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Eine kurze Geschichte des „unverhohlenen Satanismus“ in Russlands Krieg gegen den Westen

17. November 2022

Patrick Lally Michelson

Am 30. September 2022 unterzeichnete Vladimir Putin mehrere „Abkommen“, mit denen er Teile der Ukraine illegal annektierte. Vor der Unterzeichnung wandte sich Putin an das Fernsehpublikum und eine versammelte Menge von Würdenträgern und Beamten, darunter Vertreter der Russischen Orthodoxen Kirche. In seiner Rede bot Putin ein historisches Narrativ an, das Russland als religiöses und kulturelles Bollwerk gegen die westliche „Hegemonie“ darstellt. Um zu erklären, was er meinte, bezog sich Putin auf die Bergpredigt, und prangerte das an, was er den „unverhohlenen Satanismus“ der „westlichen Eliten“ nannte. Hier ist das gesamte Zitat:

„Ich wiederhole, die Diktatur der westlichen Eliten zielt auf alle Gesellschaften, auch auf die Bürger westlicher Staaten. Dies ist eine Herausforderung für alle. Diese völlige Verleugnung des Menschen, der Umsturz von Glauben und traditionellen Werten und die Unterdrückung der Freiheit fangen an, Züge einer „umgekehrten Religion“, eines unverhohlenen Satanismus azunehmen. Um falsche Propheten zu enttarnen, sagte Jesus Christus in der Bergpredigt: ‚An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen‘. Diese giftigen Früchte sind für die Menschen schon offensichtlich, nicht nur in unserem Land, sondern in allen Ländern, darunter für viele Menschen im Westen selbst.“

Welche Form hat dieser Satanismus angenommen? Wie hat er sich manifestiert? Er könnte in „Perversionen“ wie gleichgeschlechtlichen Ehen und „Geschlechtsneuzuweisungs-Operationen“ gefunden werden, die alle zur „Zersetzung und Ausrottung“ Russlands führen würden.

Ich interessiere mich jedoch nicht besonders für die Panikmache und Übertreibung in Putins Rede oder in ähnlichen Angriffen auf den Westen von russischen – und nicht nur russischen – Kritikern. Ihre Rüpelhaftigkeit spricht für sich selbst. Was mich an Putins Verurteilung von „westlichen Eliten“ interessiert, ist ihre Genealogie, das heißt, die Genealogie der russischen Behauptungen, dass der Westen und seine Anführer satanistisch seien.

Russlands imperialer Kampf gegen „satanische Kräfte“
Dieser Diskurs über Russland, das sich in einem „geheiligten Krieg“ (священная война; dieser Begriff wurde auch für den „Großen Vaterländischen Krieg“ von 1941 bis 1945 verwendet; Anm. d. Red.) gegen die satanischen Kräfte des Westens befindet, ist nicht neu. Er kann bis in die letzten Jahrzehnte der Herrschaft von Peter I. (ca. 1700–1725) zurückverfolgt werden, und wahrscheinlich bis zum Schisma zwischen den Altgläubigen und der Orthodoxen Kirche in Russland im 17. Jahrhundert. So stellten Altgläubige Zar Peter I., Metropolit Stefan Javorskij und Satan als „unreine Geister“ dar, die sowohl die Kirche als auch den Staat korrumpieren (siehe Bild 1). In ihrer Vor- und Darstellung kam die Zerstörung der Heiligen Rus aus dem Westen, von seiner fremden Kultur und seinen häretischen (römisch-katholischen und protestantischen) Glaubensbekenntnissen.

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Dieser Diskurs gewann nach Napoleons Invasion in Russland 1812 eine neue Bedeutung und neuen Schwung. Wie Janet Hartley vor mehr als 30 Jahren bemerkte, stellten orthodoxe Geistliche und Laien Napoleon regelmäßig als den Antichristen und seine Grande Armée als „Legionen des Teufels“ dar. Weniger als ein Jahr nach der Invasion schuf Ivan Terebenjov eine Karikatur von Napoleon, wie er Satan „nach dem Brand von Moskau“ trifft (siehe Bild 2). Napoleon steht in der Mitte. Schädel, Knochen und Kriegsausrüstung liegen zu seinen Füßen, und die Geister der Toten bestrafen ihn. Göttliche Gerechtigkeit ergießt sich über seinen Kopf. Napoleon verliert seine Krone sowie seinen Reichsapfel und sein Zepter. Rechts sind Satan, seine Knechte und der Tod. Links sind die Quellen der Erleuchtung und des wahren Christentums, wobei letzteres durch das Bild einer russischen orthodoxen Kirche repräsentiert wird.

Bilder von Napoleon als Diener Satans wurden von „Pierre“ Besuchov wiederholt, einer der Hauptfiguren in Lev Tolstojs „Krieg und Frieden“. Gestützt auf eine freimaurerische Auslegung der Johannes-Offenbarung entdeckt Pierre die wahre Bedeutung Napoleons. „[Er] war das Tier, vorausgesagt in der Apokalypse“. Die Botschaft in dieser Darstellung war klar. Die revolutionären Kräfte, die der Westen 1789 entfesselt hatte und die in Napoleon gipfelten, waren mit Satan im Bunde, der danach trachtete, Russlands christliche Zivilisation und die ganze Christenheit zu zerstören.

100 Jahre nach Terebenjovs Radierung stellte der russische Maler Nicholas Roerich Kaiser Wilhelm II. während des Ersten Weltkriegs als Satan dar, der Tod und Zerstörung nicht nur über Russland, sondern auch über Europa selbst bringt (siehe Bild 3 von 1915). Während er das „deutsche Böse“ auf dem Kontinent verbreitet, schlachtet Wilhelm II. „rasend“ die Unschuldigen ab und zerstört „diebisch“ Städte. Die Botschaft ist hier ähnlich wie bei den Darstellungen Napoleons. Nur Russland und seine Verbündeten können die zivilisierte Welt vor „dem Feind der Menschheit“ retten, das heißt vor dem Satanismus, der dem Westen entspringt.

Solche Darstellungen der Feinde Russlands als Satan oder satanische Kräfte waren in Russland während der imperialen Zeit üblich und wurden oft in Phasen von Krieg, Revolution und Instabilität bedeutsam. Vor dem Hintergrund dieser historischen Tatsache entstand mein Buch „Beyond the Monastery Walls: The Ascetic Revolution in Russian Orthodox Thought 1814–1914“, das nachzeichnete, wie ein orthodoxer Asketismus konstruiert wurde, um das Christus liebende Volk der Heiligen Rus vom atheistischen, militaristischen und imperialistischen Westen zu unterscheiden.

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Der neue alte Diskurs vom „westlichen Satanismus“
Ich weiß nicht, ob die Behauptungen über den satanischen Westen im heutigen Russland ehrlich oder zynisch sind. In vielerlei Hinsicht spielt es keine Rolle. Was eine Rolle spielt, ist, dass dieses Bild des Westens in Russland einmal mehr Nachhall findet. Wir sehen es in den Reden des Ideologen Alexander Dugin, in den Parolen des Schauspielers Ivan Okhlobystin im russischen Staatsfernsehen und bei Staatsbeamten wie Alexej Pavlov, Assistent des Sekretärs des Sicherheitsrats, der kürzlich die „Desatanisierung“ der Ukraine gefordert hat. Wir hören Echos davon in den Worten von Talgat Tadschuddin, dem Obermufti von Russland, der im Juli erklärte, dass der aktuelle Konflikt „nicht zwischen Russland und der Ukraine“ sei, sondern zwischen „dem Westen und dem Osten“, und dass Russlands Krieg in der Ukraine „eigentlich gegen den Antichristi“ geführt werde.

Schließlich finden wir den Diskurs auch in der Sprache von russisch-orthodoxen Priestern und Hierarchen wie Erzpriester Artemij Vladimirov, Vater Gennadij Zaridze, Metropolit Mitrofan (Badanin) von Murmansk und Metropolit Sergij (Fomin) von Voronezh, der die Ukraine im April beschuldigte, ein „Instrument ... von Satans Werk, die christliche Zivilisation zu zerstören“, zu sein. Was all diese Stimmen, einschließlich diejenige Putins, gemeinsam haben, ist, dass sie aus einem tiefen Reservoir russischen (orthodoxen) Denkens über den Westen schöpfen, das wiederum die Art und Weise bestimmt, wie verschiedene Teile der russischen Gesellschaft Russlands Krieg gegen die Ukraine und, zumindest in ihren Köpfen, Russlands Krieg gegen den „satanischen Westen“ interpretieren und erleben.

Patrick Lally Michelson, Dr., Associate Professor am Departement für Religionsstudien an der Indiana University Bloomington.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.