Alexej Beglov zum Landeskonzil 1917-1918
30. August 2017
Im Zuge der Russischen Revolution 1917 kam es auch zu einer „Kirchenrevolution“ in Russland. Was ist damit gemeint? Und was waren ihre Ursachen?
Wenn Forscher heute von der „Kirchenrevolution“ von 1917 sprechen, meinen sie damit nicht die Beteiligung der Kirche am revolutionären Umsturz – dabei ist sie lediglich dem allgemeinen Lauf der Ereignisse im Land gefolgt – sondern die Revolution in der Kirche. Die Ereignisse von Februar/März 1917 zogen das Niederreißen der alten Ordnung und die Zerstörung des ganzen früheren Systems staatlicher Macht nach sich. Davon konnte die Russische Kirche nicht unberührt bleiben; die Russische Revolution brachte der Kirche die „Kirchenrevolution“, bei der esvier Aspekte zu unterscheiden gilt.
Erstens, die Krise der zentralen Kirchenleitung, hervorgerufen durch die Konfrontation mit der neuen Macht in Person des „revolutionären Oberprokurors“ Vladimir N. Lvov. Der von der Provisorischen Regierung zum Oberprokuror des Hl. Synods ernannte Lvov beanspruchte die Rolle eines „Kirchendiktators“, denn er hielt es für notwendig, das Episkopat von „rasputinschen Schützlingen“ zu „säubern“, und bemühte sich, seiner Meinung nach nicht genug revolutionäre Bischöfe abzusetzen. Analoge Begegnungen der Kirche mit der neuen Macht fanden auch auf dem Land statt. Aber das war nur die obere Ebene der „Kirchenrevolution“.
Der zweite Aspekt waren Konflikte zwischen Priestern und Bischöfen. In einer Reihe von Eparchien forderten die Geistlichen die Entfernung von Bischöfen oder vertrieben sie sogar gleich selbst. Dabei handelte es sich oft um die Tat einer vergleichsweise kleinen Gruppe Unzufriedener.
Drittens kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb des Priesterstands, u. a. gab es Konflikte zwischen Diakonen und Lektoren mit Priestern und Erzpriestern. Die jüngeren Mitglieder des Klerus konnten viele Wahlämter in den Organen der Ständeselbstverwaltung nicht erhalten, weil sie den Priestern zukamen, bei der Verteilung der Opfergaben erhielten sie den kleineren Teil. Die Diakone und Lektoren verlangten daher eine Milderung dieser Ungleichheit. Dazu kamen Konflikte des ländlichen Klerus mit städtischen Geistlichen.
Schließlich war die „Gemeinderevolution“ die verbreitetste Erscheinung der „Kirchenrevolution“: Aufstände der Gemeinden, besonders in den Dörfern, gegen das alte System der Eparchial- und Gemeindeverwaltung sowie gegen unbeliebte Priester. Schon im März und April 1917 drückte sich dieser Aufstand faktisch in der Verweigerung des finanziellen Unterhalts für die Geistlichen aus. Die Gemeindeglieder, insbesondere die Bauern, nahmen das den Geistlichen zugeteilte Land weg, setzten äußerst niedrige Tarife für die Bezahlung ihrer Grundbedürfnisse an, weigerten sich, Mittel für die Bedürfnisse der Eparchie abzugeben und vertrieben unliebsame Priester und wählten neue. Die Gemeindeglieder begannen auch, die Kirchen und den Gemeindebesitz selbstständig zu verwalten, was früher in der Kompetenz des Klerus gelegen hatte.
Die Hauptursache dieser Ereignisse waren soziale und ökonomische Gegensätze, die in den kirchlichen Bereich hineinspielten. Gegensätze innerhalb des geistlichen Standes riefen Konflikte zwischen den Priestern und Bischöfen und unter den Priestern hervor: der Protest des weißen (verheirateten) Klerus gegen das Mönchsepiskopat sowie die Benachteiligung der jüngeren Geistlichen. Der Protest der Gemeindeglieder entsprang einem Gefühl der Rechtlosigkeit in kirchlichen Angelegenheiten, der Ungerechtigkeit in der Verteilung der Kirchengüter, wenn ihre Opfergaben für die Ständebedürfnisse der Geistlichen verwendet wurden, und der Entfremdung vom Klerus. Dabei wurde die Frage nach einer Ausweitung der Rechte der Gemeinden hinsichtlich des Eigentums von Kirche und Gemeinde und nach der Wählbarkeit der Gemeindepriester bereits seit den 1860-er Jahren diskutiert, wurde jedoch bis zur Revolution 1917 nicht gelöst. Nun übernahmen die Gemeindeglieder eigenmächtig die Macht in den Gemeinden.
Was waren die Themen des Landeskonzils und wer durfte daran teilnehmen?
Das kirchliche Landeskonzil 1917–1918 verstand sich als außerordentliches Ereignis in der Geschichte Russlands und der Russischen Kirche, als kirchliche konstituierende Versammlung, berufen die kanonische Struktur der Russischen Kirche in der neuen Situation aufzubauen. Deshalb war auch seine Zusammensetzung außergewöhnlich: Die Teilnehmer repräsentierten die ganze Russische Kirche und sogar ganz Russland. Entsprechend speziellen Quoten waren Plätze für orthodoxe Vertreter der staatlichen Institutionen, der Armee, der Universitäten und Akademien reserviert. Besondere Plätze wurden den Vertretern der Klöster zugeteilt. Die große Masse der Teilnehmer bildeten jedoch die Delegationen aus den Eparchien, zu denen zwingend der Bischof der Eparchie sowie zwei Geistliche und drei Laien gehörten, die an der Eparchieversammlung gewählt worden waren. Von den 564 Mitgliedern des Konzils bildeten die Bischöfe 14 Prozent, die Mönche (aber nicht Bischöfe) rund vier Prozent, die weiße Geistlichkeit ca. ein Drittel und die Laien etwas mehr als die Hälfte. Das Konzil erwies sich als sichtbare Verwirklichung der Einheit der ganzen Kirche, aller kirchlichen Gruppen.
Die vom Konzil behandelten Themen waren außerordentlich vielfältig. Man kann sagen, dass es kein Problem des kirchlichen Lebens gab, das vom Konzil im Laufe der Diskussionen nicht berührt worden wäre. Im Rahmen des Konzils wurden 23 spezialisierte thematische Abteilungen gebildet, die sich mit der Erarbeitung konkreter Fragen und entsprechender Dokumente beschäftigten. Im besonderen wurden Abteilungen zur Kirchenleitung auf höchster und eparchialer Ebene, zum Kirchengericht, zur Ausstattung der Gemeinden, zur rechtlichen Situation der Kirche im Staat, zur kirchlichen Disziplin, zur inneren und äußeren Mission, zu Liturgie, Predigt und Kirche, zu Klöstern und Orden, zu geistlichen Bildungsstätten sowie zum kirchlichen Eigentum und Wirtschaft gebildet.
Wenn man über die wichtigsten Entscheidungen des Konzils spricht, muss man natürlich als erstes die Wiederherstellung des Patriarchats nennen. Diese Entscheidung wurde am 28. Oktober (11. November) 1917 getroffen. Dabei wurde das Patriarchat gemeinsam mit dem synodalen Aufbau der Russischen Kirche eingerichtet: die höchste Macht innerhalb der Kirche wurde dem Landeskonzil zugesprochen und der Patriarch als diesem rechenschaftspflichtig bestimmt. Die zweitwichtigste Frage war das Verhältnis zum russischen Staat. Das entsprechende Dokument nahm das Konzil am 2. Dezember 1917 an. Es wurde ein Konkordat zwischen der Kirche und dem Staat vorgeschlagen, wonach der Staat den besonderen Status der Orthodoxen Kirche in Russland anerkenne, aber gleichzeitig auch ihre innere Selbstständigkeit. Natürlich wurden diese Pläne von der folgenden Politik der Bolschewiken zunichte gemacht.
Im Frühling 1918 verabschiedete das Konzil die Bestimmung zur Leitung der Eparchien, die Gemeindestatuten – das umfassendste vom Konzil angenommene Dokument, die Bestimmung über die Ehescheidung, über die Mission und geistliche Mittelschulen. Dabei musste das Konzil ständig auf antikirchliche Aktionen der an die Macht gekommenen Bolschewiken reagieren, die im Januar 1918 den Besitz aller religiösen Organisationen des Landes verstaatlichten, darunter auch die Kirchen. Dies wurde von den Gläubigen als Sakrileg aufgefasst. Das Konzil rief die Gläubigen der Russischen Kirche zum zivilen Ungehorsam gegen die neuen Machthaber auf, aber zugleich bildete es eine besondere Delegation mit der Aufgabe, mit den bolschewistischen Behörden zu verhandeln und ihre Vertreter davon zu überzeugen, ihre antireligiöse Politik aufzugeben.
Das Landeskonzil setzte seine Arbeit im Sommer und Herbst 1918 fort. Dann wurden insbesondere die Bestimmungen zum Wahlverfahren des Patriarchen, zum Verweser des Patriarchenstuhls, zur Kirchenleitung in der Ukraine und zum Einbezug von Frauen in den kirchlichen Dienst verabschiedet. Aber unter den Bedingungen des beginnenden Bürgerkriegs beendete das Konzil seine Arbeit nicht, sondern übergab eine Reihe von durch die Abteilungen vorbereiteten, aber nicht von der Plenarversammlung angenommenen Dokumente dem Ermessen der höheren Kirchenleitung.
Was waren die Resultate des Landeskonzils? Und wie werden diese und das Konzil aus heutiger Sicht beurteilt?
Viele Entscheide des Konzils von 1917–1918 wurden nicht umgesetzt. Beispielsweise blieben die sorgfältig ausgearbeiteten Gemeindestatuten, die 1918 verabschiedet und gedruckt wurden, unter den Bedingungen des Bürgerkriegs in vielen Eparchien der Russischen Kirche unbekannt. Einige Konzilsentscheidungen, insbesondere im Bereich der Kirchenleitung auf der höchsten und Eparchieebene, bestanden während der 1920-er Jahre, wurden aber von den Repressionen der 1930er Jahre weggefegt. Eigentlich hat lediglich das Patriarchat die bolschewistischen Verfolgungen überlebt, obwohl sich auch dieses im Vergleich dazu, wie es vom Landeskonzil gedacht war, veränderte. Da die Kirche keine regelmäßigen Konzile einberufen konnte, erhielten die Patriarchen deutlich größere Kompetenzen, als dies in den Konzilsdokumenten vorgesehen war.
Doch das Hauptresultat des Landeskonzils besteht darin, dass es ein einzigartiger kirchlicher schöpferischer Akt war: die Konzilsteilnehmer bemühten sich, kanonische und dabei zeitgemäße Formen des kirchlichen Lebens zu schaffen, Formen, die den Geist der Orthodoxen Kirche in sich getragen hätten und dabei auf die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft eingegangen wären.
Sie sind an einem Projekt zur Edition der Konzilsdokumente beteiligt, was bedeutet das für die Erforschung des Landeskonzils?
Das Konzil maß der Bekanntmachung seiner Entscheidungen große Bedeutung bei. 1918 wurden die Stenogramme der ersten und teilweise der zweiten Session des Konzil herausgegeben sowie der Sammelband „Bestimmungen und Beschlüsse“, also die grundlegenden kirchlichen legislativen Akte, die das Konzil verabschiedet hatte. Doch die weitere Publikation der Konzilsunterlagen war aus verständlichen Gründen unmöglich. Glücklicherweise wurde das Archiv des Konzils dank der selbstlosen Bemühungen einiger Vertreter des Konzilsapparats bewahrt und befindet sich heute im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation. Im Rahmen des Projekts zur wissenschaftlichen Publikation der Konzilsdokumente stellt sich heute die Aufgabe, den ganzen erhaltenen Korpus der Konzilsunterlagen nach zeitgenössischen wissenschaftlichen Kriterien zu veröffentlichen. Dieses Projekt wird vom Moskauer Novospasskij-Männerkloster unter der Leitung von Bischof Savva (Michejev) von Voskresensk unter Mitwirkung weltlicher und kirchlicher Forscher umgesetzt. Es werden bisher unpublizierte Dokumente der Konzilsabteilungen veröffentlicht, darunter Briefe, die bezüglich eines Problems an das Konzil gerichtet wurden. Diese Briefe sind wertvolle historische Quellen, da sie den Zustand der russischen kirchlichen Gesellschaft zur Zeit des revolutionären Umbruchs abbilden. Die Stenogramme der Plenarsitzungen – teilweise 1918 abgedruckt – werden von uns unter Einbezug zuvor unpublizierter Archivmaterialien herausgegeben. Jeder Band ist mit einer wissenschaftlichen Einleitung und Kommentaren versehen, die dem heutigen Leser die Bedeutung der Arbeit der betreffenden Konzilsabteilungen erschließen. Insgesamt sind gemäß unserer Einschätzung 90 Prozent der Dokumente, die in unserer Ausgabe enthalten sein werden, bisher nicht publiziert worden. Zudem arbeiten wir an der Sammlung ergänzender Materialien, insbesondere ist die Publikation eines Bandes mit den Biographien aller Konzilsmitglieder, mit Pressematerialien von 1917–1918, die sich mit dem Konzil beschäftigen, sowie mit Erinnerungen von Zeitgenossen an die Konzilsarbeit geplant. Wir hoffen, dass die Realisierung dieses Projektes das Erbe des Konzils in seiner Gesamtheit einem breiten Kreis von Lesern zugänglich macht sowie eine tiefere Erforschung der Konzilsarbeit, über die ich weiter oben berichtet habe, ermöglicht.
Dr. Alexej Beglov ist Senior Researcher am Institut für Weltgeschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Dozent an der Nationale Nuklearforschungsuniversität (MEPhl) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Redaktionsrats zur Publikation der Konzilsdokumente 1917–1918.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.
Wenn Forscher heute von der „Kirchenrevolution“ von 1917 sprechen, meinen sie damit nicht die Beteiligung der Kirche am revolutionären Umsturz – dabei ist sie lediglich dem allgemeinen Lauf der Ereignisse im Land gefolgt – sondern die Revolution in der Kirche. Die Ereignisse von Februar/März 1917 zogen das Niederreißen der alten Ordnung und die Zerstörung des ganzen früheren Systems staatlicher Macht nach sich. Davon konnte die Russische Kirche nicht unberührt bleiben; die Russische Revolution brachte der Kirche die „Kirchenrevolution“, bei der esvier Aspekte zu unterscheiden gilt.
Erstens, die Krise der zentralen Kirchenleitung, hervorgerufen durch die Konfrontation mit der neuen Macht in Person des „revolutionären Oberprokurors“ Vladimir N. Lvov. Der von der Provisorischen Regierung zum Oberprokuror des Hl. Synods ernannte Lvov beanspruchte die Rolle eines „Kirchendiktators“, denn er hielt es für notwendig, das Episkopat von „rasputinschen Schützlingen“ zu „säubern“, und bemühte sich, seiner Meinung nach nicht genug revolutionäre Bischöfe abzusetzen. Analoge Begegnungen der Kirche mit der neuen Macht fanden auch auf dem Land statt. Aber das war nur die obere Ebene der „Kirchenrevolution“.
Der zweite Aspekt waren Konflikte zwischen Priestern und Bischöfen. In einer Reihe von Eparchien forderten die Geistlichen die Entfernung von Bischöfen oder vertrieben sie sogar gleich selbst. Dabei handelte es sich oft um die Tat einer vergleichsweise kleinen Gruppe Unzufriedener.
Drittens kam es zu Auseinandersetzungen innerhalb des Priesterstands, u. a. gab es Konflikte zwischen Diakonen und Lektoren mit Priestern und Erzpriestern. Die jüngeren Mitglieder des Klerus konnten viele Wahlämter in den Organen der Ständeselbstverwaltung nicht erhalten, weil sie den Priestern zukamen, bei der Verteilung der Opfergaben erhielten sie den kleineren Teil. Die Diakone und Lektoren verlangten daher eine Milderung dieser Ungleichheit. Dazu kamen Konflikte des ländlichen Klerus mit städtischen Geistlichen.
Schließlich war die „Gemeinderevolution“ die verbreitetste Erscheinung der „Kirchenrevolution“: Aufstände der Gemeinden, besonders in den Dörfern, gegen das alte System der Eparchial- und Gemeindeverwaltung sowie gegen unbeliebte Priester. Schon im März und April 1917 drückte sich dieser Aufstand faktisch in der Verweigerung des finanziellen Unterhalts für die Geistlichen aus. Die Gemeindeglieder, insbesondere die Bauern, nahmen das den Geistlichen zugeteilte Land weg, setzten äußerst niedrige Tarife für die Bezahlung ihrer Grundbedürfnisse an, weigerten sich, Mittel für die Bedürfnisse der Eparchie abzugeben und vertrieben unliebsame Priester und wählten neue. Die Gemeindeglieder begannen auch, die Kirchen und den Gemeindebesitz selbstständig zu verwalten, was früher in der Kompetenz des Klerus gelegen hatte.
Die Hauptursache dieser Ereignisse waren soziale und ökonomische Gegensätze, die in den kirchlichen Bereich hineinspielten. Gegensätze innerhalb des geistlichen Standes riefen Konflikte zwischen den Priestern und Bischöfen und unter den Priestern hervor: der Protest des weißen (verheirateten) Klerus gegen das Mönchsepiskopat sowie die Benachteiligung der jüngeren Geistlichen. Der Protest der Gemeindeglieder entsprang einem Gefühl der Rechtlosigkeit in kirchlichen Angelegenheiten, der Ungerechtigkeit in der Verteilung der Kirchengüter, wenn ihre Opfergaben für die Ständebedürfnisse der Geistlichen verwendet wurden, und der Entfremdung vom Klerus. Dabei wurde die Frage nach einer Ausweitung der Rechte der Gemeinden hinsichtlich des Eigentums von Kirche und Gemeinde und nach der Wählbarkeit der Gemeindepriester bereits seit den 1860-er Jahren diskutiert, wurde jedoch bis zur Revolution 1917 nicht gelöst. Nun übernahmen die Gemeindeglieder eigenmächtig die Macht in den Gemeinden.
Was waren die Themen des Landeskonzils und wer durfte daran teilnehmen?
Das kirchliche Landeskonzil 1917–1918 verstand sich als außerordentliches Ereignis in der Geschichte Russlands und der Russischen Kirche, als kirchliche konstituierende Versammlung, berufen die kanonische Struktur der Russischen Kirche in der neuen Situation aufzubauen. Deshalb war auch seine Zusammensetzung außergewöhnlich: Die Teilnehmer repräsentierten die ganze Russische Kirche und sogar ganz Russland. Entsprechend speziellen Quoten waren Plätze für orthodoxe Vertreter der staatlichen Institutionen, der Armee, der Universitäten und Akademien reserviert. Besondere Plätze wurden den Vertretern der Klöster zugeteilt. Die große Masse der Teilnehmer bildeten jedoch die Delegationen aus den Eparchien, zu denen zwingend der Bischof der Eparchie sowie zwei Geistliche und drei Laien gehörten, die an der Eparchieversammlung gewählt worden waren. Von den 564 Mitgliedern des Konzils bildeten die Bischöfe 14 Prozent, die Mönche (aber nicht Bischöfe) rund vier Prozent, die weiße Geistlichkeit ca. ein Drittel und die Laien etwas mehr als die Hälfte. Das Konzil erwies sich als sichtbare Verwirklichung der Einheit der ganzen Kirche, aller kirchlichen Gruppen.
Die vom Konzil behandelten Themen waren außerordentlich vielfältig. Man kann sagen, dass es kein Problem des kirchlichen Lebens gab, das vom Konzil im Laufe der Diskussionen nicht berührt worden wäre. Im Rahmen des Konzils wurden 23 spezialisierte thematische Abteilungen gebildet, die sich mit der Erarbeitung konkreter Fragen und entsprechender Dokumente beschäftigten. Im besonderen wurden Abteilungen zur Kirchenleitung auf höchster und eparchialer Ebene, zum Kirchengericht, zur Ausstattung der Gemeinden, zur rechtlichen Situation der Kirche im Staat, zur kirchlichen Disziplin, zur inneren und äußeren Mission, zu Liturgie, Predigt und Kirche, zu Klöstern und Orden, zu geistlichen Bildungsstätten sowie zum kirchlichen Eigentum und Wirtschaft gebildet.
Wenn man über die wichtigsten Entscheidungen des Konzils spricht, muss man natürlich als erstes die Wiederherstellung des Patriarchats nennen. Diese Entscheidung wurde am 28. Oktober (11. November) 1917 getroffen. Dabei wurde das Patriarchat gemeinsam mit dem synodalen Aufbau der Russischen Kirche eingerichtet: die höchste Macht innerhalb der Kirche wurde dem Landeskonzil zugesprochen und der Patriarch als diesem rechenschaftspflichtig bestimmt. Die zweitwichtigste Frage war das Verhältnis zum russischen Staat. Das entsprechende Dokument nahm das Konzil am 2. Dezember 1917 an. Es wurde ein Konkordat zwischen der Kirche und dem Staat vorgeschlagen, wonach der Staat den besonderen Status der Orthodoxen Kirche in Russland anerkenne, aber gleichzeitig auch ihre innere Selbstständigkeit. Natürlich wurden diese Pläne von der folgenden Politik der Bolschewiken zunichte gemacht.
Im Frühling 1918 verabschiedete das Konzil die Bestimmung zur Leitung der Eparchien, die Gemeindestatuten – das umfassendste vom Konzil angenommene Dokument, die Bestimmung über die Ehescheidung, über die Mission und geistliche Mittelschulen. Dabei musste das Konzil ständig auf antikirchliche Aktionen der an die Macht gekommenen Bolschewiken reagieren, die im Januar 1918 den Besitz aller religiösen Organisationen des Landes verstaatlichten, darunter auch die Kirchen. Dies wurde von den Gläubigen als Sakrileg aufgefasst. Das Konzil rief die Gläubigen der Russischen Kirche zum zivilen Ungehorsam gegen die neuen Machthaber auf, aber zugleich bildete es eine besondere Delegation mit der Aufgabe, mit den bolschewistischen Behörden zu verhandeln und ihre Vertreter davon zu überzeugen, ihre antireligiöse Politik aufzugeben.
Das Landeskonzil setzte seine Arbeit im Sommer und Herbst 1918 fort. Dann wurden insbesondere die Bestimmungen zum Wahlverfahren des Patriarchen, zum Verweser des Patriarchenstuhls, zur Kirchenleitung in der Ukraine und zum Einbezug von Frauen in den kirchlichen Dienst verabschiedet. Aber unter den Bedingungen des beginnenden Bürgerkriegs beendete das Konzil seine Arbeit nicht, sondern übergab eine Reihe von durch die Abteilungen vorbereiteten, aber nicht von der Plenarversammlung angenommenen Dokumente dem Ermessen der höheren Kirchenleitung.
Was waren die Resultate des Landeskonzils? Und wie werden diese und das Konzil aus heutiger Sicht beurteilt?
Viele Entscheide des Konzils von 1917–1918 wurden nicht umgesetzt. Beispielsweise blieben die sorgfältig ausgearbeiteten Gemeindestatuten, die 1918 verabschiedet und gedruckt wurden, unter den Bedingungen des Bürgerkriegs in vielen Eparchien der Russischen Kirche unbekannt. Einige Konzilsentscheidungen, insbesondere im Bereich der Kirchenleitung auf der höchsten und Eparchieebene, bestanden während der 1920-er Jahre, wurden aber von den Repressionen der 1930er Jahre weggefegt. Eigentlich hat lediglich das Patriarchat die bolschewistischen Verfolgungen überlebt, obwohl sich auch dieses im Vergleich dazu, wie es vom Landeskonzil gedacht war, veränderte. Da die Kirche keine regelmäßigen Konzile einberufen konnte, erhielten die Patriarchen deutlich größere Kompetenzen, als dies in den Konzilsdokumenten vorgesehen war.
Doch das Hauptresultat des Landeskonzils besteht darin, dass es ein einzigartiger kirchlicher schöpferischer Akt war: die Konzilsteilnehmer bemühten sich, kanonische und dabei zeitgemäße Formen des kirchlichen Lebens zu schaffen, Formen, die den Geist der Orthodoxen Kirche in sich getragen hätten und dabei auf die Bedürfnisse der modernen Gesellschaft eingegangen wären.
Sie sind an einem Projekt zur Edition der Konzilsdokumente beteiligt, was bedeutet das für die Erforschung des Landeskonzils?
Das Konzil maß der Bekanntmachung seiner Entscheidungen große Bedeutung bei. 1918 wurden die Stenogramme der ersten und teilweise der zweiten Session des Konzil herausgegeben sowie der Sammelband „Bestimmungen und Beschlüsse“, also die grundlegenden kirchlichen legislativen Akte, die das Konzil verabschiedet hatte. Doch die weitere Publikation der Konzilsunterlagen war aus verständlichen Gründen unmöglich. Glücklicherweise wurde das Archiv des Konzils dank der selbstlosen Bemühungen einiger Vertreter des Konzilsapparats bewahrt und befindet sich heute im Staatlichen Archiv der Russischen Föderation. Im Rahmen des Projekts zur wissenschaftlichen Publikation der Konzilsdokumente stellt sich heute die Aufgabe, den ganzen erhaltenen Korpus der Konzilsunterlagen nach zeitgenössischen wissenschaftlichen Kriterien zu veröffentlichen. Dieses Projekt wird vom Moskauer Novospasskij-Männerkloster unter der Leitung von Bischof Savva (Michejev) von Voskresensk unter Mitwirkung weltlicher und kirchlicher Forscher umgesetzt. Es werden bisher unpublizierte Dokumente der Konzilsabteilungen veröffentlicht, darunter Briefe, die bezüglich eines Problems an das Konzil gerichtet wurden. Diese Briefe sind wertvolle historische Quellen, da sie den Zustand der russischen kirchlichen Gesellschaft zur Zeit des revolutionären Umbruchs abbilden. Die Stenogramme der Plenarsitzungen – teilweise 1918 abgedruckt – werden von uns unter Einbezug zuvor unpublizierter Archivmaterialien herausgegeben. Jeder Band ist mit einer wissenschaftlichen Einleitung und Kommentaren versehen, die dem heutigen Leser die Bedeutung der Arbeit der betreffenden Konzilsabteilungen erschließen. Insgesamt sind gemäß unserer Einschätzung 90 Prozent der Dokumente, die in unserer Ausgabe enthalten sein werden, bisher nicht publiziert worden. Zudem arbeiten wir an der Sammlung ergänzender Materialien, insbesondere ist die Publikation eines Bandes mit den Biographien aller Konzilsmitglieder, mit Pressematerialien von 1917–1918, die sich mit dem Konzil beschäftigen, sowie mit Erinnerungen von Zeitgenossen an die Konzilsarbeit geplant. Wir hoffen, dass die Realisierung dieses Projektes das Erbe des Konzils in seiner Gesamtheit einem breiten Kreis von Lesern zugänglich macht sowie eine tiefere Erforschung der Konzilsarbeit, über die ich weiter oben berichtet habe, ermöglicht.
Dr. Alexej Beglov ist Senior Researcher am Institut für Weltgeschichte an der Russischen Akademie der Wissenschaften, Dozent an der Nationale Nuklearforschungsuniversität (MEPhl) sowie Mitglied des wissenschaftlichen Redaktionsrats zur Publikation der Konzilsdokumente 1917–1918.
Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.