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Das Kreuz von Abel und das Kreuz von Kain sind verschiedene Kreuze

20. April 2022

Myroslav Marynovych

Wenn der Krieg nicht wäre, wäre es interessant, die verschiedenen ukrainischen Reaktionen auf die neue vatikanische Initiative zur Förderung der Versöhnung zwischen Ukrainern und Russen zu verfolgen. In diesen Reaktionen spiegeln sich aufrichtiger Schmerz, Empörung, Totenstille und konfessionelle Komplexe wider. Aber auch das Gefühl, dass die Ukraine sowie ihre Wunden und Hoffnungen für viele ferngeblieben und sogar zu einem wahren Stolperstein geworden sind…

Die Rede ist von dem Kreuzweg, den der Heilige Vater im Kolosseum in Rom am 15. April 2022 anführt. Laut der Planung des Vatikans wird das Kreuz während der 13. Station des Kreuzwegs, die den Tod Jesu am Kreuz reflektiert, von einer Ukrainerin und einer Russin getragen, die zusammen in einem italienischen Krankenhaus arbeiten. Und der vorgesehene Text lautet unter anderem: „Gott, wo bist Du? Sprich in der Stille des Todes und der Trennung und lehre uns, Frieden zu schließen, Brüder und Schwestern zu sein, wieder aufzubauen, was die Bomben zerstören möchten.“

Dieser Versuch einer sofortigen Versöhnung der beiden Völker hat viele Ukrainer empört. Die Drehbuchautoren dieser Handlung verfolgen sicherlich keine böse Absicht, doch spiegelt sich in ihrer Position die Unfähigkeit wider, die Umstände dieses Krieges von innen zu sehen und nicht nur von außerhalb. Ihre Haltung unterscheidet sich wenig von einem italienischen Katholiken, der mich kürzlich fragte: „Wir wussten immer, dass Ukrainer und Russen Brüder sind. Was ist geschehen? Warum haben sie angefangen gegeneinander zu kämpfen?“ Auch der Text des Vatikans enthält die sakramentalen Worte, „Brüder und Schwestern zu sein“. (Ich weise daraufhin, dass diese Worte in einem christlichen Sinne verständlich sind, aber dass sie während des Krieges zu sehr an die erfundene These der sowjetischen/russischen Propaganda von den „Brudervölkern“ erinnern.)

Wir kennen einen anderen Text, der ebenfalls zwei Brüder erwähnt (Gen 4,8-15): „Da sprach Kain zu seinem Bruder Abel: Lass uns aufs Feld gehen! Und es begab sich, als sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.“ Wie reagierte Gott darauf? Wir lesen: „Und der Herr sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Verflucht seist du nun auf der Erde, die ihr Maul aufgetan und deines Bruders Blut von deinen Händen empfangen hat. Wenn du den Erdboden bearbeitest, wird er dir keinen Ertrag mehr bringen. Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein.“ Wir sehen, die Antwort des Herrn war weder milde noch politisch korrekt. Mindestens zwei Punkte sind hier wichtig: Zuerst sehen wir Gottes Bereitschaft, die Stimme des Opfers zu hören: „Die Stimme des Blutes deines Bruders schreit zu mir von der Erde.“ Zweitens erkennt der Herr das Verdienst der Verfluchung an, die auf den Verbrecher fällt. Wenn die Seele des ermordeten Abel diese Worte Gottes hört, kann sie sicher spüren, dass sie gerecht sind.

Aus diesem Grund spüren die Ukrainer keine Gerechtigkeit, wenn sie die Worte von Papst Franziskus hören, die sie dieser Tage erreichen. Weil der Papst erklärt, dass es Opfer gibt und sie in einer pastoralen Weise beklagt, aber nicht zu Putin sagen kann: „Hier ist die Stimme des Blutes deines Bruders, das von der Erde zu mir schreit.“ Und ohne den Verbrecher beim Namen zu nennen, hinterlässt der Papst den Eindruck, dass er den Verbrecher von der verdienten Strafe zu trennen versucht.

Wie reagiert Kain auf die Situation? Auf die Frage „Wo ist Abel?“ lügt er und versucht Verantwortung zu vermeiden: „Ich weiß es nicht. Bin ich der Hüter meines Bruders?“ Und als ihm kein Ausweg mehr bleibt, beginnt Kain über die übertriebene Bestrafung zu klagen: „Meine Strafe ist zu schwer, als dass ich sie tragen könnte.“ Der neueste Kain, Putin, lügt noch immer und erfindet „angemessene“ Gründe für den Krieg gegen die Ukraine, die ihn aus der Verantwortung entlassen sollen. Doch wenn schreckliche Kriegsverbrechen dokumentiert und berichtet werden, und ihre Täter vor Gericht in Nürnberg II erscheinen, wird es eine Zeit geben zu klagen, dass „die Strafe zu schwer zum Tragen ist“.

Die russische Propaganda verbreitet freilich schon die Rede von der „Unvergleichbarkeit der Sanktionen“, welche die Herzen vieler europäischer Christen erweicht. Sie haben bereits Mitleid mit den Russen und versuchen sie vor Verantwortung und Strafe zu schützen. Sie sagen, dass Putin im Krieg sei – und nicht das russische Volk. Und daher sagen sie: Warum gute Russen bestrafen, die ebenfalls leiden? Ist es nicht für beiden Nationen besser, einander jetzt die Hände zu reichen? Diese Logik veranschaulicht das Szenario des diesjährigen Kreuzwegs des Vatikans. Der Priestermönch und Blogger Vater Justin (Boyko) reagierte vielleicht nicht in der eloquentesten Weise: „Jesus und Pilatus, Ukrainer und Russen, können das Kreuz nicht zugleich tragen.“ Man mag fragen: Wieso nicht? Meine Antwort lautet: „Weil das Kreuz von Abel (dem unschuldigen Opfer) und das Kreuz von Kain (der Reue des Täters) verschiedene Kreuze sind. Sie können nicht kombiniert werden, weil jeder, der Jesus nachfolgen will, sein eigenes Kreuz tragen muss (vgl. Mt 16,24). Die Ukrainer tragen bereits das erste Kreuz; die Russen müssen das zweite Kreuz noch auf ihre Schultern nehmen.

Der christliche Glaube lässt sich nicht auf ein gefühlsseliges Mitgefühl reduzieren, denn er muss gerecht sein. Mitfühlende Europäer müssen verstehen, dass sie den Russen einen Bärendienst erweisen, wenn sie sie aus der Verantwortung entlassen. Denn wenn das Verbrechen des russischen Staates in der Ukraine nicht als Sünde verstanden und durch Reue aus der Seele gebracht wird, wird dies unweigerlich zu einer noch schlimmeren Sünde führen. Die Russen wahrhaftig zu lieben bedeutet, ihnen das Ausmaß ihres Verbrechens zu offenbaren, ihnen zu ermöglichen, entsetzt zu sein über das, was sie getan haben, und ihre Seelen zu aufrichtiger Reue gegenüber Gott und den Menschen hinzuwenden. Erst nachdem die kollektive russische Seele über der Last der eigenen Verantwortung stolpert und Tränen der Reue vor den Opfern davonschwemmt, erst dann wird sie die Tür zur Zukunft öffnen.

Die Deutschen haben dies erst mehr als ein Jahrzehnt nach ihrer Niederlage im Zweiten Weltkrieg geschafft. Ob es den Russen gelingen wird – und wenn ja, wann –, wird die Zukunft zeigen. Wir glauben, dass der mutige Widerstand des ukrainischen Volkes und die internationale Solidarität mit der Ukraine diesen Tag näherbringen. Aber dies lässt sich sicherlich nicht durch übermäßig theatralische Inszenierungen erreichen, selbst wenn sie symbolisch sind. Sie fördern eine Versöhnung nicht nur nicht, sondern sie schädigen sie im Gegenteil. Deshalb bin ich dem Oberhaupt der Ukrainischen Griechisch-Katholischen Kirche, Seiner Seligkeit Svjatoslav (Schevtschuk), für seine Äußerung dankbar: „Ich halte diese Idee für unpassend und zweideutig, da sie den Kontext der militärischen Aggression Russlands gegen die Ukraine nicht berücksichtigt.“ Ich bin ebenfalls dem Apostolischen Nuntius, Visvaldas Kulbokas, dankbar, der erklärte: „Natürlich wissen wir, dass Versöhnung geschieht, wenn der Aggressor seine Schuld bekennt und um Verzeihung bittet.“

Die vatikanischen Kommentatoren haben recht, dass „Gut und Böse, Angreifer und Opfer unter dem Kreuz Jesu stehen“. Durch Sein Opfer hat er die Gerechten wie die Sünder erlöst. Fürwahr lässt „unser Vater im Himmel seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte (Mt 5,45). Daher ist das Kreuz Jesu eines. Aber unsere Kreuze, mit denen wir zu ihm gehen, sind verschieden: Für einige ist es das Kreuz des Opfers, für andere ist es das reuevolle Kreuz des Sünders. Und unsere Gewänder sind verschieden: die unschuldig Getöteten haben „weiße Gewänder“ (Apk 6,11) und ihre Mörder haben Blutflecken (Jes 59,3). Und obwohl die Liebe des Herrn eine ist, spricht Er zu uns unterschiedlich: zu den Opfern mit Mitleid und zu Tätern mit Strenge. Das ist die Bedeutung der göttlichen Gerechtigkeit. 

Myroslav Marynovych, Vizerektor der Ukrainischen Katholischen Universität in Lviv, Mitbegründer der ukrainischen Helsinki-Gruppe und von Amnesty International in der Ukraine. 

Aus dem Englischen übersetzt von Stefan Kube. Der Originaltext erschien am 13. April auf Ukrainisch und Englisch auf risu.ua.