von dessen Motiven. In der Regel des heiligen Basilius des Großen heißt es: „Wer seinem Nächsten einen tödlichen Schlag versetzt, ist ein Mörder, ob er nun zuerst zuschlägt oder zurückschlägt“ (Regel 43). Im Blick auf diejenigen, die bei der Abwehr eines Angriffs den Räuber töteten, schreibt Basilius vor, dass Kleriker ihres Amtes enthoben und Laien von der Kommunion ausgeschlossen werden, „denn die Schrift sagt: ‚Alle, die zum Schwert greifen, werden durch das Schwert umkommen‘ (Mt 26,52)“ (Regel 55). Der heilige Basilius rät, dass Soldaten, die im Krieg einen Mord begehen, für drei Jahre von der Kommunion ausgeschlossen werden sollen, „weil sie unreine Hände haben“ (Regel 13).
Die kirchliche Tradition verbietet es Priestern nicht nur, Waffen zu benutzen, sondern sie auch nur in die Hand zu nehmen, und sie verbietet es denen, die im Krieg gemordet haben, Priester zu werden.
Manchmal hören wir, dass in Bezug auf die Teilnehmer an Kriegshandlungen die Worte Christi zitiert werden: „Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt“. Aber das ist eine völlige Verzerrung der Bedeutung der Worte Christi, die aus dem Kontext des Evangeliums gerissen wurden. Im Johannesevangelium sagt Christus: „Das ist mein Gebot, dass ihr einander liebt, so wie ich euch geliebt habe. Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt. Ihr seid meine Freunde“ (Joh 15,12-14). Dies ist ein Aufruf an die Nachfolger Christi, dem Beispiel des Meisters zu folgen, der sein Leben für seine Jünger, seine Freunde, hingab. Aber er gab sein Leben nicht im Krieg, indem er andere tötete, sondern am Kreuz, indem er für unsere Sünden starb. Diese Worte beziehen sich nicht auf diejenigen, die töten, sondern auf diejenigen, die getötet werden.
Es ist kein Zufall, dass sich die Prediger der Lehre vom „heiligen Krieg“ meist nicht auf das Neue Testament, sondern auf das Alte Testament berufen, und zwar genau auf die Aspekte, die die Predigt Christi als vergangen hinter sich lässt.
Einen Krieg als „heilig“ zu erklären, ist mit der Lehre Christi unvereinbar, selbst wenn es sich um einen Verteidigungskrieg handelt. Erst recht, wenn es sich um einen Angriffskrieg handelt.
7. ÜBER DIE KIRCHE CHRISTI: Über die „Vertikale der Macht“ und das Vergessen des Synodalprinzips als Entstellungen des kirchlichen Lebens
Christus sagt über Seine Kirche: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen“ (Mt 18,20).
Indem er das Leben der Kirche und die Welt der irdischen Mächte einander gegenüberstellt, sagt er seinen Jüngern, wie seine Kirche beschaffen sein soll: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker unterdrücken und die Großen ihre Vollmacht gegen sie gebrauchen. Bei euch soll es nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch der Erste sein will, soll euer Sklave sein“ (Mt 20,25-27).
Die verschiedenen Ämter in der Kirche bedeuten nicht die Herrschaft der einen über die anderen, sondern verschiedene Arten des Dienstes, die der ganzen Gemeinde vermacht und anvertraut sind. Der Apostel Petrus schreibt: „Dient einander […], ein jeder mit der Gabe, die er empfangen hat“ (1 Petr 4,10), und fügt, an die Hirten gerichtet, hinzu: „Weidet die euch anvertraute Herde Gottes […] nicht aus Gewinnsucht, sondern mit Hingabe; seid nicht Beherrscher der Gemeinden, sondern Vorbilder für die Herde“ (1 Petr 5,2-3).
Daher ist weder die Überhöhung der Oberen noch die Erniedrigung der Untergebenen, weder die Identifizierung der Kirche mit dem Klerus, die die Laien herabsetzt, noch die Umwandlung der geistlichen Hierarchie in eine bürokratische „Vertikale der Macht“ (ein zentraler Begriff der politischen Nomenklatura in Russland, Anm. d. Übers.) mit der Lehre Christi vereinbar.
Für die orthodoxe Tradition ist es inakzeptabel, den Vorsteher zu einem „kirchlichen Autokraten“ etwa nach Art des römischen Papstes im mittelalterlichen Abendland zu machen, dessen Meinungen, Äußerungen und Entscheidungen weder einer Diskussion noch der Kritik unterliegen. Das Wort des Vorstehers ist nicht identisch mit dem Wort der Kirche.
Es ist für die Kirche nicht normal, dass das Prinzip der Synodalität weder substanziell noch wenigstens formell beachtet wird, wenn nicht einmal die vom Kirchenstatut vorgeschriebenen Bischofssynoden einberufen werden; wenn die wichtigsten Entscheidungen für das Leben der Kirche allein vom Vorsteher getroffen werden; und wenn der Widerspruch von Klerikern gegen Handlungen, Worte und die Politik ihres Vorgesetzten mit einem Meineid gleichgesetzt wird und eine Suspendierung oder Amtsenthebung nach sich zieht (eine Strafe, die das Kirchenrecht nur für die schwersten Vergehen von Klerikern vorsieht).
8. ÜBER DEN VERSÖHNUNGSDIENST als die wahre soziale und politische Sendung der Kirche
Christen sind aufgerufen, der sie umgebenden Welt durch ihr Leben und ihre Beziehung untereinander ein Beispiel zu geben – in Vergebung, Versöhnung und brüderlicher Liebe: „Wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben“ (Mt 6,14-15); „Wenn du deine Opfergabe zum Altar bringst und dir dabei einfällt, dass dein Bruder etwas gegen dich hat, so lass deine Gabe dort vor dem Altar liegen; geh und versöhne dich zuerst mit deinem Bruder, dann komm und opfere deine Gabe (Mt 5,23-24); „Soweit es euch möglich ist, haltet mit allen Menschen Frieden“ (Röm 12,18); „Daran werden alle erkennen, dass ihr meine Jünger seid, wenn ihr einander liebt“ (Joh 13,35).
Indem die Kirche Menschen verschiedener Nationalitäten, sozialer Schichten und politischer Parteien in Christus vereint, ist sie dazu berufen, der Versöhnung zwischen verfeindeten Nationen, gesellschaftlichen Gruppen und Parteien zu dienen. Christus selbst sagt über diese Mission: „Selig, die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden“ (Mt 5,9). Die Lehre von der friedensstiftenden Mission der Kirche wird u.a. in den „Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche“ dargelegt, die im Jahr 2000 von der Bischofssynode angenommen wurden:
„Die Orthodoxe Kirche erfüllt ihre Mission der Versöhnung unter einander feindlich gesinnten Nationen und ihren Vertretern. Dementsprechend bezieht sie keine Stellung in interethnischen Konflikten, mit Ausnahme von Fällen offensichtlicher Aggression oder Ungerechtigkeit seitens einer der Parteien“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, II.4).
„Angesichts der politischen Meinungsverschiedenheiten, Widersprüche und Kämpfe predigt die Kirche Frieden und Zusammenarbeit unter den Menschen, die unterschiedlichen politischen Ansichten anhängen. Sie duldet auch verschiedene politische Überzeugungen in der Mitte des Episkopats, des Klerus sowie der Laien, mit Ausnahme solcher, die offensichtlich zu Taten führen, die der orthodoxen Glaubenslehre und den moralischen Normen der kirchlichen Tradition widersprechen“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, V.2).
Gerade mit dem Argument, dass die Kirche mit der Mission der Vermittlung und Versöhnung unter verschiedenen politischen Kräften betraut ist, wird das Prinzip „Kirche steht außerhalb der Politik“ begründet. Die Kirche kann nicht als Vermittlerin zwischen verschiedenen politischen Kräften dienen, wenn sie eine dieser Kräfte ausdrücklich unterstützt. „Untersagt ist die Teilnahme der Kirchenleitung und der Geistlichen, folglich auch der ganzen Kirche, an der Tätigkeit politischer Organisationen, an wahlvorbereitenden Prozessen wie etwa der öffentlichen Unterstützung politischer Organisationen, die an Wahlen teilnehmen, oder einzelner Kandidaten, an Wahlkampfwerbung usw.“ (Grundlagen der Soziallehre der Russischen Orthodoxen Kirche, V.2).
Wenn Vertreter der Kirche zum Hass gegen andere Völker und Länder aufstacheln, anstatt den Frieden zu predigen, politische Einmütigkeit predigen, anstatt zwischen den politischen Kräften zu vermitteln, Gewaltakte gegen Andersdenkende ideologisch rechtfertigen, anstatt Versöhnung zu predigen – dann ist das eine Perversion nicht nur des Grundsatzes „Kirche steht außerhalb der Politik“, sondern auch und vor allem der Mission, zu der Christus seine Jünger ruft.
Der Versuch, das kirchliche Gebet als Instrument zur Überprüfung der Loyalität gegenüber irdischen Machthabenden zu missbrauchen, die Suspendierung und Amtsenthebung aufgrund von Gebeten für Frieden und Versöhnung – das ist nichts anderes als die Verfolgung von Christen wegen ihrer Treue zum Wort Christi.
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Wir erinnern uns, dass Christus zu seinen Jüngern sagte: „Ihr seid das Salz der Erde. Wenn das Salz seinen Geschmack verliert, womit kann man es wieder salzig machen? Es taugt zu nichts mehr, außer weggeworfen und von den Leuten zertreten zu werden“ (Mt 5,13). Wir sehen, wie die heuchlerische Kluft zwischen Wort und Tat unsere Kirche in Verruf bringt. Erinnern wir uns an die Worte des Apostels Paulus: „Du belehrst also andere Menschen, aber dich selbst belehrst du nicht? Du predigst: Du sollst nicht stehlen! Und du stiehlst? Du sagst: Du sollst die Ehe nicht brechen! Und du brichst sie? Du verabscheust die Götzenbilder, begehst aber Tempelraub? […] Denn euretwegen wird unter den Heiden der Name Gottes gelästert, wie geschrieben steht“ (Röm 2,21-24).
Doch „das Wort Gottes bleibt in Ewigkeit“ (Jes 40,8), und wir bekennen unsere Treue zu diesem Wort.
Quelle: https://telegra.ph/Hranit-vernost-Hristu-i-Evangeliyu-01-10 (10.01.2025)
Übersetzung aus dem Russischen: Dr. Johannes Oeldemann, Paderborn
Bild: Ikone mit der Darstellung des ersten Konzils von Nicäa und dem Text des Glaubensbekenntnisses von Nicäa in Griechisch (Ausschnitt)