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Die Orthodoxe Kirche der Ukraine nach dem Tomos und angesichts des Krieges

24. August 2023

Bohdan Ohultschanskyj

Momentan werden Nachrichten aus dem kirchlichen Bereich in der Ukraine vor allem von den Konflikten um die Zugehörigkeit von Kirchgebäuden und Kollaborationsvorwürfen in Richtung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche (UOK) dominiert. Über die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU) wird dagegen viel weniger berichtet. In diesem Beitrag lege ich meine persönliche Sicht auf die Entwicklung der OKU dar, der ich als Geistlicher angehöre.

Ukrainische Kirchen: Von der Unabhängigkeit der Ukraine bis 2019
Die 70-jährige sowjetische Diktatur züchtete den „sowjetischen Menschen“ heran, der im Paternalismus erzogen wurde und nicht an Eigenverantwortlichkeit gewöhnt war. Die Menschen, die in den 1990er und Anfang der 2000er Jahre in die Kirche kamen, waren ebenfalls von diesen Eigenschaften geprägt. Doch gab es auch bedeutsame Unterschiede zwischen den verschiedenen Konfessionen: Für diejenigen, die zur UOK kamen, war der nationale Faktor entweder nicht wichtig oder sie bezogen sich in ihrer kulturellen Identität auf den postsowjetischen oder russländischen Kulturraum. Gleichzeitig erlebten die Ukrainische Orthodoxe Kirche–Kyjiwer Patriarchat (UOK–KP) und die Ukrainische Autokephale Orthodoxe Kirche (UAOK) sowie die Ukrainische Griechisch-Katholische Kirche (UGKK) einen Zuwachs, was für den national orientierten Teil der Gesellschaft wichtig war und ein notwendiger Teil der nationalen Wiedergeburt. Da in den 1990er und Anfang der 2000er Jahren die postsowjetische Mentalität bei der Mehrheit der Bevölkerung weiterbestand (was sich in den Erfolgen der Kommunisten und Sozialisten in Parlamentswahlen bestätigte), hatten die national orientierten Kirchen jedoch spürbar weniger Anhänger als die UOK. Eine Ausnahme stellten lediglich die drei Gebiete der Westukraine dar, die nicht zum Russischen Imperium und bis 1939 nicht zur Sowjetunion gehört hatten.

Weitere Unterschiede bestanden im Verhältnis der Staatsmacht und der lokalen Behörden zu den Kirchen. Getreu der jahrhundertealten Tradition der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) verwandelte die UOK ihre Loyalität und Unterstützung für die Zentral- und Regionalbehörden erfolgreich in öffentliche und nicht öffentliche Privilegien, unter anderem Grundstücke, Unterstützung beim Kirchenbau durch regierungsnahe Unternehmen und Privilegien für das eigene Business. Im Gegensatz zu ihren Konkurrenten auf dem religiösen Feld hatte die UOK also eine viel bessere materielle Ausstattung und Möglichkeiten, öffentlich Einfluss zu nehmen.

Auch beim kirchlichen Binnenleben zeigten sich Unterschiede: Die Wichtigkeit des Rituellen und die Teilnahme an Gottesdiensten war bei den Gemeindemitgliedern der national ausgerichteten Kirchen deutlich geringer als bei den Anhängern der UOK. Das hängt vor allem damit zusammen, dass sich für die „Traditionalisten“, für die Gottesdienst und Ritual insgesamt wichtig sind, auch die „Marke“ der „Heiligen Rus‘“ als wichtig erwies, deren Besitzerin die ROK und mit ihr die UOK blieb. Andererseits waren die ukrainischen Kirchen viel stärker mit der ukrainischen Kultur (mit der Nationalkultur im gängigen Sinn des Worts) verbunden.

Gründung der OKU 2019
Seit 2019 hat sich die Situation in der ukrainischen Orthodoxie grundlegend verändert, da sich die UOK–KP, die UAOK und ein verhältnismäßig kleiner Teil der UOK zur OKU vereinigt haben, der das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel die Autokephalie verliehen hat. Zur vereinigten OKU gehören seit Beginn zwei vormalige Bischöfe der UOK sowie einige Dutzend Geistliche und aktive Laien. Eine solche Fusion verschiedener orthodoxer Gemeinschaften und Strukturen ist ziemlich selten und deshalb ein wichtiges Ereignis der Kirchengeschichte. Dabei vereinigten sich Strukturen, die im gleichen Territorium agierten. In einigen regionalen Zentren der Ukraine gab es Sitze von zwei oder sogar drei Bischöfen.

Gemäß dem neuen Statut der OKU sind nur drei Bischöfe ständige Mitglieder des Hl. Synods (der Vorsteher sowie die zwei ranghöchsten Bischöfe, die am Vereinigungskonzil die UAOK und die UOK vertreten hatten), die anderen Bischöfe werden reihum für jeweils ein Jahr Mitglieder des Hl. Synods. Bei zwölf Mitgliedern im Hl. Synod und insgesamt etwa 40 Bischöfen nimmt so innerhalb einiger Jahre die Mehrheit des Episkopats an der Erarbeitung grundlegender Entscheidungen in der Kirchenverwaltung teil. Darin unterscheidet sich die OKU wesentlich von der UOK, der ROK, aber auch der UOK-KP.

Obwohl am Vereinigungskonzil nur zwei Bischöfe der UOK teilnahmen, schlossen sich der OKU in den ersten Monaten und dann in den nächsten Jahren viele frei denkende Geistliche und Laien aus der UOK an, die für ihre Bildung und aktives öffentliches Handeln bekannt sind. Gleichgesinnte, die sich der OKU aus verschiedenen Jurisdiktionen angeschlossen hatten, schlugen in einem öffentlichen Dokument mit dem Titel „Zehn Thesen für die OKU“ einen ernsthaften Änderungsplan für die ganze Kirche vor. Darin ist auch ein Weg zur Überwindung der für die Moskauer Tradition üblichen Kluft zwischen Bischöfen und der übrigen Kirchengemeinschaft skizziert. Die Umsetzung der zehn Thesen wird Jahre dauern, aber es sich hat schon einiges in diese Richtung bewegt: Erwähnenswert ist die „Offene Orthodoxe Universität“, die ein breites Bildungsprogramm zum Selbststudium vorlegt hat, indem sie offen zugängliche Vorlesungen der besten ukrainischen Geisteswissenschaftler anbot, die auf christlicher Basis Aufklärungsarbeit betreiben. Zudem gibt es weitere Bildungs- und Sozialprogramme, die auf einen breiten Teilnehmerkreis zielen.

Symbolcharakter, wenn auch keine Veränderung der inneren Struktur, hat ein weiteres wichtiges Ereignis in der OKU: Im September 2023 geht die Kirche zum sog. Neujulianischen Kalender über, den die Mehrheit der orthodoxen Kirchen verwendet, und kappt die Verbindung zum Julianischen Kalender, nach dem sich die ROK richtet. Diese Entscheidung wurde sowohl von den Gläubigen der OKU als auch von der ukrainischen Gesellschaft insgesamt positiv aufgenommen.

Eine wichtige Entwicklung ist zudem die Überwindung der sog. „kanonischen Isolation“ der ukrainischen Kirchen, in der sie sich fast 30 Jahre befunden hatten. Mit der Gründung und Anerkennung der OKU hat sich die Möglichkeit für breite theologische Kontakte, Pilgermissionen und geschwisterlichen Austausch mit Christen aus verschiedenen Ländern eröffnet. Dank des christlichen Mitgefühls für die Ukraine, die unter dem von Putin entfesselten Krieg leidet, sind in den letzten Jahren die Beziehungen zu den Christen Europas und der ganzen Welt bedeutend erstarkt.

Neue Aufgaben angesichts des Kriegs
Die Frage nach der Rolle der Kirche während des Kriegs muss genauer formuliert werden: Was bedeutet der religiöse Glaube für einen Menschen, der sein Land und seine Nächsten verteidigt und dem Tod nahe ist? Wie seit dem Beginn der russischen Aggression 2014, so auch seit dem Ausbruch des umfassenden Kriegs 2022 ist es für die ukrainischen Soldaten sehr wichtig, dass es eine Kirche gibt, die die Verteidigung der Heimat als höchste Tugend und religiöse Heldentat betrachtet und mit ihrem Segen und Gebet Hoffnung auf das ewige Leben gibt. Ein solches Zeugnis der Kirche ist auch für die vielen Angehörigen und Nächsten der umgekommenen Soldaten wichtig, die die Kirche tröstet und denen sie hilft, mit der traurigen Nachricht umzugehen.

Seit Kriegsbeginn hat die OKU drei neue verantwortliche Abteilungen. Erstens leistet die Kirche –wie der ganze aktive Teil der Gesellschaft – den Soldaten an der Front und der von Beschuss betroffenen Bevölkerung konkrete Hilfe. Zu diesem Zweck baut die OKU als Ganzes, aber auch einzelne Gemeinden und Eparchien, freundschaftliche Beziehungen zu verschiedenen christlichen Kirchen und wohltätigen Organisationen in Europa auf.

Zweitens ist im Krieg der Dienst der Militärseelsorger wichtig geworden. Dies ist ein sehr verantwortungsvoller Dienst, in dem man die Erfahrung des persönlichen Glaubens unter extremen Umständen mit den Fähigkeiten eines Psychologen, Lebenserfahrung und militärischem Können kombinieren muss. Deshalb befinden sich die aufrichtigsten und opferbereitesten Geistlichen der OKU heute an der vordersten Front der Landesverteidigung.

Drittens befindet sich wegen der Kriegshandlungen ein sehr großer Teil der ukrainischen Bevölkerung, hauptsächlich Frauen und Kinder, außerhalb des Landes, und gerade die Kirche kann und muss sich um die ukrainische Diaspora kümmern. So hat sich für die OKU jenseits der Landesgrenzen ein verantwortungsvolles Betätigungsfeld eröffnet. Laut dem Autokephalie-Tomos ist die OKU allerdings verpflichtet, die Betreuung ihrer Gläubigen außerhalb der Ukraine ihrer Mutterkirche, d. h. dem Ökumenischen Patriarchat zu überlassen. Formal hat die OKU somit kein Recht, sich um ukrainische Flüchtlinge in europäischen Ländern zu kümmern, da es dort entweder eine eigene orthodoxe Lokalkirche (wie in Polen, Tschechien oder Bulgarien) oder Eparchien des Ökumenischen Patriarchats gibt. Die Polnische Orthodoxe Kirche erkennt die OKU jedoch nicht an, während mittlerweile über eine Million Ukrainer in Polen leben. In Deutschland, das ebenfalls rund eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine beherbergt, gibt es nur ein paar Gemeinden des Ökumenischen Patriarchats mit Geistlichen ukrainischer Herkunft. Auch in anderen Ländern kann das Ökumenische Patriarchat die Bedürfnisse der ukrainischen Flüchtlinge nicht befriedigen, und damit begünstigt es die Expansion der ROK und der UOK unter Ukrainer:innen in europäischen Ländern. Die OKU versucht diese Situation zu lösen, ohne die Beziehungen zum Ökumenischen Patriarchat zu belasten, indem sie Geistliche aus der Ukraine auf kurzfristige Dienstreisen zu orthodoxen Ukrainer:innen nach Europa schickt. Doch dies ist nur ein temporärer Ausweg. Deshalb erfordert dieses Problem eine unverzügliche Lösung, die die Möglichkeiten der OKU bei der Seelsorge in der Diaspora erweitert.

Angespanntes Verhältnis zur UOK
Die Position der Leitung der UOK besteht im Prinzip aus einer formalen Verurteilung der Handlungen des Aggressors, die kurz und trocken klang. Eine deutliche Kritik an der ROK und ihrem Patriarchen Kirill, die den Krieg unterstützen, fehlt praktisch. Gleichzeitig haben die ukrainischen Sicherheitsbehörden mindestens Dutzende (gemäß dem, was in den Medien gelandet ist) von Fällen, in denen Geistliche der UOK Russland mit Worten oder Taten unterstützten, festgestellt. Einige wurden von Gerichten verurteilt, die sie der Unterstützung des Aggressors für schuldig befanden. Zudem hat der Episkopat der UOK nicht auf die zahlreichen Schreiben seiner Geistlichen und Gemeindemitglieder reagiert, die fordern, eine proukrainische Position zu verkünden und auf eine reale, nicht fiktionale Trennung von der ROK hinzuwirken. Die aktivsten dieser Geistlichen erfahren vielmehr Druck und Repressionen seitens ihrer Leitung.

Daher ist die Reaktion der Gesellschaft logisch: Der größere Teil der Bevölkerung findet, dass die Tätigkeit der UOK von staatlichen Behörden entweder gestoppt (laut einer Umfrage von Ende 2022 finden das 54 Prozent der Befragten) oder streng kontrolliert (24 Prozent der Befragten) werden muss. Laut einer Meinungsumfrage im Januar 2023 bezeichneten sich nur 4 Prozent der Befragten als Anhänger der UOK, wobei sich 69 Prozent der Ukrainer als orthodox bezeichnen. Zur OKU gehörten demnach 41 Prozent der Befragten.

Das erklärt, warum Aktivist:innen die UOK vor Ort unter Druck setzen, insbesondere durch die Überführung von Kirchengebäuden von der UOK zur OKU. Die Verfahren können unterschiedlich stark juristisch begründet sein, aber grundsätzlich sind sie vom Ausmaß der Ablehnung gegen die UOK am jeweiligen Ort bestimmt. So gab es fast keine Übergaben von Kirchen in den östlichen Regionen der Ukraine und im Süden, wo die Position der UOK gefestigt ist. Obwohl die UOK öffentlich die OKU beschuldigt, ihr Kirchen wegzunehmen, geht die Initiative fast immer von zivilen Aktivisten und nicht der OKU aus.

Die Konflikte um Kirchengebäude führen dazu, dass momentan die Voraussetzungen für einen Dialog zwischen der OKU und der UOK völlig fehlen. Die Position der UOK wie der ROK beschränkt sich darauf, dass die OKU sich nicht als Kirche betrachten kann, da alle Weihen ukrainischer Geistlicher seit drei Jahrzehnten ungültig und die von ihnen gespendeten Sakramente ebenfalls ungültig seien. Als Vorbedingung für einen zwischenkirchlichen Dialog nannte die UOK die erneute Weihe der Geistlichen der OKU, was praktisch eine bedingungslose Absage an reale Kontakte bedeutet. Andererseits sieht die OKU keine kanonische Grundlage für die Existenz einer anderen orthodoxen Kirche in der Ukraine. Selbst wenn die UOK ihre tatsächliche Trennung von der ROK verkünden (z. B. indem sie die Lokalkirchen darüber informiert und die Bischöfe ihren Austritt aus allen Strukturen der ROK erklären, was bisher nicht geschehen ist) und den Dialog mit dem Ökumenischen Patriarchat wiederherstellen würde, worauf die proukrainischen Geistlichen der UOK bestehen, hält die Leitung der OKU daran fest, dass dies keine Grundlage für Strukturen einer anderen orthodoxen Kirche auf dem Territorium der Ukraine außer ihr selbst schafft. Hieraus folgt, dass die Strategie der OKU in einem ständigen Druck auf die UOK besteht, an dem sich Staat und Gesellschaft beteiligen. Dieser ist effektiv, da immer mehr Fakten über eine Unterstützung des russischen Aggressors durch Vertreter der UOK entdeckt werden. Im ukrainischen Parlament sind einige Gesetzesentwürfe hängig, die auf eine Liquidierung der Strukturen der UOK als religiöse Organisation aufgrund ihrer Unterstützung für den Aggressor zielen. Obwohl es eine ernsthafte und begründete Kritik an der juristischen Möglichkeit einer solchen Liquidierung gibt, ist ein entsprechender Parlamentsbeschluss nach Meinung des Autors höchstwahrscheinlich.

Aus einer rein politischen Logik gibt es keine Perspektive für die UOK, sollte die Ukraine im Krieg gegen Russland eindeutig siegen. Wenn aber der Ukraine kein eindeutiger Sieg gelingt, weil dazu der entscheidende Willen im Westen (von dessen Hilfe die Ukraine abhängt) fehlt, sondern irgendein langanhaltender Zwischenzustand eintritt, werden die Strukturen der UOK ungefähr im gleichen Zustand wie jetzt weiterbestehen. In einigen Regionen der Ukraine würde die UOK ihre Positionen verlieren, aber in einem bedeutenden Teil des Landes, vor allem im Osten und Süden, würde ihr Einfluss stark bleiben.

Insgesamt ist die OKU tatsächlich auf dem Weg zur einflussreichsten Kirche der Ukraine. Dabei ist dieser Einfluss nicht dominierend, da die Anwesenheit und Aktivität anderer christlicher Kirchen für die Ukraine wesentlich sind. Auch die Einflussmöglichkeiten der OKU, z. B. im Informationsbereich, sind ziemlich bescheiden, da die ukrainische Gesellschaft weitgehend säkularisiert ist. Zudem bedarf es einer Verbesserung der Bildungstätigkeit der OKU und der Qualität der religiösen Bildung der Geistlichen und Laien. Doch insgesamt ist die Informationspolitik der OKU vernünftig, es findet ein stetiger Dialog mit der Gesellschaft statt, ohne den nichtkirchlichen Teil der Gesellschaft zu verärgern.

Bohdan Ohultschanskyj, Priester der OKU (bis 2018 UOK), Dozent an der Offenen Orthodoxen Sophia-Universität in Kyjiw.

Übersetzung aus dem Russischen: Natalija Zenger.

Bild: Metropolit Epifanij (Dumenko) am Vereinigungskonzil der OKU, an dem er zu deren Oberhaupt bestimmt wurde (© Presidential Administration of Ukraine, Mikhail Palinchak)