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"Was vom 13. bis 15. September geschah, widerspricht allen Vereinbarungen des Waffenstillstands von 2020"

07. Oktober 2022

Interview mit Erzbischof Abraham Mkrtchyan von Vayots Dzor, Armenien

Von den jüngsten schweren Kämpfen zwischen Armenien und Aserbaidschan vom 13. bis 15. September war auch Ihre Diözese betroffen. Können Sie uns berichten, was geschehen ist?
Was vom 13. bis 15. September geschah, widerspricht allen Vereinbarungen des Waffenstillstands von 2020. Am 13. September eröffnete Aserbaidschan um Mitternacht unerwartet ein intensives Artilleriefeuer. Zur Zielscheibe wurden nicht nur militärische Stellungen in den Grenzgebieten der Regionen Syunik, Vayots Dzor und Gegharkunik, sondern auch zivile Objekte im Hinterland und die Zivilbevölkerung. Auch der berühmte Kurort Jermuk in unserer Region wurde zum Ziel der Zerstörung, worüber sich auch die deutsche Botschaft in Armenien schockiert zeigte.

Der Angriff begann fünf Minuten nach Mitternacht mit einem Trommelfeuer aus Raketen, Langstreckenartillerie und Killerdrohnen. Zudem kamen aserbaidschanische Spezialeinheiten und Angriffstruppen zum Einsatz. Unter der Bevölkerung brach Panik aus. Tausende Menschen – vor allem Frauen, Kinder, Senioren sowie ausländische Touristen und Patienten aus den zahlreichen Sanatorien von Jermuk – versuchten, die zerbombte Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Die Verteidigungslinie brach schnell zusammen. Eine begrenzte Anzahl unserer Grenzschützer wurde getötet oder gefangen genommen. Es kursierten später Videoaufnahmen in den aserbaidschanischen sozialen Netzwerken, die zeigen, wie die sich ergebenen Armenier gequält und hingerichtet wurden. Eine armenische Soldatin wurde vor laufender Kamera von mehreren Männern vergewaltigt und anschließend brutal ermordet.

Bereits in den frühen Morgenstunden erschienen aserbaidschanische Soldaten auf den Berghöhen von Vayots Dzor. Als ich am nächsten Tag hochrangige Offiziere in der Stadt Jermuk traf, sagten sie mir, dass mehr als 6000 Militärpersonen am aserbaidschanischen Angriff mitgewirkt hätten. Darunter waren höchstwahrscheinlich militante Islamisten aus dem Nahen Osten. Infolge des Angriffs wurden vor allem der Kurort Jermuk und benachbarte Siedlungen in unserer Diözese Vayots Dzor schwer getroffen. Viele Wohnhäuser, Schulen und wichtige zivile Objekte wurden beschädigt. An mehreren Stellen brach Feuer aus und beschädigte Wälder, die Teil eines Naturschutzgebiets sind. Es kamen sowohl Militärpersonen als auch Zivilisten ums Leben. Nach vorläufigen Angaben beträgt die Anzahl der Opfer und Vermissten 208 Personen. Beim Blick auf die Einschläge wird offensichtlich, dass die Aserbaidschaner auf den lebenswichtigen Ketschut-Stausee und die Brücke, welche die beiden Teile der Stadt Jermuk miteinander verbindet, zielten. Die Gayane-Kirche blieb dabei wie durch ein Wunder unversehrt.

Unter diesen Bedingungen war die Sicherheit der Zivilbevölkerung von höchster Priorität. Gleich am ersten Tag wurden sowohl die Stadt als auch die umliegenden Siedlungen fast vollständig evakuiert. Einige der geflüchteten Frauen, Senioren und Kinder suchten Zuflucht in verschiedenen Siedlungen der Diözese Vayots Dzor. Andere flohen in die nördlichen Regionen und nach Jerewan, weil diese Orte ein Gefühl von Sicherheit vermittelten.

Die aserbaidschanische Armee ist an verschiedenen Stellen 10 bis 13 km tief auf armenisches Gebiet vorgerückt und hält dieses gewaltsam besetzt. Sie hat sich unmittelbar der Stadt Jermuk genähert und baut nun ihre militärischen Befestigungen auf den benachbarten Höhen auf. Immer wieder kommt es zu Militäroperationen. Vor wenigen Tagen wurden wieder drei Armenier getötet, die mit dem Ausbau der eigenen Stellungen beschäftigt waren. Vor allem abends hören wir Gefechtslärm. Die feindlichen Drohnen sind am hellen Tag mit bloßem Auge sichtbar, was es unmöglich macht, Sicherheitsgarantien für die Zivilbevölkerung abzugeben.

Wie versucht die Kirche der notleidenden Bevölkerung zu helfen?
Innerhalb der letzten 30 Jahre ist die Diözese Vayots Dzor zum vierten Mal mit einer dramatischen Situation konfrontiert. Bereits während des ersten Karabach-Krieges (1990–1994) ergriff unsere Diözese viele Initiativen. Es ging insbesondere um die Bereitstellung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Hygieneartikeln für die vom Krieg betroffenen Familien. In der Folgezeit wurden auch Rehabilitationscamps für die geflüchteten Kinder organisiert. Auch dieses Mal hat sich unser Erzbistum sofort daran gemacht, der Zivilbevölkerung so schnell wie möglich Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Außerdem wurde – dank der Unterstützung unserer schweizerischen Partnerorganisation HEKS Brot für alle – ein einwöchiges Rehabilitationslager für Kinder organisiert. Unser Ziel war vor allem, die Kinder in ein sicheres Gebiet zu bringen sowie psychologische Hilfe und sozialpädagogische Betreuung anzubieten, um so auch ihre Familien zu entlasten.

Bereits während des letzten 44-tägigen Karabach-Krieges im Jahr 2020 haben wir mehr als 80 geflüchtete Kinder bei uns beherbergt und so auch deren Bildungsprozess sichergestellt. Dank Renovabis, dem Osteuropa-Hilfswerk der Katholischen Kirche in Deutschland, und anderen kirchlichen Organisationen aus Deutschland und der Schweiz konnte das alte Jugendcamp der Diözese renoviert und winterfest gemacht werden. Die Gebäude unseres Jugendcamps waren daher schon mit Computer-Klassenzimmern, Lehrbüchern und anderen Mitteln zur Organisation von Fernunterricht ausgestattet. Aus der Erfahrung früherer Kriege wissen wir, dass die Kinder eine schnelle psychologische Betreuung brauchen, um psychosomatischen Problemen und Angstzuständen entgegenzuwirken. In dieser Hinsicht muss unsere Betreuungsarbeit kontinuierlich stattfinden. Reha-Camps sind viel effektiver, wenn sie regelmäßig stattfinden. Jetzt planen wir nicht nur ein Rehabilitationslager für die Kinder, sondern auch Reha-Treffen der Mütter.

Derzeit erstellen wir mit den örtlichen Behörden Listen der Getöteten, Gefangenen und Verwundeten und stellen die Höhe des Schadens an den durch die Bombenangriffe zerstörten Häusern und zivilen Gebäuden fest. Wir versuchen, alle unsere Mittel und Netzwerke zu nutzen, um nicht nur seelsorgerliche, sondern auch materielle Hilfe zu organisieren. Wir sind uns bewusst, dass der Wiederaufbau ziemlich lange dauern wird, vor allem wenn diese Last allein auf den Schultern der staatlichen Behörden liegt. Daher muss auch die Kirche mit ihren gemeinnützigen Partnern aktiv werden. Aber die Angriffe der Aserbaidschaner laufen weiter; der Krieg ist noch nicht vorbei. Die Menschen sind verzweifelt und unsicher. Viele denken darüber nach, ihre Heimat zu verlassen und auszuwandern, was wiederum eine humanitäre Katastrophe für uns bedeuten würde.

Die internationale Gemeinschaft hat eher zögerlich auf die jüngsten bewaffneten Auseinandersetzungen reagiert. Was erwartet die armenische Bevölkerung von der internationalen Gemeinschaft?
Der jüngste militärischen Zusammenstoß wäre möglicherweise gar nicht passiert, wenn es während des letzten Karabach-Krieges 2020 eine angemessene internationale Bewertung und konsequente Reaktion gegeben hätte. Doch das Schweigen bzw. die uneindeutige Reaktion der internationalen Gemeinschaft inspirierten die aserbaidschanische Regierung und ihren Verbündeten, die Türkei, zu neuen Angriffen mit erneuten verbrecherischen Gräueltaten, die sie ebenfalls als „spezielle militärischen Operationen“ bezeichnen und direkt auf dem Hoheitsgebiet der Republik Armenien durchführen. Seit dem ersten Tag der kriegerischen Aggression haben wir regelmäßig Informationen an deutsche und schweizerische kirchliche Organisationen übermittelt. Unsere internationalen Partnerorganisationen, welche die aktuellen Entwicklungsprogramme in der Diözese Vayots Dzor unterstützen, haben die unerträgliche Situation verurteilt und zur Unterstützung Armeniens aufgerufen. Die Übergriffe auf das Territorium der Republik Armenien wurden auch von einer Reihe von Staaten und internationalen Organisationen scharf kritisiert.

Die Erwartungen unserer Bevölkerung sind sehr klar: Erstens, der Schutz der Rechte des armenischen Volkes von Berg-Karabach, das seit mehr als 100 Jahren Diskriminierung, Leid und Verlust erlebt; zweitens, die Räumung der jüngst besetzten Gebiete Armeniens; drittens, die Entwicklung von Mechanismen zur Eindämmung des Aggressors, um die Gewalt zu beenden, damit die Bewohner Armeniens und Berg-Karabachs die Möglichkeit haben, in ihrer Heimat in Frieden zu leben und zu arbeiten. Die europäischen Länder sollten sich sehr genau überlegen, ob sie Milliarden Euro an Aserbaidschan für Erdgas und Öl zahlen, die dieses für den Kauf von noch mehr schweren Waffen verwendet. Dies ermöglicht der aserbaidschanischen Regierung neue aggressive Kriege zu führen. Auch die USA sollten endlich aufhören, Militärmaterial an Aserbaidschan zu liefern. Der demokratische Westen sollte alles dafür tun, einen zweiten Völkermord an den christlichen Armeniern zu verhindern. Wenn unsere Aufrufe nicht gehört und unbeantwortet bleiben, dann wird es für unser Volk langsam unklar, warum der Genozid von 1915 an den Armeniern durch so viele europäische Länder sowie den USA und Kanada überhaupt anerkannt wurde?

Innenpolitisch gab es Demonstrationen gegen die Regierung und Premierminister Nikol Paschinjan. Wie reagiert die Kirche auf die innenpolitischen Auseinandersetzungen?
Unabhängig von den politischen Ereignissen ist es das erste und wichtigste Ziel der Kirche, eine Atmosphäre des Friedens und der Solidarität aufrechtzuerhalten, um irreversible Verluste so weit wie möglich zu verhindern. Kürzlich fand ein Treffen von fünf ehemaligen Präsidenten Armeniens und Berg-Karabachs mit dem Katholikos aller Armenier, Karekin II., am Muttersitz der Kirche in Etschmiadzin statt. Ziel des Gespräches war es, die hochgefährliche Situation gemeinsam zu analysieren und anschließend zusammen mit der Regierung einen Ausweg zu finden. Wenn die Kirche weiterhin derartig agiert, kann dies ein positiver Impuls sein und sowohl innenpolitisch als auch völkerverbindend sinnvoll sein, was selbstverständlich zu begrüßen ist.

Übersetzung aus dem Armenischen: Dr. Harutyun G. Harutyunyan, Jerewan.