Zur hochgefährdeten Lage in Armenien
Zur hochgefährdeten Lage in Armenien
23.09.2022
Sehr geehrte Frau Bundesaußenministerin,
verehrte Frau Annalena Baerbock,
am 13.09.2022 hat das autokratisch regierte Aserbaidschan eine unprovozierte Militäroffensive gegen das demokratische Armenien gestartet. Dabei wurden auch zivile Ziele im armenischen Landesinneren unter Beschuss genommen. Bei einem Besuch des Kurortes Jermuk hat der Chargé d’Affairs der deutschen Botschaft in Jerewan, Erik Tintrup, angesichts der durch aserbaidschanischen Beschuss verursachten Zerstörungen festgestellt, dass es ein „Wunder“ sei, dass dort keine Zivilisten umgekommen sind. Aserbaidschan ist an mehreren Stellen viele Kilometer vorgerückt und hält nun armenisches Territorium besetzt. Während der Offensive haben aserbaidschanische Soldaten schwere Kriegsverbrechen begangen und Videos davon in sozialen Medien verbreitet. Es ist dokumentiert, dass insbesondere Soldatinnen Ziel schwerer Misshandlungen und Verstümmelungen wurden. Zudem hat Aserbaidschan weitere Kriegsgefangene genommen, die entgegen den Grundsätzen des humanitären Völkerrechts vor laufender Kamera schikaniert und misshandelt wurden. In Folge der Offensive mussten tausende Zivilisten fliehen. In zahlreichen Schulen wurde der Unterricht aus Sicherheitsgründen ausgesetzt.
Leider hat die Bundesregierung bis heute zum Angriff auf Armenien keine klare Stellung bezogen. Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des Außenministeriums und auch der Regierungssprecher verweigern explizit eine Festlegung und verweisen auf die Komplexität des Falles. Dabei ist die völkerrechtliche Bewertung klar: Selbst wenn Aserbaidschans Vorwürfe, Armenien hätte provoziert, zuträfen, kann die Diktatur sich nicht auf das völkerrechtliche Selbstverteidigungsrecht berufen - dieses unterliegt nämlich der Verhältnismäßigkeit. Eine einfache Provokation kann also nie den großflächigen Beschuss mit schweren Waffen rechtfertigen. Die aserbaidschanischen Angriffe auf zivile Ziele und die schweren Kriegsverbrechen sind darüber hinaus eindeutig Verstöße gegen das Völkerrecht.
Inzwischen sind sowohl von Nachitschewan als auch von türkischer Seite neue Truppen an der armenischen Grenze konzentriert worden. Damit sieht sich Armenien ernsthaft bedroht, und wir erkennen gar eine Gefährdung für die staatliche Existenz. Das Land steht ohne wirkliche Verbündete da und fühlt sich von der Weltgemeinschaft im Stich gelassen, weil die geopolitischen Interessen anderen Ländern den Vorzug geben.
Der Maßstab für das außenpolitische Handeln Deutschlands soll ein klarer Wertekompass sein. Wir sollten uns nicht der Verantwortung entziehen, an dieser Stelle den Aggressor zu benennen. Aus Deutschlands mindestens mittelbarer Beteiligung am Völkermord an den Armeniern um 1915 erwächst eine besondere Verantwortung gegenüber dem armenischen Volk, das sich nach wie vor aus gutem Grund in seiner Existenz bedroht sieht.
Aserbaidschans Diktator Aliyev artikuliert immer wieder Gebietsansprüche gegenüber Armenien und hat klar gemacht, dass er dazu bereit ist, diese mit Gewalt durchzusetzen. Die Türkei signalisiert dabei weiterhin vollständige Unterstützung für die Vorhaben Bakus. Erschütternd ist auch das systematische Auslöschen armenischer Kulturgüter in Gebieten, die unter aserbaidschanischer Kontrolle sind, obwohl der Internationale Gerichtshof Aserbaidschan dazu aufgefordert hat, armenisches Kulturgut zu schützen. Das Lemkin Institute for Genocide Prevention deklariert Aserbaidschans Verhalten sogar als schleichenden Völkermord.
Wir fordern, dass die Bundesregierung zu Aserbaidschans völkerrechtswidriger Aggression klar Stellung bezieht, den Angriff verurteilt und alle ihr zur Verfügung stehenden Instrumente und Maßnahmen ergreift, um Aserbaidschan von weiteren Angriffen abzuhalten. Es muss höchste Priorität haben, die armenische Bevölkerung vor einem weiteren Kapitel der Auslöschung zu bewahren. Die Bundesregierung muss Deutschlands historische Verantwortung auch auf internationaler Ebene ernst nehmen, damit wir als Deutsche uns nicht ein zweites Mal vorwerfen müssen, die Armenier im Stich gelassen zu haben.
Mit freundlichen Grüßen
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Martin Tamcke, Göttingen
Prof. Dr. Andreas Müller, Kiel
Markus Meckel, Berlin
Dr. Dagmar Heller, Bensheim
Dr. Wolfram Langpape, Hannover
Dustin Hoffmann, Brüssel
Dr. Harutyun G. Harutyunyan, Leipzig/Yerevan
Dietmar Nietan MdB, Berlin
Dr. h.c. Wolfgang Thierse, Berlin
Ansprechpartner:
Prof. Dr. Andreas Müller
Theologische Fakultät
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