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OWEP 4/2020: Zentralasien

Zentralasien liegt den Menschen Mitteleuropas ziemlich fern. Man hat vielleicht eine Vorstellung von grandiosen Hochgebirgsregionen und weiten Steppen, wohl auch davon, dass Orte wie Buchara und Samarkand mit Bauten „aus Tausendundeiner Nacht“ dort liegen – all das stimmt, aber es reicht bei weitem nicht aus, um Geografie, Kultur und Geschichte eines Großraums, der sich über die fünf Staaten Kasachstan, Kirgistan, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan erstreckt, auch nur annähernd zu umschreiben. Seit Jahrhunderten gibt es vielfältige Beziehungen zwischen Zentralasien und Europa; erinnert sei nur an die legendäre Seidenstraße oder an etwas so Alltägliches wie die Tulpe, deren Wildformen im Frühjahr die kasachische Steppe erblühen lassen. Das aktuelle OWEP-Heft „Zentralasien“ bietet zahlreiche Anstöße, sich mit diesem wichtigen, jedoch viel zu wenig bekannten Teil Asiens zu befassen.

Eröffnet wird die Abfolge der Beiträge mit einem Überblicksartikel von Dr. Brigitte Eschment, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin. Die fünf Länder sind durch die gemeinsame Zugehörigkeit zum Russischen Reich bzw. zur Sowjetunion geprägt, auch verbindet sie ein durch einen moderaten Islam geprägter religiös-kultureller Hintergrund. Dennoch haben sie seit ihrer Unabhängigkeit 1991 unterschiedliche Entwicklungen genommen, um ein eigenes Profil zu entwickeln; eine engere Zusammenarbeit – auch im Blick auf das Verhältnis zu den wichtigsten Partnerländern Russland und China – zeichnet sich erst in den letzten Jahren ab. Dr. Azam Isabaev, der aus Usbekistan stammt und an der Universität Hamburg im Fach Politikwissenschaft promoviert hat, ergänzt die einführenden Überlegungen, indem er drei Aspekte zur politischen Lage des Großraums besonders herausarbeitet: die Rolle der externen Akteure Russland und China, aber auch die Positionen der USA und der EU in Zentralasien, dann die Zunahme radikaler islamistischer Einflüsse in der Region und schließlich die Nähe zum Krisenstaat Afghanistan, dessen Entwicklung vor allem von den angrenzenden Staaten Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan mit Sorge betrachtet wird. Ein dritter Beitrag aus der Feder von OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen beleuchtet die Rolle Russlands in Zentralasien. Als Nachfolgestaat der Sowjetunion ist das Land zwar bis heute politisch, wirtschaftlich und kulturell eng mit dem Großraum verbunden, sein Einfluss nimmt jedoch durch die Konkurrenz Chinas stetig ab.

Um China und seine wirtschaftlichen Ambitionen in Zentralasien geht es auch im Text der Wirtschaftsjournalistin Dr. Birgit Wetzel. Sie schildert kurz die ökonomische Situation in der Region mit einem Rückblick auf die Entwicklung und Bedeutung der legendären Seidenstraße, die seit der Spätantike China mit dem Mittelmeerraum verband, und skizziert das Projekt der „neuen Seidenstraße“ („Belt and Road Initiative“), das China zur Erschließung neuer Märkte in Asien und Europa vorantreibt. Besonders Kasachstan, aber auch die übrigen Länder Zentralasiens profitieren zwar von diesem Projekt durch den Ausbau ihrer Infrastruktur, allerdings gibt es auch warnende Stimmen, da manche Experten fürchten, die Rolle Chinas laufe auf einen Neokolonialismus hinaus. In ihrem Beitrag kommt die Autorin kurz auf Umweltprobleme in Zentralasien zu sprechen, u. a. auf das Verschwinden des Aralsees, das durch den übermäßigen Wasserverbrauch der Anrainerstaaten verursacht worden ist. Fragen des Umweltschutzes und Umweltbewusstseins stehen auch im Mittelpunkt des folgenden Interviews, das die Journalistin Dr. Birgit Brauer mit dem kasachischen Anwalt und Umweltaktivisten Vadim Ni geführt hat. Seine Bilanz ist ernüchternd: In allen Ländern ist der Umweltschutz ein Stiefkind. Vermüllung der Landschaft und Verschmutzung von Luft und Wasser sind an der Tagesordnung, diesbezügliche Gesetze werden weitgehend ignoriert.

Drei Aufsätze im Heft widmen sich der aktuellen Lage in drei Einzelstaaten, d. h. sie nehmen auch die Folgen der Covid-19-Pandemie in den Blick. Die Journalistin Edda Schlager, die seit 2005 als Zentralasien-Korrespondentin tätig ist und in Kasachstan lebt, befasst sich mit Turkmenistan, das sich von den Nachbarn fast völlig abgeschottet hat. Das autoritäre System unter Präsident Berdymukhamedow ignoriert die demokratischen Grundrechte, sodass auch keinerlei Berichterstattung über die Pandemie, die das Land schwer getroffen hat, möglich ist. Wirtschaftlich liegt das Land zwar am Boden, doch wird es trotz zunehmender Unruhen kaum zu einem Umsturz kommen, da sowohl Russland als auch China aus strategischen Gründen das bestehende System stützen. Völlig verworren ist zurzeit die Lage in Kirgistan, in dem nach „gelenkten“ Parlamentswahlen Anfang Oktober 2020 die Regierung auf Druck massiver Proteste zurücktrat und seither ein Machtvakuum besteht. Die kirgisische Journalistin Aigerim Turgunbaeva beschreibt als Zeugin der Vorgänge die dramatische Situation, die durch die hohen Opferzahlen der Pandemie zusätzlich verschärft wird. Auch in Usbekistan ist die politische Lage, wie die heute in den USA lebende usbekische Journalistin Bagila Bukharbaeva schildert, nicht befriedigend. Zwar hat sich das bevölkerungsreichste Land der Region nach dem Tod des autokratisch regierenden Präsidenten Karimow 2016 etwas geöffnet, aber Menschenrechtsverletzungen wie etwa willkürliche Verhaftungen kommen immer noch vor. Es bleibt die Hoffnung, dass es der jüngeren Generation gelingen wird, in den kommenden Jahren Reformen durchzusetzen.

Auffällig ist in den Ländern Zentralasiens, dass viele Frauen trotz der traditionellen islamischen Prägung der Region ihre Rolle in Staat und Gesellschaft als „modern“ definieren, was sich sowohl in der Berufswahl als auch in der Stellung innerhalb der Familie niederschlägt. Hinter dieser Entwicklung steht die in der Sowjetunion propagierte Gleichstellung von Mann und Frau in Beruf und Familie, die allerdings – wie die in Kasachstan tätige Journalistin Othmara Glas in ihrem Essay über „Frauen in Zentralasien“ belegt – in der Praxis nie unumstritten war und in der Gegenwart auch auf Widerstand stößt: Nicht allen Frauen gelingt der Spagat zwischen Tradition und Moderne, und auch viele Männer lehnen die Emanzipation ab. Einmal mehr geht es damit um die Rolle des Islam, der in Zentralasien ursprünglich eher moderat praktiziert wurde, seit einigen Jahren jedoch immer stärker unter fundamentalistische Einflüsse gerät. Einen Überblick zur religiösen Situation vermittelt Dr. Jeanine Dağyeli, Assistenz-Professorin am Institut für kasachische Sprache und Turkologie an der Nasarbajew-Universität in Nur-Sultan (Kasachstan). Alle Staaten der Region garantieren in ihren Verfassungen die Freiheit der Religionsausübung, de facto stehen die Gläubigen jedoch unter strenger Beobachtung – der Verdacht, Islamistischer Extremist zu sein, dient leider häufig als Vorwand für willkürliche Verhaftungen missliebiger Personen.

Abgerundet wird das Heft durch einige kleinere Rubriken. Auf zwei Seiten sind zunächst die wichtigsten Eckdaten zu Einwohnerzahl, Volks- und Religionszugehörigkeit abgedruckt; enthalten sind auch fünf geografische Skizzen, die eine dem gesamten Heft vorangestellte Skizze der Region ergänzen. Es folgt ein Interview mit der Reiseleiterin Dagmar Schreiber, die seit 2003 Reisen durch die Region organisiert. Sie schildert darin die Folgen der Covid-19-Pandemie für ihre Arbeit und Möglichkeiten einer Wiederaufnahme touristischer Reisen im kommenden Jahr. Abgeschlossen wird das Heft von einer Seite mit Informationen über wichtige Bücher und Websites.

Beigelegt ist dem Heft auch das Gesamtjahresverzeichnis des 21. Jahrgangs von OST-WEST. Europäische Perspektiven.

Ein kurzer Ausblick auf Heft 1/2021, das Mitte Februar des kommenden Jahres erscheinen wird: Unter dem Titel „Belarus – ein Land im Umbruch“ wird sich das Heft mit der aktuellen politischen und gesellschaftlichen Situation in diesem Land, das seit den Präsidentschaftswahlen im August dieses Jahr nicht zur Ruhe kommt, befassen. Zu Wort kommen neben deutschen Experten auch Autoren aus dem Land selbst, die sich z.T. im Exil befinden.

Das ausführliche Inhaltsverzeichnis und ein Beitrag im Volltext finden sich unter www.owep.de. Das Heft kann für € 6,50 (zzgl. Versandkosten) unter www.owep.de bestellt werden.