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Religiöse Kooperation in Kriegszeiten

02. Juni 2022

Interview mit Tetiana Kalenychenko

Wie wirkt sich der Krieg auf die Rolle religiöser Akteure und Netzwerke in der ukrainischen Zivilgesellschaft aus?
Russlands Großangriff auf die Ukraine vom 24. Februar hat die Zweifel vieler religiöser Führungsfiguren, die seit 2014 eher zögerlich reagiert haben, hinweggewischt. Der Krieg, der nun schon acht Jahren dauert, hat eine unvorhergesehene und tragische Dimension. Zwar gibt es noch einige Geistliche, die theologische Zweifel hegen und an politische Neutralität appellieren, aber solch eine Distanzierung wird von der Bevölkerung heute kaum noch akzeptiert, weil Krisenzeiten entschiedenere Handlungen verlangen.

Freiwilligen-Netzwerke, die ihre Aktivitäten seit 2014 reduziert hatten, konnten sofort aufgefrischt werden. Zudem sind zahlreiche neue, starke Netzwerke der Zusammenarbeit entstanden, zu denen auch Vertreter von Religionsgemeinschaften gehören. Ein Beispiel dafür ist der „Interfaith Coordination Chat“ unserer Initiative „Dialogue in Action“, auf der man Anliegen formulieren, um Gebete bitten oder Hilfe anbieten kann.

Nach wie vor sind Kooperationen innerhalb einer Konfession zweifellos die stärksten, doch gibt es vermehrt Beispiele für wachsendes Vertrauen zwischen Menschen unterschiedlicher Glaubensbekenntnisse. Auffällig ist die zunehmende Zahl an Gläubigen, die zu den Waffen greifen und sich für die Verteidigung des Landes entschieden haben. Deshalb können einige Geistliche, die sich bisher an pazifistische Prinzipien gehalten oder das Thema Krieg vermieden haben, sich nicht mehr davor drücken, mit den Gläubigen darüber zu sprechen.

Wie schätzen Sie die Erklärung der „vollen Unabhängigkeit“ der Ukrainischen Orthodoxen Kirche ein?
Zweifellos war der entschiedene Schritt von Metropolit Onfrij (Berezovskyj) eine Überraschung. Alle Quellen besagen, er sei auf seine Initiative und Entscheidung erfolgt. Allerdings lässt sich die Erklärung keineswegs als letzter Schritt ansehen, es müssen weitere Entscheidungen und Dokumente folgen, welche die Standfestigkeit der Absicht, sich von Moskau zu lösen, beweisen. Einerseits sehen wir eine deklarierte Bereitschaft, in einen Dialog mit der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) zu treten, doch ein Dialog auf höchster Ebene ist noch recht unwahrscheinlich. Viel wichtiger ist, wie sich die Situation an der Basis, in den verschiedenen Eparchien entwickelt. Zu erwarten ist zum Beispiel der Übertritt von Eparchien auf der Krim oder in den Regionen Donezk oder Luhansk zur Russischen Orthodoxen Kirche. Das wird die interne Struktur und die Narrative der UOK verändern, und es jedem ermöglichen, die Identität dieser Kirche unabhängig zu überprüfen. Klar ist, dass erst ein erster Schritt getan wurde, doch ist es zu früh, daraus eindeutige Schlüsse zu ziehen.

Wie beeinflusst der Krieg Ihre Arbeit zu Konflikttransformation und Friedensbildung?
Zweifel, Schmerz, Reflexionen und persönliche Veränderungen haben mich seit 2013 begleitet, besonders als ich den Beruf einer Dialogbegleiterin gewählt habe. Im Idealfall sollte man dabei eine Person sein, die als Brücke zwischen zwei Seiten fungiert und ihnen dabei hilft, einander zuzuhören. Heute sind die bisherigen bilateralen oder trilateralen Dialoginitiativen natürlich unmöglich geworden. Doch die Kontakte sind geblieben. Trotz aller Enttäuschungen und Verluste von geliebten Menschen verstehe ich, dass das Thema der Konflikttransformation bereits wieder aufkommt. Nichtsdestotrotz bin ich sicher, dass diese Arbeit eine Berufung für das ganze Leben ist, wobei ich vermutlich die Resultate meiner eigenen Arbeit nicht immer zu Gesicht bekomme. Doch ich gebe Träume von zukünftigen Projekten und realen Begegnungen nicht auf – dies werden zuerst Dialoge über Schmerz sein, und erst dann Bildungsinitiativen und ein Verständnis dafür, wie wir wenigstens innerhalb unserer Gesellschaft auf eine gute Weise miteinander sprechen können.

Tetiana Kalenychenko, PhD, Gründerin der „Dialogue in Action“-Initiative, European Center for Strategic Analytics, Ukraine.

Übersetzung aus dem Englischen: Regula Zwahlen.