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Svjetlan Lacko Vidulić zu Erdbeben und Coronavirus in Kroatien

07. April 2020
Wie die meisten europäischen Staaten hat auch Kroatien außerordentliche Maßnahmen aufgrund der Coronavirus-Epidemie ergriffen. Die Situation wurde jedoch von einem Erdbeben am 22. März zusätzlich erschwert. Welche Maßnahmen sind zurzeit in Kraft und wie gestaltet sich das Leben in Kroatien?
In Kroatien wie in der halben Welt ist das Leben seit Wochen heruntergefahren auf das epidemiologisch empfohlene Minimum: öffentliche Veranstaltungen sind gestrichen, Schulen, Universitäten und Kitas geschlossen, Lernen beschränkt auf e-Learning, Studieren auf Fernstudium, Kinderbetreuung nur noch in der Familie, die Arbeit weitgehend beschränkt auf Fernarbeit, Kirchen nur noch Kulturdenkmäler, Museen und Galerien unzugängliche Depots, Eventhallen und Stadien in gähnender Einsamkeit, politische Debatten ersetzt durch Videokonferenzen, Handel und Gewerbe beschränkt auf Lebensmittel, Apotheken und Zustellungsdienste, Einkäufe mit Käuferzahl- und Abstandsregulierung, Reisen nur mit Passierschein, Begräbnisse und Sakramente nur im Familienkreis...

Das historische Zentrum der Hauptstadt Zagreb böte in diesen Tagen allerdings auch ohne die Corona-Pandemie einen gespenstischen Anblick. Ganze Straßenzüge sind gesperrt wegen der Bauschäden, die das Erdbeben am Morgen des 22. März verursacht hat. Auf den ersten Blick hat das Beben „nur“ Schornsteine geköpft, Seitenwände verwackelt und Schmuckelemente von den historistischen Fassaden gerissen. Inzwischen ist klar, dass es bei vielen Gebäuden an die Substanz ging, dass sie generalsaniert oder neu erbaut werden müssen. Dabei gibt das Stadtzentrum den Puls der Stadt an und ist kulturelles Erbe in hoch konzentrierter Form. Mit den Worten des Schriftstellers Slobodan Šnajder (in einem Interview für den Tagesspiegel): „Die ganze neuere kroatische Geschichte ist hier auf einem Quadratkilometer entstanden.“

Was sind die Folgen für das kulturelle Leben im Land?
Die Stilllegung aller „nicht lebensnotwendigen“ Betriebe und Lebensformen ist ein besonders harter Schlag für jene, die in der Sicht von Otto Normalbürger und aus der Perspektive einer neoliberal geprägten Ökonomie und Politik auch ohne Corona-Krise „eigentlich“ verzichtbar sind und also unter andauerndem Legitimationszwang stehen. Doch weder der verzweifelte Kampf der Kunstschaffenden um sofortige staatliche Rettungsmaßnamen in der Not, noch die vielfältigen alternativen Angebote im Netz (Theater, Konzerte, e-Bücher, Ausstellungen usw.), noch die Sorge um die Wiederbelebung des Kulturbetriebs nach der Krise – nichts davon ist wohl eine kroatische Besonderheit. Denn gerade dieser durch die Corona-Krise ausgelöste Digitalisierungs-, Vernetzungs- und Globaliserungsschub dürfte sich als ein bleibendes – und ambivalentes – „Erbe“ dieser Krise erweisen. Sicherlich gibt es dabei nationale, regionale und lokale Besonderheiten, die sich u. a. aus der jeweiligen Größenordnung (Einwohnerzahl Kroatiens: eine halbe Schweiz) und der damit verbundenen Verwundbarkeit eines Kunstbetriebes oder eines Künstlermilieus ergeben.

In der gegenwärtigen Lage die regionalen Besonderheiten zu detektieren ist schon deshalb nicht leicht, weil die dafür notwendigen 15-20 Stöberminuten im allwissenden Netz jetzt fehlen. Im Einzelfall sieht das so aus (und in dieser Momentaufnahme zeigt sich, wie eng das allseits Geteilte nun mit dem doch Besonderen und Lokalen verwoben ist): Ein Großteil meiner – nun im Familienkreis zu erkämpfenden – Arbeitszeit geht für die Vorbereitung und Durchführung des Fernunterrichts drauf, mit den gleichen Programmen wie im pandemiegeplagten Uni-Betrieb weltweit. Ein erschwerender Umstand ist dabei allerdings, dass die online-Scan-Aufträge in der germanistischen Abteilung unserer Fakultätsbibliothek vorerst nicht mehr möglich sind: Das Beben hat die schweren Regale in dem erdbebensicheren Neubau im Domino-Effekt reihenweise umgelegt.

Was für Regelungen gelten für die Glaubensgemeinschaften? Wie finden sie sich in der aktuellen Situation zurecht?
Gottesdienste vor laufenden Kameras in leeren Kirchen, also Fernseh- und Social-Media-Gottesdienste – das ist nun der epidemie-gerechte Standard. Dies gilt selbstverständlich für alle Kirchen und Gemeinden; so musste z. B. auch die Moschee in Zagreb zum ersten Mal seit ihrer Eröffnung 1987 geschlossen werden. Die täglichen Übertragungen im Kroatischen Fernsehen sollen sich großer Zuschauerzahlen erfreuen, die die übliche Zahl der Messebesucher weit übersteigen. Gestiegener Trostbedarf in Zeiten der Not? Oder Beleg für die Bewegungsfaulheit potenzieller Kirchenbesucher, die nun per Knopfdruck auf ihre Kosten kommen?

Auch ohne Corona-Krise würden die größten Kirchen in Zagreb nun vorläufig geschlossen sein. Das Erdbeben hat auch das Wahrzeichen der Stadt getroffen: die Zagreber Kathedrale und ihre nach dem verheerenden Erdbeben von 1880 errichteten neugotischen Türme. Die Spitze des Südturms mit goldenem Kreuz (insgesamt 13,5 Meter Länge, 30 Tonnen Gewicht) ist vor dem Bischofssitz gelandet; auch die Spitze des Nordturms muss nun abgetragen werden. Die letzte Generalsanierung der Kathedrale war seit 1993 in Gang und stand kurz vor dem Abschluss; nun kann von neuem begonnen werden. Unser Schicksal auf Erden: Der Schein von Beständigkeit ist immer nur eine Pause zwischen Verfall und Aufbau, zwischen Niedergang und Erhebung.

Svjetlan Lacko Vidulić, Professor für Germanistik an der Universität Zagreb und verantwortlicher Chefredakteur der Zagreber Germanistischen Beiträge.

Bild: Die Kathedrale von Zagreb im Sommer 2019, während Renovierungsarbeiten am Turm stattfanden. (©VitVit/Wikimedia Commons)