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Russland: Proteste gegen Kirchenbau in Jekaterinburg

23. Mai 2019

Nach mehrtägigen Protesten gegen den Bau einer Kirche in Jekaterinburg ist das Bauvorhaben vorübergehend gestoppt worden. Geplant ist eine Rekonstruktion der Katharina-Kathedrale, die 1930 von den Bolschewiken zerstört worden war. An der Stelle der damaligen Kathedrale stehen heute ein großer Brunnen und eine Gedenkkapelle. Als Standort für die neue Kirche ist ein kleiner Park in der Nähe des Oktoberplatzes am Stadtteich vorgesehen.

Die Proteste richteten sich in erster Linie gegen die Aufhebung des beliebten Parks, da es in der 1,5 Mio. Einwohner zählenden Stadt, gerade im Zentrum, nur wenig Grünflächen gibt. Die Protestierenden versammelten sich spontan, nachdem ein Teil des Parks mit einem Zaun abgesperrt worden war. Nach vereinzelten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und der Polizei sowie jungen Männern aus einem nahen Kampfsportzentrum, bei denen es zu Verhaftungen und Verurteilungen zu mehrtägigen Gefängnisstrafen kam, meldete sich Präsident Vladimir Putin zu Wort. Er mahnte, eine Kirche solle „Menschen vereinen, nicht spalten“, und schlug eine Befragung der Bevölkerung vor, nach der sich die Minderheit der Mehrheit fügen soll. Kurz darauf verkündete der Bürgermeister von Jekaterinburg, Alexander Vysokinskij, das Bauvorhaben sei vorübergehend gestoppt und werde erst nach einer Umfrage fortgesetzt. Dies bedeutet einen Erfolg für die Protestierenden, doch die Befürchtungen, dass die Umfrage manipuliert wird, sind groß.

Offenbar ist die Kirche Teil eines umfangreicheren Projekts, das die ganze Umgebung neu gestalten würde. Dazu gehören ein multifunktionales, 30-stöckiges Zentrum mit Büroflächen, einem Fitnesszentrum, Wohnräumen und einer Tiefgarage. Das Bauvorhaben betrifft mehrere geschützte Gebäude aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert. Das verantwortliche Unternehmen gehört zwei schwerreichen Russen, Andrej Kosizyn, dem CEO der Uraler Bergbau- und Metallurgiefirma, und Igor Altuschkin, dem Vorsitzenden des Aufsichtsrats des Russischen Kupferunternehmens; laut Forbes Russia belegen sie Platz 24 und 25 der reichsten Personen im Land. Von Dezember bis Februar wurde das Projekt in öffentlichen Anhörungen besprochen. Obwohl 192 Personen gefordert hatten, den Park zu erhalten und die Kirche nicht dort zu bauen, hatte die Stadt das Projekt bewilligt. Begründet hatte sie das damit, dass das Bauvorhaben den gesetzlichen Anforderungen entspreche.

Unterstützer des Kirchenbaus bestreiten, dass die Kirche Teil eines umfangreicheren Bauprojekts sei und betonen, er werde die Umgebung verschönern. Innokentij Scheremet, ein prominenter lokaler Journalist und Unterstützer der neuen Kathedrale, wirft den Gegnern mangelnden Patriotismus vor. Von der Russischen Orthodoxen Kirche werden den Protestierenden „antireligiöse Motive“ unterstellt. Der Dekan der nahegelegenen Kathedrale auf dem Blut, Maxim Minjajlo, betonte zudem, die Rekonstruktion der Kathedrale sei eine Gelegenheit, ein historisches Unrecht wiedergutzumachen. Allerdings verschob er ein geplantes Gebet an der Baustelle, da die städtischen Behörden aufgerufen hatten, nicht an unbewilligten Kundgebungen teilzunehmen.

Einwände gegen dieses und ähnliche Projekte gibt es aber auch von orthodoxer Seite. So kritisierte Sergej Tschapnin, ehemaliger Hauptredakteur des Journals des Moskauer Patriarchats, in einem Kommentar einerseits das „mechanische Kopieren“ historischer Bauten, und verwies andererseits auf die Unmöglichkeit, Historisches wiederherzustellen – unter anderem weil der historische Ort nicht mehr verfügbar sei. Zudem bemängelte er die Qualität des Kirchenbaus, für den ein „drittklassiges Architekturbüro“ den Auftrag erhalten habe. Wäre das Projekt attraktiver, wäre auch die Reaktion der Bürger eine andere, vermutet er. Diesen Aspekt stellt er in den größeren Kontext der „kirchlichen Wiedergeburt“ – zu der auch zahlreiche Kirchenneubauten und Neubauprojekte zählten –, die wenig zukunftsgerichtet, sondern in der Vergangenheit verhaftet sei.

Die Protestierenden nahm Tschapnin in Schutz, da ihre Absichten nicht antireligiös oder antichristlich seien, sondern es ihnen um den Schutz ihres städtischen Lebensraums gehe. Während der Kirchenbau für Gläubige eine Aufwertung des Parks bedeute, werde er von anderen Bürgern als Gewinn „für eine Minderheit“ wahrgenommen, obwohl der Park „für alle“ da sei. Insgesamt erkennt Tschapnin eine Bruchlinie zwischen der „säkularen Gesellschaft, die nach Entwicklung strebt“, und der „kirchlichen Gesellschaft, für die die Bewahrung das wichtigste bleibt“. (NÖK)