Skip to main content

Serbien: Kirche kritisiert Debatte um Jasenovac-Opferzahlen

05. Oktober 2023

Der Hl. Synod der Serbischen Orthodoxen Kirche (SOK) hat mit „Bedauern und Entrüstung“ auf eine wiederaufgeflammte Debatte um die Opferzahl im Lager Jasenovac im Zweiten Weltkrieg reagiert. Medien in Bosnien-Herzegowina und Kroatien, später auch in Serbien hatten eine Aussage von Bischof Jovan (Ćulibrk) von Pakrac und Slawonien aus dem Jahr 2019 wieder aufgegriffen, mit der der Bischof einen „massiven Revisionismus“ in Serbien und der bosnischen Teilrepublik Republika Srpska und übertriebene Opferzahlen kritisiert hatte.

Die SOK hält an einer Zahl von rund 700‘000 Opfern fest, die zur Zeit des Zweiten Weltkriegs im faschistischen Unabhängigen Staat Kroatien (NDH) im Lager Jasenovac umgekommen seien. Diese Zahl ist jedoch umstritten, realistische Schätzungen gehen von bis zu 100‘000 Opfern aus. So führt das Museum in Jasenovac eine Namensliste von über 83‘000 Opfern. Andererseits werden, meist von kroatischer Seite, immer wieder auch deutlich tiefere Opferzahlen behauptet. Im Vernichtungslager wurden vor allem Serben aufgrund ihrer Nationalität, aber auch Juden, Roma sowie antifaschistische Kroaten und Bosnier ermordet.

In ihrem Statement erklärt die SOK, die „historische Wahrheit“ über den „Genozid am serbischen orthodoxen Volk, wie auch an unseren Brüdern, den Juden und Zigeunern“ könne mit keiner Lüge bestritten werden. Bischof Jovan, in dessen Eparchie Jasenovac liegt, habe vor Jahren dem Hl. Synod seine „private – unserer Meinung nach willkürliche, historisch unbegründete – Einschätzung“ dargelegt. Daraufhin habe ihm der Hl. Synod verboten, sich in dieser Frage öffentlich zu äußern, weil er befürchtete, dass die „Angreifer der SOK und des serbischen Volks“ die Einzelmeinung als Position der Kirche darstellen würden. Jovan habe sich an die Anweisung gehalten, ein bosnisches Medium habe nun eine alte Aussage aufgegriffen.

Die SOK sei die „wachsame Hüterin des authentischen historischen Volksgedenkens“, heißt es im Statement weiter. Zudem sei sie „naturgemäß das erste und größte Opfer jeder Verfolgung und jedes Pogroms“. Daher sei es unangebracht, von ihr Rechtfertigungen zu verlangen. Mit der Feststellung historischer Fakten solle sich die Geschichtswissenschaft gemeinsam mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen befassen. Geistliche hingegen sollten für alle unschuldigen Opfer, egal welcher Nationalität, beten, schrieb der Hl. Synod weiter.

Seriöse Medien rätseln, weshalb und warum gerade jetzt die Aussagen von Bischof Jovan wieder aufgegriffen wurden, vermutet wird eine Kampagne gegen den Bischof. 2019 hatte Jovan an einer Veranstaltung einer serbischen Unternehmervereinigung in Zagreb den „massiven Revisionismus“ in Serbien und der bosnischen Teilrepublik Republika Srpska kritisiert. Dabei ging es darum, dass der israelische Historiker Gideon Greif die Opferzahlen noch einmal deutlich auf 1,4 Mio. erhöht hatte und dies in Serbien unterstützt wurde. Er verglich das „Schweigen der Wissenschaft“ dazu mit dem Verhalten vieler Wissenschaftler im Vorfeld der jugoslawischen Zerfallskriege, als sie zu geschichtsverfälschenden öffentlichen Debatten ebenfalls geschwiegen oder diese gar unterstützt hätten. Die Frage nach der Ethik im Beruf der Historiker stelle sich ernsthaft, zugleich gebe es „ein staatliches Projekt der Revision in Serbien“, sagte Jovan 2019.

In der aktuellen Debatte meldete sich schließlich auch Bischof Jovan zu Wort. Die „schrecklichste Wahrheit“ sei, dass „wir nicht wissen“, wie viele Menschen in Jasenovac umgekommen sind. Die Erforschung der Leiden im Zweiten Weltkrieg sei von serbischen Historikern „völlig vernachlässigt“ worden, keine Doktoranden beschäftigten sich mit dem Thema und es gebe nicht eine Monografie über Jasenovac, die von einem serbischen Historiker verfasst worden sei, kritisierte Jovan. Er wies darauf hin, dass sich Serbien in jüngster Zeit unter der aktuellen Regierung von Präsident Aleksandar Vučić „aktiv mit dem schrecklichen Thema zu befassen begonnen hat“. Er bestritt eine staatliche revisionistische Politik, aber es habe eine nichtstaatliche Initiative zur Revision historischer Fakten gegeben. Diese sei „heute Gott sei Dank an den Rand gedrängt worden, wo sie auch hingehört“. Aus konservativen Kreisen kam die Forderung, Bischof Jovan von seinem Posten als Vorsitzender des Verwaltungsrats des Museums für die Opfer des Genozids in Belgrad zu entfernen. (NÖK)