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Unter Beschuss: Die Verklärungskathedrale in Odessa

27. Juli 2023

Die Verklärungskathedrale in Odessa. (© Konstantin Brizhnichenko, CC BY-SA 4.0)

Boris Belge
In der Nacht vom Samstag, 22. Juli auf Sonntag, 23. Juli 2023 zerstörte ein russischer Angriff zwischen 1 und 2 Uhr Teile der Verklärungskathedrale in Odessa.[1] Eine Rakete schlug in der Petrus-Kapelle ein, in der die Kasperov-Ikone der Muttergottes verwahrt wurde. Nach dem Einschlag brach ein Feuer aus; Fundament und Säule wurden beschädigt, Rotunde und Altar waren ebenfalls schwer getroffen.[2] Die Kathedrale erlebte in dieser Nacht die zweite Zerstörung in ihrer Geschichte. Bereits 1936 hatte Stalin das originale Gebäude sprengen lassen. Beide Zerstörungsakte bedeuteten für Odessa eine von außen aufgezwungene historische Zäsur, einen Bruch mit der Vergangenheit und eine forcierte Neuorientierung. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass das Bombardement der Kathedrale vom 23. Juli ein nicht zu übersehendes Fanal für das Ende des postimperialen, postsowjetischen Odessa ist, das sich wie die gesamte Ukraine geeint und geschlossen wie nie zuvor in eine Zukunft politischer und kultureller Eigenständigkeit begibt.

Am Ende des 20. Jahrhunderts nahm Odessa Fühlung mit seiner eigenen imperialen Vergangenheit auf.[3] 1996 begannen Ausgrabungen an jenem Ort, an dem etwas mehr als 60 Jahre zuvor eine der größten orthodoxen Kathedralen des ehemaligen Russländischen Reichs gestanden hatte und deren Besuch im 19. Jahrhundert Pflichtprogramm für Reisende nach Odessa gewesen war: Die Verklärungskathedrale (ukrainisch Спасо-Преображенський кафедральний собор) war wie das Katharinendenkmal eines jener aus dem Stadtbild verschwundenen Symbole, das Besuchern von Odessa einst den Mythos von der prometheischen Stadtgründung durch Zarin Katharina II. und die imperiale Pracht des 19. Jahrhunderts vor Augen geführt hatte.[4] Bereits 1795 erhielt der Ingenieur V. Vonrezant den Auftrag, eine steinerne Kirche zu bauen, die nach Verzögerungen 1808 eingeweiht wurde. Im 19. Jahrhundert wuchs das Gebäude des Kirchenkomplexes beträchtlich. Als Odessa 1837 zum Zentrum der Diözese Cherson aufrückte, wurde aus der Kirche eine Kathedrale. In den folgenden Jahren wurde der freistehende Glockenturm überbaut und der Innenraum weiter ausgestaltet. 1903 war die Kathedrale eine der größten Kirchenbauten (die Größe betrug 90 x 45 Meter) des russländischen Reiches und fasste bis zu 9000 Menschen.

hintergrund belge Vue de Odessa La CathedraleEine Postkarte mit der Verklärungskathedrale aus dem frühen 20. Jahrhundert (gemeinfrei)

Der antireligiöse Furor des Stalinismus erfasste Odessa und seine Kathedrale zu Beginn der 1930er Jahre. Sie wurde 1932 geschlossen und im Frühjahr 1936 erging der Beschluss, das Kirchengebäude zu sprengen. Damit wollte der Diktator die zarische Vergangenheit vergessen machen und den Stadtraum mit neuen sowjetischen Symbolen ausstatten.[5] Seine Helfer waren darüber hinaus auch von profaneren Motiven getrieben. Ein Großteil des Interieurs wurde vor der Sprengung geräumt, der Verbleib wertvoller Kirchengüter ist bis heute unbekannt.

Auch wenn die Kathedrale aus dem Stadtbild getilgt worden war, so blieb dieses markante Gebäude während der Sowjetzeit in Erinnerung. In den postsowjetischen 1990er Jahren warben lokale Initiativen für einen Wiederaufbau, unterstützt durch die Russische Orthodoxe Kirche. Nachdem das Fundament archäologisch freigelegt wurde, begannen 1999 die Bauarbeiten zur Wiedererrichtung, deren Kosten 32 Millionen Hrywnja betrugen und die von der durch Spenden finanzierten „Orthodoxen Schwarzmeer-Stiftung“ getragen wurden. Für den Wiederaufbau setzte sich besonders der damalige Bürgermeister Ruslan Bodelan ein, der von 1998 bis 2005 amtierte und sich aufgrund von Vorwürfen des Wahlbetrugs und des Amtsmissbrauchs nach der Orangenen Revolution nach Russland absetzte und nach dem Wahlsieg Viktor Janukovytschs wieder nach Odessa zurückkehrte.

Die Kathedrale nahm 2005 die Urnen des Ehepaars Voronzov wieder auf und beinhaltete damit die sterblichen Überreste jenes Generalgouverneurs, der wie kaum ein anderer für den Aufstieg der Stadt zu wirtschaftlichem Reichtum, multiethnischem Charakter und kultureller Größe stand. 2008 läutete die 14-Tonnen-Glocke zum ersten Mal – und 2010 weihte mit Kirill  (Gundjajev) ein Patriarch die Kirche ein, der zwölf Jahre später jene russischen Soldaten segnen sollte, die mit ihren Bomben und Raketen die ukrainische Zivilbevölkerung terrorisieren, unschuldige Menschen ermorden und orthodoxe Kirchengebäude auf dem Gebiet der Ukraine zerstören.

Mit der Einweihung der Kirche im Jahr 2010 war die Verwandlung der Stadt von einer ehemals sowjetischen zu einer ukrainischen Stadt abgeschlossen, die sich wieder an ihre Geschichte als Handels- und Frontstadt im russländischen Imperium erinnerte. Die (Über-)Betonung der russländisch und zarisch geprägten Vergangenheit war dabei keineswegs widerspruchsfrei – vielmehr entzündeten sich in den 2000er und 2010er Jahren heftige Debatten um die vor-russische Geschichte von Stadt und Region, um das angemessene Gedenken an die katharinäische Zeit, die auch als unterdrückende, kolonisierende Herrschaft beschrieben wurde, und, wie in der ganzen Ukraine, um die Rolle der Ukrainischen Orthodoxen Kirche.

In den Augen vieler stand die Verklärungskathedrale in Odessa, ähnlich wie das Kyjiwer Höhlenkloster, für die fortdauernde Präsenz der als „russisch“ wahrgenommenen Ukrainischen Orthodoxen Kirche-Moskauer Patriarchat, von der sich die von der Weltorthodoxie nicht anerkannte Ukrainische Orthodoxe Kirche-Kyjiwer Patriarchat abgrenzte, die 2018 in der autokephalen (eigenständigen) Orthodoxen Kirche der Ukraine aufging. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche hat seit der russischen Invasion der gesamten Ukraine die Verbindungen zum Moskauer Patriarchen gekappt und sich am 27. Mai 2022 von ihr losgesagt.[6] Dennoch war die wiederrichtete Kathedrale ein Symbol für die gemeinsame Geschichte von ukrainischer und russischer Orthodoxie. Die Aufnahme der Altstadt in die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes im Januar 2023 schützte den Sakralbau nicht vor der Zerstörung.

Transfiguration Cathedral in Odesa after Russian missile attack 2023 07 23 41Die Schäden an der Verklärungskathedrale nach dem russischen Raketenangriff. (© mkip.gov.ua, CC BY 4.0)

Vladimir Putin gefiel sich seit 2014 in der Rolle eines „Verteidigers des orthodoxen Glaubens“. Für den russländischen Angriffskrieg gegen die Ukraine und die Installation von Marionettenregimes im Donbas brachte er viele, größtenteils konstruierte, überzeichnete oder faktisch falsche Begründungen in Anschlag. Eine davon war der Schutz der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, die ihm zufolge von der Kyjiwer Regierung und ihren Anhänger:innen unterdrückt und marginalisiert werde.[7]

Nach dem Raketeneinschlag beantworteten die Bewohner:innen Odessas diese Unterstellung auf ihre eigene Art und Weise: Schon am nächsten Tag räumten Freiwillige den Schutt in der Kirche weg, vor der Kirche zelebrierten sie einen Gottesdienst und sie gaben dem Kathedralenplatz, der „Soborka“ (zu Sowjetzeiten Platz der sowjetischen Armee), an dem sich in Friedenszeiten Fußballfans, Schachenthusiasten und Dominospieler im Sommer versammelten, ihre Arbeit, ihre Aufmerksamkeit und ihre Leidenschaft. Die stark beschädigte Kirche spaltete nicht, sondern wurde wie der vorgelagerte Platz zum Ort der Vergemeinschaftung.

Boris Belge, Dr., Ambizione Fellow des Schweizerischen Nationalfonds am Departement Geschichte der Universität Basel

 

[1] Ich verwende für die Schreibung von Städten die ukrainischen Bezeichnungen – das gilt auch für Odessa. Diese Stadt wird zwar im Ukrainischen mit einem „s“ geschrieben, jedoch ins Deutsche mit Doppel-s übertragen. Dadurch wird sichergestellt, dass das „s“ stimmlos gesprochen wird wie in „Kasse“ und nicht stimmhaft wie in „Riese“.

[2] https://meduza.io/feature/2023/07/24/v-1930-e-sovetskaya-vlast-vzorvala-spaso-preobrazhenskiy-sobor-v-odesse-v-2023-m-on-snova-v-ruinah-po-vine-rossii

[3] Zur Geschichte der Stadt Odessa vgl. Belge, Boris: Odessa, in: https://www.dekoder.org/de/gnose/odessa-hafenstadt-ukraine sowie King, Charles: Odessa: Genius and Death in a City of Dreams, New York2011.

[4] Zur Kritik an dieser Erzählung vgl. z.B. https://www.istpravda.com.ua/articles/2022/12/13/162159/

[5] Die Sprengung hatten ihren Vorläufer in der Zerstörung der Christi-Erlöser-Kathedrale in Moskau 1931, vgl. https://www.spiegel.de/fotostrecke/architektur-wahnsinn-fotostrecke-107911.html

[6] Mitrokhin, Nikolay: Endgültig zerbombt. Die Scheidung der Ukrainischen Orthodoxen Kirche von der Russischen Orthodoxen Kirche. In: Osteuropa, 4-5.2022, S. 79–98.

[7] https://www.kas.de/documents/252038/7442725/Putins+heiliger+Krieg.pdf/1b49595a-f5e3-cf72-f38d-461d3a03ca2f?version=1.0&t=1647257440294