Der Ritter vom warmen Blick: Eine Hommage an Vater Radovan Bigović
Rodoljub Kubat
Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen. An jenem Tag Ende Mai 2012 erschütterte in den Abendstunden eine Nachricht die Kirche: Vater Radovan Bigović ist gestorben!
Am nächsten Tag saßen wir im Professorenklub „Tria kapa“, Dozenten und Mitarbeiter. Die meisten weinten, Frauen wie Männer. Wir sprachen über ihn. Verschiedene Bilder gingen mir durch den Kopf. Ich erinnerte mich an meine erste Seminararbeit, die ich bei ihm abgegeben hatte. Damals war er noch Laie, Assistent bei Amfilohije, dem späteren Metropoliten von Montenegro. Damals arbeitete er an seiner Dissertation über Bischof Nikolaj Velimirović, die erste und einzige ernsthafte Arbeit über diesen großen Theologen und Dichter. Als ich vom Studium in Deutschland zurückkehrte, verteidigte ich meine Magisterarbeit und wurde bald Assistent an der Theologischen Fakultät. Vater Radovan war Dekan, wie man sagen würde: auf dem Höhepunkt seiner Kraft.
Da ich bei Katholiken studiert hatte und etwas Erfahrung in Kirchendiplomatie hatte, nahm Vater Radovan mich häufig in Delegationen auf, die für Gäste aus dem Ausland zuständig waren. Und zu ihm kamen alle. Es kamen Benita Ferrero-Waldner, EU-Kommissarin, Carlo Maria Martini, Kardinal aus Mailand, Walter Kasper, Kardinal und Vorsitzender des Päpstlichen Einheitsrates. Auch die wichtigsten orthodoxen Theologen kamen: Kallistos Ware, Ioannis Zizioulas, Christos Yannaras und viele andere. Alle schätzten ihn außerordentlich.
Dank seiner Bemühungen fand 2001 das Fünfte Symposium der theologischen Schulen statt, an dem alle bekannteren orthodoxen Theologen teilnahmen. Bei der Eröffnung waren unter anderem Ministerpräsident Zoran Đinđić, der US-Botschafter William Montgomery, der serbische Thronfolger Aleksandar Karadjordević, ein Dutzend Minister, Dekane und die meisten kirchlichen Würdenträger anwesend. Einen besonderen Eindruck hinterließ bei der Schlusssitzung der albanische Erzbischof Anastasios Yannoulatos. Er sprach verständlich und klug davon, dass die Kirche das Licht des Evangeliums auf zeitgemäße Weise und in zeitgemäßer Sprache bezeugen müsse. Manche sprachen dagegen, vor allem Bischof Atanasije Jevtić. Radovan hörte der Diskussion von der Galerie des großen Hörsaals zu. Wer weiß, was er damals dachte, aber es war klar, dass er diese Welt hinter sich gelassen überflügelt und in seinen theologischen Visionen vereint hatte. Er vereinte Glaube und Wissenschaft, Kirche und Staat, Alte und Junge.
Als Dekan waren seine Türen für uns alle immer weit offen. Zwar gab es wenig Zeit für eine Unterhaltung, weil ständig Menschen kamen – Journalisten, Politiker, Geschäftsleute, Sportler, Professoren anderer Fakultäten. Einmal, als wir Kaffee tranken, sagte er uns: „Ihr Assistenten seid jung und ehrgeizig, ich erkenne mich in euch wieder. Seid vorsichtig und hütet euch vor den Bischöfen, sie sind sehr eitle Menschen.“
Damals haben wir ihn nicht gut verstanden. Wir dachten: Er hat mit dem Seminar abgeschlossen, ist im Talar, hat eine Familie. An seine Familie erinnere ich mich noch aus der Studienzeit. Mit seiner Frau Zorica, der Tochter Marija und dem Sohn Nikola kam er in die Kirche am Stadtpark des Belgrader Vororts Zemun. Damals war er noch Diakon. Als Studenten haben wir bei ihm kommuniziert, seine Predigten angehört... Anschließend saß man im Pfarrhaus zusammen.
Er erzählte uns, dass er jung seinen Vater verloren, die Mönchsschule von Ostrog besucht, Theologie im Kloster Krka studiert, und dann in Belgrad sowohl die Theologische als auch die Philosophische Fakultät absolviert hatte. Ständig gab er uns Bücher; das war in den 1990er Jahren. Er half uns, Stipendien zu bekommen. Er war für uns, kurz gesagt, wie ein Vater. In seiner Gegenwarte konnte man rauchen, Witze erzählen und manchmal auch tratschen. Eigentlich mochte er Tratsch nicht. Er hielt sich an den Satz von Christus: „Ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge...“
Einmal erzählte er uns, wie er aus Kanada zurückkam und für Patriarch Pavle Milchpulver mitbrachte. Am Flughafen in Belgrad dachte man, er schmuggle Drogen, hielt ihn einige Stunden auf und verhörte ihn. Als er das dem Patriarchen erzählte, antwortete dieser ihm: „Warum warst du denn im Talar? Deswegen haben sie dich verdächtigt. Du weißt doch, was unser Volk sagt: Die Pfaffen sind Gauner.“ All das erzählt er uns ohne Hemmung oder Verbitterung.
Oft erduldet er Beleidigungen und Kritik von hohen Kirchenleuten. Darauf gab er wenig. Er hatte einfach seine Richtung, er wusste, wohin und wie er gehen sollte. Radovan Bigović war ein Priester von seiner Berufung und ein Hirte nach seinem Temperament. Er war ein Mensch des Friedens. Ihn zeichnete kein kämpferischer Heroismus wie Atanasije oder Amfilohije aus. Für ihn war es einfacher, sich weise zu verteidigen, als das Schwert zu ziehen. Er bemühte sich eher, sich selbst zu besiegen, bescheiden die Pflicht zu erfüllen, die ihm zugefallen war. Seine Bescheidenheit war durch Lebenserfahrung gestärkt. Schwere Eindrücke aus dem Leben vertrieb er mit seinem Willen und mit seinem Sinn für das rechte Maß.
Wie die Zeit verging, ist Vater Radovan immer älter geworden. Gleichzeitig merkte man ihm große Müdigkeit an. Die Zeit der orthodoxen Renaissance schien vorbeizugehen. Die Kirche wurde immer mehr von Skandalen erschüttert – Pachomije, Kačavenda, Filaret… Darüber sprach er ungern. Er hatte immer weniger Kontakt mit Politikern und Journalisten. Seine Lebenskraft suchte er in der theologischen Wissenschaft. Oft diskutierten wir über die Heilige Schrift; ihn interessierten alle neuen Erkenntnisse aus dem Bereich der biblischen Studien. Er hatte ein gutes Gefühl für die Schrift, vor allem für das Alte Testament, und besonders für die epischen Elemente im Richterbuch. Er verglich sie mit der serbischen epischen Dichtung, die er, wie jeder Serbe aus Montenegro, fast auswendig kannte.
Ein Bild hat sich besonders in mein Gedächtnis eingeprägt, als ich aus dem Dinara-Gebirge von der Beerdigung meines Vaters zurückkehrte. Erstmals fühlte ich Kälte und Abneigung gegen die Kirche und die Fakultät. Damals war Irinej Bulović Dekan, der mir nicht einmal ein Beileidstelegramm geschickt hatte und mir auch nach meiner Rückkehr kein Beileid aussprach. Anderen ging es noch schlechter. Als ich Vater Radovan traf, wusste er nicht, dass man Vater gestorben war. Er fragte mich: „Warum bist du so düster?“ Mit ihm war Vater Vladan Perišić, der ihm sagte, dass mein Vater gestorben war. Seine Umarmung und sein Mitgefühl kann ich in Worten nicht ausdrücken.
Mit der Zeit zog ihn seine Erinnerung im mehr zu seiner Heimat Montenegro, in seine Kindheit und Jugend. Vierzehn Tage vor seinem plötzlichen Tod traf ich ihn an der Fakultät. Ich war gerade aus dem Dinara-Gebirge zurückgekommen. Er fragte mich: „Wo bist du so braun geworden?“ Ich sage: „Ich habe Heu gemacht.“ Er fragte weiter: Kannst du dengeln?“ Ich sagte: „Nein, das wollte ich nie lernen.“ Er sagte mir: „Ich kann es, wenn du willst, kann ich es dir beibringen.“ Ich merkte, dass er ungewöhnlich blass und in Gedanken war, als quäle ihn etwas, als ahne er etwas. Als ich nach Hause kam, sagte ich zu meiner Frau, dass ich Vater Radovan getroffen habe, und dass er merkwürdig blass gewesen sei. Sie sagte: „Ich habe ihn schon lange nicht mehr gesehen. Grüß ihn das nächste Mal!“ Aber ein nächstes Mal gab es nicht mehr.
Vater Radovan ist bald nach unserem letzten Treffen auf dem Operationstisch im Militärkrankenhaus gestorben. Die Ärzte sagten, sein Herz sei „geplatzt“. Damals war schon sicher, dass er wieder zum Dekan gewählt werden würde. Der Tod kam ihm zuvor. Aus heutiger Perspektive könnte man sagen, dass Gott ihn vielleicht rechtzeitig zu sich genommen hat, damit er das Unheil nicht mitansehen musste, das unserer Kirche zugestoßen ist. Vermutlich hat er auch selbst den kalten Wind und die bösen Lüfte aus dem Norden gespürt, auch die kommende Regierung der Fortschrittspartei, eher als wir alle.
Er ist am Eingang der Kirche des Hl. Dimitri in Gardoš beerdigt. Es war der größte Trauerzug nach dem Tod von Đinđić. Alle kamen, um Vater Radovan die letzte Ehre zu erweisen. Als wir im Trauerzug gingen, sagte ich mir: „Freu dich, Srbo, mein Vater, zu euch kommt ein Gerechter im Herrn!“ Das war etwa ein Jahr nach dem Tod meines Vaters. Damals spürte ich zum ersten Mal eine merkwürdige Ruhe vor dem Tod. Mir wurde klar, dass „oben“ die Gerechten Gottes sind, die auf uns warten und für uns beten.
Und bis dahin: „Ewiges Gedenken“, Vater Radovan, du Ritter des warmen Blicks!
Rodoljub Kubat, orthodoxer Theologe und Bibelwissenschaftler, bis zur Kündigung durch den Hl. Synod der SOK im Oktober 2020 Professor für Altes Testament an der Theologischen Fakultät in Belgrad. Derzeit ist er am Zentrum für Biblische Philologie und Hermeneutik, Abteilung für Klassische Wissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Universität Belgrad tätig.
Aus dem Serbischen übersetzt von Thomas Bremer. Der Text erschien zuerst auf dem theologischen Portal „teologija.net“.
Bild: svetigora.com