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Neue Impulse für eine orthodoxe Sozialethik

16. April 2020
Wie schätzen Sie die Bedeutung dieses Dokuments (und seiner Autoren) ein? Inwiefern ist es „von großer Bedeutung, aber nicht ohne Kontroverse“?
Das Dokument „Für das Leben der Welt. Auf dem Weg zu einem sozialen Ethos der Orthodoxen Kirche” ist das Ergebnis eines mehrjährigen theologischen Konsultationsprozesses von orthodoxen Akademiker*innen im Auftrag des Patriarchats von Konstantinopel. Der Impuls ging von dem Panorthodoxen Konzil auf Kreta im Juni 2016 aus. Dort hatte man bei vielen Fragen des Verhältnisses der Orthodoxen Kirche zur modernen Welt festgestellt, dass es keine tragfähige Sozialethik gibt und die Antworten darum oft unzureichend, von Personen und konkreten politischen Umständen abhängig und manchmal sogar widersprüchlich sind. Vor diesem Hintergrund ist das Dokument überaus bedeutsam, denn es versucht, alle sozialethisch relevanten Gegenwartsfragen theologisch zu erfassen. Darüber hinaus erhebt es den Anspruch einer gesamtorthodoxen sozialethischen Position. Außerdem ist bemerkenswert, dass es nicht ausschließlich von Bischöfen erarbeitet wurde, sondern von einer internationalen und mehrheitlich mit Laien besetzten Arbeitsgruppe.

Allerdings zeigt die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe und die Herausgeberschaft durch die amerikanische Erzdiözese, dass auch dieser Text einem bestimmten Kontext entspringt und vermutlich nicht von allen orthodoxen Kirchen mitgetragen werden wird. Die Autor*innen sind führende orthodoxe Theolog*innen vor allem aus den USA, viele von ihnen sind durch ihren offenen Dialog mit anderen Wissenschaften und Konfessionen bekannt. Einige von ihnen treiben seit einigen Jahren die kritische Auseinandersetzung der orthodoxen Theologie mit Globalisierung, Säkularisierung und Politisierung voran und engagieren sich für die Entwicklung einer modernen orthodoxen Moral-, Bio- und Sexualethik, die auch vor der Inklusion von LGBTI*-Personen, Fragen moderner Biomedizin oder Gendergerechtigkeit nicht die Augen verschließt. Damit überschreiten sie oft den bisherigen orthodoxen Konsens und sind deswegen teilweise als „liberale“ Theolog*innen verrufen – dieses Urteil könnte nun auch ihren Text zur Sozialethik treffen.

Das Dokument ist inhaltlich bemerkenswert, denn es eröffnet einen orthodoxen sozialethischen Diskurs mit vielen noch neuen Impulsen. Besonders erwähnenswert ist in meinen Augen das Kapitel zur Friedensethik, die bisher viel zu wenig in der orthodoxen Theologie diskutiert wurde, und die Kapitel zu sozialer Gerechtigkeit, wo die Option für die Armen als unhintergehbares Prinzip orthodoxer Theologie begründet wird. Insgesamt ist der Text geprägt von einer großen Offenheit gegenüber den Errungenschaften der modernen Welt und den Werten der modernen Gesellschaft. Es ist erklärte Intention des Dokuments, diesen Diskurs zu öffnen und in pastoraler Perspektive Leitideen zu entwickeln, anstatt mit abschließenden Aussagen Dogmatik zu betreiben. Allerdings sind etwa der affirmative Zugang in Fragen zu Homosexualität, die Selbstkritik im Umgang mit Frauen, als auch die radikale Ablehnung von Todesstrafe und Nationalismus sehr entschieden formuliert. Der Text will jedoch gleichzeitig für die gesamte Orthodoxe Kirche sprechen, besonders in diesen kontroversen Fragen ist darum mit scharfer Kritik zu rechnen. Schließlich wird ein bereits bestehendes und in vielen Themen anders argumentierendes sozialethisches Grundlagendokument der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) vollständig ignoriert. Der ohnehin in den vergangenen Jahren verschärfte Konflikt zwischen einer konservativen (Moskau-nahen) und einer liberalen (dem Ökumenischen Patriarchat nahen) Strömung innerhalb der Orthodoxen Kirche wird durch das Dokument voraussichtlich zu neuen Diskussionen führen.

Steht das Dokument in einer Relation zur Sozialkonzeption der ROK?
Die „Grundlagen der Sozialkonzeption der ROK“ wurden vor genau 20 Jahren veröffentlicht, und sozialethisch ist auch das Dokument zu den Menschenrechten von 2008 bedeutsam. Beide Dokumente galten jeweils als erste und damit wegweisende sozialethische Positionierung in der orthodoxen Welt. Sie waren jedoch auch immer sehr umstritten, sowohl innerhalb der orthodoxen Kirchen als auch im ökumenischen Dialog. Im neuen Text werden die beiden russischen Dokumente nicht erwähnt, und allein diese Nicht-Erwähnung deutet auf Spannungen zwischen der russischen Seite und den Herausgebern des neuen Dokuments hin. In der Einleitung wird kritisiert, dass frühere Zugänge orthodoxer Kirchen zu gesellschaftlichen Fragen von einer prinzipiellen Ablehnung von allem Neuen und einem unkritischen Traditionalismus geprägt gewesen seien – dies kann man als Kritik am Moskauer Patriarchat lesen. Die Herausgeber von „Für das Leben der Welt“ sehen sich ausdrücklich in der Tradition des Konzils von Kreta, auf dem die ROK nicht anwesend war.

Inhaltlich werden in den beiden Dokumenten sehr ähnliche Themen besprochen, und beide Texte sind Grundlagentexte, die versuchen, ein weites Themenfeld zu erfassen, aber für tiefergehende inhaltliche Diskussionen einer weiteren Ausarbeitung bedürfen. Viele Unterschiede erklären sich aus den gesellschaftlichen und kirchlichen Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre, einige aus den unterschiedlichen Kontexten der westlichen Diaspora und der russischen Volkskirchlichkeit. Bei einigen Themen liegen die Widersprüche jedoch auf der Hand, so vor allem in dem Kapitel zu den Menschenrechten, in dem mit der Formulierung „Keine Gesetze, kein Bereich privilegierter oder spezieller Angelegenheiten, kein nationales oder internationale Gebot übersteigt die absolute moralische Forderung der Menschenwürde an den Staat und alle seine Institutionen.“ (§ 63) der russischen Position, dass kollektive Werte über den Menschenrechten stehen können, deutlich widersprochen wird.

So entsteht der Eindruck, dass man mit dem neuen Text bewusst einen Gegenentwurf zur russischen Position erstellen wollte. Dieser Eindruck verstärkt sich vor dem Hintergrund des anhaltenden Konflikts zwischen dem Moskauer und dem Ökumenischen Patriarchat. Natürlich hat man aus verschiedenen Gründen unterschiedliche Herangehensweisen an die Fragen der modernen Welt. Allerdings zeigt nicht zuletzt die Corona-Pandemie, dass man vor den gleichen sozialethischen Herausforderungen steht. Die orthodoxen Kirchen gehen damit äußerst unterschiedlich um und zeigen teilweise gegensätzliche Auffassungen vom Verhältnis der Kirche zur Welt. Das gegenseitige Ignorieren schadet der Orthodoxie dabei im globalen Kontext enorm. Mit einer – vielleicht auch kritischen – Würdigung der russischen Texte hätte auch Versöhnungspotential in diesen Konflikten aufgezeigt werden können.

In welchem Verhältnis steht das Dokument zur katholischen Soziallehre?
Es gibt keine direkten Bezüge oder Zitate aus katholischen Texten zur Soziallehre, allerdings kann man vielleicht von einer ähnlichen Perspektive auf die moderne Welt sprechen. Dies beginnt bei dem grundsätzlich positiven Verhältnis zu den „Zeichen der Zeit“, der Wertschätzung von Menschenrechten und der Kritik von traditionalistischen Zugängen innerhalb der eigenen Kirche. Frieden, Ökologie und soziale Gerechtigkeit sind Kernthemen beider sozialethischer Ansätze, und es sind in vieler Hinsicht auch gemeinsame Themen von Papst Franziskus und Patriarch Bartholomaios. Bei den Fragen der Sexualität – auch nach sexuellem Missbrauch – und zu Flüchtlingen spürt man, dass beide Kirchen vor den gleichen massiven gesellschaftlichen und auch innerkirchlichen Anfragen stehen. Dass sie teilweise ähnliche Antworten finden, ist sicher auch ein Ergebnis zahlreicher ökumenischer Gespräche und einer langjährigen gemeinsamen theologischen Diskussion über die entsprechenden biblischen und patristischen Quellen.

Die katholische Soziallehre hat aus verschiedenen Gründen gegenüber der orthodoxen Theologie viele Jahrzehnte Vorsprung, und oft hat in Situationen, wo gesellschaftliche Entwicklungen eine gemeinsame Haltung der christlichen Kirchen gefordert haben, die orthodoxe Stimme gefehlt. Für das ökumenische Gespräch zu sozialethischen Fragen ist „Für das Leben der Welt“ damit ein bedeutender Schritt, denn das Dokument liefert eine verlässliche theologische Grundlegung für diesen Dialog und vor allem für ein gemeinsames Engagement. Es ist allerdings auch vor diesem Hintergrund bedauerlich, dass der innerorthodoxe Konsens zu einigen Fragen sich erst noch zeigen muss.

Regina Elsner, Dr., katholische Theologin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) in Berlin.