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Orthodoxer Metropolit muss Estland wegen unklarer Aussagen zum russischen Angriffskrieg verlassen

25. Januar 2024

Aufgrund seiner kontroversen Aussagen über den russischen Angriffskrieg muss Metropolit Evgenij (Reschetnikov) Estland verlassen. Wie ist es zu dieser Entscheidung gekommen?
Die Entscheidung, die Aufenthaltsbewilligung von Metropolit Evgenij, einem russischen Staatsbürger, nicht zu verlängern, geht auf Anfang 2022 zurück und hat mit seinen kontroversen Aussagen über Russlands Krieg gegen die Ukraine zu tun. Diese begannen schon vor Russlands Invasion in die Ukraine. Am 5. Februar 2022 veröffentlichte die größte estnische Tageszeitung Postimees einen Artikel über das Vorgehen der Russischen Orthodoxen Kirche (ROK) in Afrika, wo das Moskauer Patriarchat in das Territorium des Patriarchats von Alexandria eingedrungen ist und entgegen den orthodoxen Kanones eine Parallelstruktur errichtet hat. Als Reaktion behauptete Evgenij in einem Artikel, dass die ROK die Anschuldigungen zurückweise, dass sie sich in der Politik engagiere.

Kurz vor Russlands Großangriff auf die Ukraine im Februar 2022 veröffentlichte die Estnische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (EOK–MP) eine Sonderausgabe auf Estnisch und Russisch, in der sie die Unabhängigkeit der Orthodoxen Kirche der Ukraine (OKU) kritisierte und das historische Recht der ROK auf das Gebiet Estlands verteidigte. Der estnische Auslandsgeheimdienst erwähnte die Sonderpublikation der EOK–MP in seinem Jahrbuch 2022 als ein Beispiel, um einen zweckmäßigen Grund für einen militärischen Angriff zu kreieren.

Die Rede des russischen Patriarchen Kirill vom 24. Februar, als der Krieg begann, wurde am nächsten Tag auf der Website der EOK–MP publiziert. Dem folgte am 2. März ein offizielles Statement von Metropolit Evgenij, in dem er warnte, dass eine Menge Falschinformationen im Umlauf sei, was Hass schüren könne. Zudem mahnte er „alle, bei der Verbreitung von Gerüchten vorsichtig zu sein und nicht dem Schüren von Hass zu erliegen, was eine bereits komplizierte Situation erschweren könnte“. Er rief zum Gebet für einen baldigen Frieden auf, verurteilte aber in seinem Statement die russische Aggression nicht. Zugleich sagte er, dass politische Spaltungen und Krieg Christen nicht trennen sollten.

Der Rat Christlicher Kirchen Estlands, der zehn christliche religiöse Organisationen vereint (darunter beide orthodoxen Kirchen: die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche (EAOK), die zum Ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel gehört, und die EOK–MP), nahm zunächst eine zurückhaltende Position ein und beeilte sich nicht, etwas zur Ukraine zu sagen. Aber am 17. März, also fast einen Monat nach Kriegsbeginn, verabschiedete er endlich ein Statement. Es bezog sich auf die Resolution der UN-Generalversammlung, die Russlands Aggression verurteilte, und erklärte seine Solidarität mit der Position der UN. Angriffe auf zivile Objekte wurden eigens verurteilt. Auch Metropolit Evgenij unterzeichnete das Statement.

In einem Interview vom 30. März weigerte sich Evgenij jedoch, Russland als Aggressor anzuerkennen, und gab zu, dass ein Verweis auf den russischen Präsidenten Vladimir Putin im Statement des Rat Christlicher Kirchen Estlands auf Wunsch seiner Kirche weggelassen worden sei. Er sagte, er sei mit dem Statement des Rats einverstanden gewesen, hätte es aber jedem selbst überlassen zu entscheiden, wer am Krieg schuld und wer der Aggressor sei. Weil er sich mit Politik nicht auskenne, könne er nicht sagen, wer am Krieg schuld sei, fügte er hinzu. Zudem habe er die russische Seite behaupten gehört, dass der russische Angriff präventiv war, um einen Angriff auf die Ukraine einige Tage später zu verhindern. Laut Metropolit Evgenij lag die Verantwortung zur Konfliktlösung also auch beim Westen.

Die unklaren Statements von Evgenij nach dem russischen Angriff lösten in der estnischen Öffentlichkeit eine Debatte aus, ob die Aktivitäten der EOK–MP in Estland eingeschränkt oder verboten werden sollten. Die Diskussionen und die vagen Aussagen Evgenijs dauerten während des folgenden Jahrs an.

Am 18. Oktober 2022 gab er ein Interview, das einen Tag später in Pealtnägija, einer der beliebtesten wöchentlichen Sendungen im estnischen Fernsehen, ausgestrahlt wurde. Während des Interviews erinnerte ihn die Moderatorin Uljana Kuzmina, dass er, als er im Frühling im Studio gewesen war, keine klare Einschätzung zu den Ereignissen in der Ukraine abgegeben hätte. Fast acht Monate waren seitdem vergangen und die Welt hatte von Butscha, Izjum und anderen Gräueltaten erfahren, so war die wiederholte Frage, ob der Metropolit seine Haltung zum Krieg in der Ukraine definiert habe, gerechtfertigt. Evgenij antwortete, dass er Krieg immer als Übel betrachtet habe und deshalb die Kirche gegen den Krieg sei. Als er nochmals gefragt wurde, ob er gegen den Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, sei, war er nicht mehr so sicher und nahm Abstand davon, Russland für den Krieg verantwortlich zu machen. Zudem war er nicht gewillt, eine Position zur Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit des Kriegs zu beziehen: „Ob es gerecht oder ungerecht ist, können wir nicht immer sagen, weil nach einiger Zeit – das habe ich schon im letzten Interview gesagt – Dokumente und andere Sichtweisen zum Vorschein kommen können, und dann zeigen sie mit dem Finger darauf, dass einer das gesagt hat, aber es war nicht wirklich so. Die Kirche mischt sich in dieser Angelegenheit nicht in die Politik ein und versucht sich von der Bewertung der Ereignisse zu distanzieren. Krieg an sich ist böse.“

Das Interview fand statt, nachdem Evgenij ins Innenministerium zitiert worden war, um zu klären, ob er mit den Aussagen von Patriarch Kirill einverstanden sei. Letzterer hatte in einer Predigt am 25. September 2022 gesagt, dass russischen Soldaten, die in der Ukraine fallen, alle Sünden vergeben werden. Kirills Aussage löste in Estland große öffentliche Unruhe über die Beteiligung der Kirche an Russlands Krieg gegen die Ukraine aus. Evgenij erklärte sich mit dieser einen Aussage des Patriarchen nicht einverstanden, aber nur weil sie auf verwirrende Art geäußert worden sei. Dann bot er die überraschende Erklärung an, dass der Patriarch eigentlich nicht zum Krieg angestachelt habe, sondern versucht habe, sich um die Menschen zu kümmern, damit sie in dieser schwierigen Lage nicht ihre Menschlichkeit verlieren. Metropolit Evgenijs Aussagen verstärkten in der estnischen Öffentlichkeit die Ansicht, dass die EOK–MP als Teil der ROK in Estland die sog. Russische Welt verkörpert, die ein Grundpfeiler der russischen imperialistischen Ambitionen und die ideologische Basis des aktuellen Kriegs ist.

Am 31. Januar 2023 wurde Evgenij zum zweiten Mal ins Innenministerium geladen, um seine Teilnahme an einer politischen Demonstration zu erklären. Kurz vor den estnischen Parlamentswahlen im März 2023 hatte Metropolit Evgenij zusammen mit Aivo Peterson und Oleg Ivanov, zwei Vertretern der NGO Koos („Zusammen“), in den sozialen Medien ein Video veröffentlicht, in dem sie zu einem Gebet für Frieden einluden. Laut dem Innenministerium hatte sich die NGO wiederholt kremlfreundlich geäußert. Nach hitzigen Reaktionen estnischer Politiker, die verlangten, dass Evgenijs Aufenthaltsgenehmigung widerrufen würde, wenn er mit Koos kooperieren sollte, entschied dieser sich zurückzuziehen und das Gebet abzusagen, wobei er behauptete, seine Kirche sei auf eine Provokation hereingefallen.

Peterson und Ivanov registrierten die NGO Koos als politische Partei, aber am 11. März 2023 wurde Peterson vom estnischen Inlandgeheimdienst wegen Verdachts auf Verrat verhaftet. Danach reiste Oleg Ivanov nach Russland aus und erklärte, er werde die Partei von dort aus weiterleiten.

Am 18. Januar 2024 verkündete Innenminister Lauri Läänemets, dass der Ausschuss der estnischen Polizei und Grenzwache entschieden habe, die Aufenthaltsbewilligung von Metropolit Evgenij nicht zu verlängern. Vertreter des Innenministeriums erwähnten, dass sie sich mehrmals mit dem Metropoliten getroffen und ihm erklärt hätten, dass er aufhören müsse, in seinen Statements das Kremlregime und Russlands militärische Aktionen zu unterstützen. Aber trotz dieser Warnungen hätte dieser sein Verhalten nicht geändert. So förderte der Metropolit russische Narrative über den Krieg und wurde als mögliches Sicherheitsrisiko für Estland eingestuft.

Wie hat die EOK–MP auf diese Entscheidung reagiert? Haben die anderen Religionsgemeinschaften im Land die Entscheidung kommentiert?
Am 18. Januar, als die Entscheidung publik wurde, veröffentlichte de EOK–MP eine Pressemitteilung, in der sie die Entscheidung nicht kommentiert, aber alle Mitglieder der Kirche zu verstärkten Gebeten für den Metropoliten und die Kirche aufruft. Der Vorsitzende des Rat Christlicher Kirchen Estlands hat das Innenministerium gebeten, die Details der Umstände – so weit möglich – zu erklären, die zur Entscheidung geführt hätten. Vertreter des Rats und des Innenministeriums treffen sich am 26. Januar.

Die EAOK erklärte in einer Pressemitteilung, die Frage betreffe die Sicherheit der Republik Estland, was eine Angelegenheit der zuständigen staatlichen Institutionen sei. Da die Angelegenheit nicht das kanonische Verhältnisse der EAOK zur ROK oder ähnliche Fragen betreffe, hätte die EAOK nichts zu kommentieren.

Der einzig kritische Kommentar wurde auf der ultrakonservativen Website Meie Kirik (Unsere Kirche) veröffentlicht. Die Redakteure der Website hatten schon 2023 die Haltung des Staats kritisiert, von Metropolit Evgenij Antworten zu verlangen, und das als Angriff auf alle Christen in Estland interpretiert. Am 23. Januar schrieben drei lutherische Pastoren einen offenen Brief an den Innenminister und forderten, dass die Entscheidung revidiert wird. Daraufhin ist ein Streit unter den Konservativen ausgebrochen, weil nicht alle mit der Meinung der Pastoren einverstanden sind und der Brief stattdessen scharf kritisiert wurde.

Wie waren die Reaktionen in der estnischen Gesellschaft?
In den letzten zwei Jahre haben estnische Medien wiederholt Artikel über die ROK und die EOK–MP publiziert, wobei sie letztere als Teil der ROK bestimmten, die in Estland die sog. Russische Welt verkörpert. Daher wurde die Entscheidung, Metropolit Evgenijs Aufenthaltsbewilligung nicht zu verlängern, in keiner Weise kritisiert. In der größten estnischen Tageszeitung Postimees hieß es, dass die kontroverse Einstellung des Metropoliten gegenüber dem Krieg in der Ukraine und seine Position als Vertreter eines feindlichen Staats und zugleich als einflussreicher religiöser Anführer zu Recht als Sicherheitsbedrohung für die Republik Estland betrachtet würden.

Priit Rohtmets, Dr., außerordentlicher Professor für Kirchengeschichte an der Universität Tartu und Professor für Kirchengeschichte am Theologischen Institut der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche.

Übersetzung aus dem Englischen: Natalija Zenger.

Bild: Metropolit Evgenij (Reschetnikov) 2021 in der Kirche der Moskauer Geistlichen Akademie. (Foto: Moskauer Geistliche Akademie, CC BY-SA 2.0 DEED)