Die finanzielle Situation der Russischen Orthodoxen Kirche und ihrer Geistlichen
In letzter Zeit wird vermehrt über die schwierige finanzielle Lage von Geistlichen, Gemeinden und Klöstern der Russischen Orthodoxen Kirche aufgrund der Coronavirus-Situation berichtet. Einige Priester haben sich deswegen an den russischen Patriarchen Kirill gewandt. Wie ernst ist die Lage?
Im Frühling 2020 sind Berichte aufgetaucht, dass sich die materielle Lage von orthodoxen Geistlichen sowohl in Gemeinden als auch in Klöstern bedeutend verschlechtert hat. Die Medien bringen das vor allem mit der Covid-19-Pandemie in Verbindung. Doch dem ist nicht so. Die Pandemie hat lediglich die Probleme, die es schon früher gab, verschärft, obwohl die Bischöfe sich erlauben konnten, diese Probleme nicht zu bemerken.
Die materielle Alimentation der Geistlichen ist ein altes, ich würde sagen systemisches Problem der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK), das sowohl mit der sowjetischen Vergangenheit als auch mit der Art und Weise der Öffnung der Kirchen in den postsowjetischen Jahren verbunden ist. In den 1990er Jahren bemühte sich die ROK, so viele Kirchen wie möglich zu öffnen, ohne im Geringsten an die Zukunft zu denken. Vor allem in vielen Dörfern wurden Kirchen geöffnet, die irgendwann einmal groß gewesen, aber bereits zu Sowjetzeiten verfallen waren. Wenn sich eine Gemeinde von 30 bis 40 Personen zusammenfand, dann wurde ein Geistlicher zu ihr geschickt, normalerweise ein junger, direkt nach dem Priesterseminar. Aber die Jahre vergingen, der Priester bekam Kinder, die heranwuchsen, aber die Zahl der Gemeindemitglieder wuchs nicht. Im Gegenteil, sie sank rapide. Die Initiativen zur Eröffnung von Kirchen gingen prinzipiell von Rentnern aus, die langsam wegstarben, und die Jugend war erstens schon bedeutend weniger religiös und strebte zweitens danach, in die Stadt zu ziehen. Im Endeffekt blieb der Priester mit einer Handvoll Gemeindemitglieder zurück, die weder die Kirche unterhalten noch für ihn aufkommen konnten. Die Lage dieser Priester ist nicht erst in diesem Jahr elend, aber sie konnten noch irgendwie über die Runden kommen. Aber jetzt, in der Wirtschaftskrise, die die Pandemie mit sich gebracht hat, ist ihre Situation kritisch geworden.
Das Durchschnittseinkommen eines Dorfpriesters weit weg von den Großstädten beträgt ca. 100 Euro. Bedeutend besser ist die Situation in den Gebieten, die an große Städte angrenzen, dort gibt es im Sommer Datscha-Gäste, die den Hauptteil zum Budget der Dorfkirche und ihres Geistlichen beitragen. In einer komfortablen Lage sind die Gemeinden, die in den Wohnquartieren großer Städte liegen. Dort kommt auf 150‘000 oder sogar 300‘000 Einwohner eine Kirche. Ich denke, wir müssen mit der Schließung von Kirchen in aussterbenden Dörfern rechnen, obwohl den Bischöfen diese Entscheidung äußerst schwerfällt. Das Trauma der sowjetischen Zeit, als die Kirchen von den Kommunisten geschlossen wurden, geht zu tief. Aber es muss getan werden, denn sie zu unterhalten, ist schon völlig unrentabel. Übrigens hat Metropolit Tichon (Schevkunov) von Pskov als erster vier Kirchen geschlossen, die bereits nur noch auf dem Papier existierten. Er tat das Mitte 2019. Aber ich schließe nicht aus, dass es schon in ein paar Jahren Hunderte geschlossene Kirchen gibt.
Das zweite finanzielle Problem sind die Abgaben, die jede Kirche an den Unterhalt ihrer Eparchie und des Moskauer Patriarchats leisten muss. Diese Abgabe wird meist „Kirchensteuer“ genannt und theoretisch vom Umsatz der Kirche abgezogen. Ich bin überzeugt, dass das ein zutiefst verwerfliches Prinzip ist, weil es die Interessen der Gemeinde nicht berücksichtigt, sondern das finanzielle Wohlergehen administrativ-bürokratischer Strukturen priorisiert. Nehmen wir an, eine Gemeinde hat nicht die Mittel zusammengetragen, um ihre eigenen Ausgaben zu decken. Aber den Bischof und den Patriarchen kümmert das überhaupt nicht, der Kirchenvorsteher muss die Zahlung an die Eparchie leisten, sonst verliert er einfach seinen Posten. Faktisch heißt das, dass das Kriterium für einen würdigen Hirtendienst nicht die Arbeit mit den Menschen ist, sondern die Fähigkeit, die „Kirchensteuer“ auch dann zu bezahlen, wenn die Gemeindekasse leer ist. Das hat dazu geführt, dass die orthodoxen Gemeinden in Russland ein völlig intransparentes Buchhaltungssystem haben. Der Vorsteher ist genötigt, nicht nur eine doppelte, sondern eine dreifache Buchhaltung zu führen! Eine Abrechnung schreibt er für die staatliche Steuerbehörde, die zweite gibt der Geistliche seinem Bischof ab und die dritte schließlich ist für ihn selbst. Natürlich stehen nur in der dritten Abrechnung die realen Zahlen.
Im Wissen darum hat Patriarch Kirill eine „harte Optimierung“ der Kirchensteuer durchgeführt: jetzt zahlen die Kirchen in Moskau und Umgebung sowie in einer Reihe großer Städte nicht einen Prozentsatz, sondern eine fixe Summe. Einige Geistliche scherzen, dass ihr Dienst eher an ein „Franchise“-System erinnert: sie erhalten eine Verkaufsstelle (die Kirche) und Firmenbekleidung (Talar und Kreuz) und im Gegenzug erhebt der Bischof monatliche Zahlungen.
Das Budget der ROK ist undurchsichtig. Niemand weiß – wie viel kostet der Unterhalt eines Bischofs? Wie viel kostet der Unterhalt eines Metropoliten? Wie viel kostet die Kirche der Unterhalt des Patriarchen? Diese Zahlen hat nie jemand bekanntgegeben. Leider gibt das Grund zur Annahme, dass das jetzige Kirchensystem zutiefst korrumpiert ist. Ich habe mehr als einmal gehört, dass Bischöfe das von den Gemeinden eingezogene Geld als ihr eigenes Geld betrachten.
Das dritte Problem ist schließlich das harte soziale Klassensystem der Geistlichen. So etwas gab es in der Geschichte der russischen Kirche nie zuvor. Es gibt bettelarme Priester in Dörfern und sehr reiche Vorsteher von Gemeindekirchen und von Klöstern in Millionenstädten. Erstere können wie erwähnt 100 Euro erhalten, letztere aber 3000 bis 4000 Euro im Monat, das heißt 30 bis 40 Mal mehr! Und das Moskauer Patriarchat tut nichts, um diese Diskrepanz zu mildern.
Wie finanziert sich generell die ROK und woher stammen ihre Mittel?
Das Finanzierungssystem der ROK zu beschreiben ist ziemlich schwierig, da es sehr ungewöhnlich ist. Der erste Teil der Einkünfte sind Opfergaben der Gemeindemitglieder; dazu können auch der Verkauf von Kerzen und Prosphoren gezählt werden.
Der zweite Teil stammt aus dem Verkauf von Büchern, Ikonen und verschiedenen „orthodoxen Souvenirs“. Oft muss der Geistliche diese ganzen Produkte nicht bei den Herstellern, sondern im Lager der Eparchie zu einem erhöhten Preis kaufen. Mit anderen Worten, hier ist noch eine eparchiale Steuer eingebettet. Diesen Einnahmenposten gibt es nur in Städten oder Orten mit vielen Pilgern. In den übrigen Fällen tendieren diese Einkünfte gegen Null.
Der dritte Teil sind Kasualien. Für Taufe, Hochzeit, Aussegnung (Begräbnisfeier), das Segnen von Büro, Wohnung oder Auto erwartet der Priester, dass er bezahlt wird. Da es sich dabei offiziell nicht um eine Bezahlung als solche handelt, sondern um eine Spende, ist ein neues Verständnis davon aufgetaucht: die „empfohlene Spende“. Das bedeutet, dass der Geistliche die Kasualien bei weitem nicht immer für eine mindere Summe leistet. Wenn sie in der Kirche stattfindet, dann wird die Opfergabe zwischen der Gemeinde und dem Priester geteilt. Wenn sie außerhalb der Kirche stattfindet, dann kann der Priester den ganzen Betrag für sich behalten. Und für viele Priester ist das ein sehr substanzieller, wenn nicht der wesentliche Einnahmenposten.
Der vierte Einnahmenposten sind schließlich Spenden von Sponsoren. Nicht alle Gemeinden haben solche Wohltäter, aber in der Regel sind es gerade sie, die im Gemeindebudget „Löcher stopfen“ und das Geld für die Bezahlung der „Kirchensteuer“ finden.
Ich denke, aus dem Gesagten wird klar, warum die Pandemie sich so schmerzhaft auf die Einkünfte von Geistlichen und Gemeinden auswirkt: wenn die Kirche zu ist und keine Gottesdienste durchgeführt werden, dann gibt es auch keine Einkünfte.
Was für Strategien oder Ideen gibt es bezüglich der Finanzierung für die Zukunft?
Leider ist von keinerlei Strategien für die Zukunft die Rede. Der Patriarch und viele Bischöfe handeln ausschließlich situativ. Ja, sie sind den Geistlichen entgegengekommen und haben die „Kirchensteuer“ für April, Mai und Juni erlassen. Zudem hat der Patriarch den verheirateten Geistlichen in Moskau versprochen, sie materiell zu unterstützen. Es heißt, die Unterstützung könnte rund 1300 Euro pro Person betragen. Doch das ist wiederum eine einmalige Zahlung und sie betrifft nur ca. 1500 Moskauer Priester und Diakone.
Es ist offensichtlich, dass die Bischöfe nicht daran interessiert sind, das entstandene Finanzierungssystem zu ändern, aber ich höre immer öfter von Geistlichen, dass sie so nicht mehr weiterleben können. Die Gemeinde muss die Priorität werden, der Bischof und die eparchiale Administration sind ein Überbau, sie sollten nach einem Restmittelprinzip finanziert werden. Aber das sind bisher nur Gespräche, ich würde sogar sagen nur Träume. Aber es ist möglich, dass nach der Pandemie die Stimmen, die ein Überdenken des Systems der Kirchenfinanzierung fordern, lauter werden.
Sergej Tschapnin, ehemaliger Hauptredakteur des „Journals des Moskauer Patriarchats“.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
Bild: Die Maria-Entschlafens-Kathedrale des Dreifaltigkeitsklosters von Sergijev Posad, einem beliebten Pilgerziel in der Nähe von Moskau. (© Stefan Kube)