ÖRK sollte ukrainische Orthodoxe an der Vollversammlung sichtbar machen
Interview mit Katharina Kunter
Der geschäftsführende Generalsekretär des ÖRK, Ioan Sauca, hat sowohl an Patriarch Kirill als auch an den russischen Präsidenten Vladimir Putin und den ukrainischen Präsidenten Volodymyr Zelenskyj geschrieben und ein sofortiges Ende der Kampfhandlungen angemahnt. Wie nehmen Sie das Agieren des Ökumenischen Rats der Kirchen (ÖRK) angesichts des Krieges in der Ukraine wahr?
Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat den eher russlandfreundlichen ÖRK ins Herz seines ökumenischen Selbstverständnisses getroffen. Es war daher ein Glücksfall, dass sich Metropolit Onufrij (Berezovskij) von Kiew und der ganzen Ukraine bereits am 24. Februar klar gegen den „Bruderkrieg“ positioniert hat. Denn Metropolit Onufrij gehört der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK) an, die als Teil der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) Mitglied des ÖRK ist. So konnte sich der ÖRK schon früh auf das Statement Onufrijs stützen und mit ihm den Krieg verurteilen – ohne damit allzu offensichtlich auf Konfrontationskurs zur ROK gehen zu müssen.
Die persönlich gehaltene Briefdiplomatie Saucas mit Briefen an die Präsidenten Putin und Zelenskyj sowie an Patriarch Kirill von der ROK war dagegen kirchenpolitisch weder besonders geschickt noch erfolgreich; im Gegenteil: In seinem Antwortbrief vom 10. März an den ÖRK verteidigte Kirill den Krieg demonstrativ im Sinne der russischen Propaganda, nach der der Westen und die NATO für den Krieg verantwortlich seien. Das russische Kriegsnarrativ hat zwar durchaus Freunde im sich gerne kritisch gegenüber dem Westen gebenden ÖRK. Doch dass Kirill nicht auf den versöhnungsbereiten Ton Saucas einging und stattdessen frech den ökumenischen Dialoggedanken politisch instrumentalisierte, muss eine große persönliche Enttäuschung für Sauca gewesen sein.
Die öffentlichen Äußerungen des ÖRK zum Ukrainekrieg sind seitdem politisch konkreter geworden: In einer Stellungnahme vom 30. März wurde nicht nur der russische Aggressionskrieg klar verurteilt und die Ukraine als souveräne Nation bestätigt, sondern auch das Recht des ukrainischen Volkes bekräftigt, sich gegen diese Aggression zu verteidigen. Vermehrt wird nun in den jüngsten öffentlichen Äußerungen auf den leidenden Gott verwiesen und die Opferperspektive stark gemacht.
Die Kirchenleitung der ROK unterstützt den russischen Angriffskrieg ideologisch. Was bedeutet das für die zukünftige ökumenischen Zusammenarbeit mit dem Moskauer Patriarchat?
Die Kirchenleitung der ROK unterstützt den russischen Angriffskrieg nicht nur ideologisch, sondern hat Putin auch das religiös-theologische Framing des Krieges mit auf den Weg gegeben.
Der ÖRK hat sich seinem Selbstverständnis nach immer stark in der Nachfolge der Bekennenden Kirche und Dietrich Bonhoeffers gesehen. Folgerichtig hat der ÖRK auch im Zweiten Weltkrieg nicht den Dialog mit der nazifreundlichen Deutschen Evangelischen Kirche gesucht, sondern einzelne Mitglieder der Bekennenden Kirche unterstützt. Die vielfältig in der Ökumene rezipierte Barmer Theologische Erklärung von 1934 richtete sich gegen die falsche Theologie und die nazifreundlichen „Deutschen Christen“, die die evangelische Kirche mit der Diktatur des „Führers“ gleichschalten wollten.
Vor diesem historischen Hintergrund und aus theologischen Gründen halte ich es für geboten, dass sich der ÖRK deutlich von der völkisch-nationalistischen politischen Theologie der ROK-Kirchenleitung distanziert und sich auf die Suche nach der heutigen "Bekennenden Kirche" Russlands begibt. Nur aus dieser kann später so etwas wie ein „Stuttgarter Schuldbekenntnis“, ein ökumenischer Neuanfang und Versöhnung entstehen.
Anfang September findet die ÖRK-Vollversammlung in Karlsruhe statt. Die Russische Orthodoxe Kirche hat bereits ihre Delegation benannt. Unklar ist, wie den ukrainischen Kirchen an der Vollversammlung eine Stimme gegeben werden kann. Was raten Sie dem ÖRK?
Der ÖRK steckt in einem großen Dilemma: Die ROK besitzt ein postimperiales Selbstverständnis. Die UOK, der ca. 13 Prozent der orthodoxen Gläubigen in der Ukraine, vor allem in den östlichen und südöstlichen Gebieten, angehören, wird deshalb „nur“ als eine institutionelle und nationale Unterabteilung der ROK betrachtet. Bereits diese andauernde Mitgliedskonstruktion der ROK im ÖRK ist problematisch. Denn sie legitimiert den russischen Geschichtsmythos von der Unteilbarkeit des einen heiligen Volkes Russlands, zu dem die Ukraine als russisches Volk gehört, institutionell und offiziell. Der Ukraine wird damit das Recht abgesprochen, sich im ÖRK als eine eigene ukrainische Nation mit einer eigenen Kirche zu präsentieren.
Dieses imperialistische Denken zeigt sich auch in der jüngsten Umbenennung der Delegation der ROK für Karlsruhe. Ursprünglich waren in der ROK-Delegation einmal drei Vertreter der UOK benannt – darunter auch Metropolit Onufrij. Jetzt ist es nur noch ein Delegierter der UOK: Der eng mit den russischen Besatzern zusammenarbeitende und als prorussischer Hardliner geltende Metropolit Luka (Kovalenko) von Zaporizhzhja und Melitopol. Sein Kirchengebiet wird höchstwahrscheinlich bis zur Vollversammlung ganzflächig von Russland besetzt und annektiert sein.
Was können also der ÖRK und die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) als Mitveranstalter tun, um in Karlsruhe nicht nur eine kriegsrechtfertigende Propagandaschau der ROK präsentiert zu bekommen?
Ich denke, der im Juni tagende Zentralausschuss des ÖRK wird sich nicht zu einem Ausschluss der ROK durchringen. Dann gibt es meines Erachtens nur noch eine vernünftige Lösung, um als Ökumene überhaupt noch glaubwürdig bleiben zu können: Die Ukraine muss kirchlich in Karlsruhe sichtbar werden. Und das bedeutet: Der ÖRK (oder die EKD) müssen schnellstens und offiziell auf die autokephale Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) zugehen. Sie sollten ihr eine „fast-track-Mitgliedschaft“ im ÖRK und ein sichtbares, öffentliches Forum auf der Vollversammlung anbieten. Die OKU ist schon jetzt die mit Abstand größte orthodoxe Kirche in der Ukraine, mit fast 50 Prozent aller orthodoxen Gläubigen. Jetzt, im Krieg, entscheiden sich täglich Gemeinden und Klöster, die UOK zu verlassen und zur OKU überzugehen. Man sollte daher kirchenpolitisch und ökumenisch eine Vereinigung von OKU und UOK offen und konstruktiv unterstützen. Wie die ROK dann auf die Situation reagiert, wäre abzuwarten. In jedem Fall hätte sich der ÖRK dann aber diplomatischen Handlungsspielraum eröffnet und müsste nicht erneut unter Druck reagieren. Selbst wenn die ROK dann austreten würde, wäre es nicht der ÖRK gewesen, der sie ausgeschlossen hätte.
Katharina Kunter, Dr., Professorin für Zeitgenössische Kirchengeschichte an der Theologischen Fakultät der Universität Helsinki.