Kirchenleitung gegen Regierung. Zur jüngsten Protestbewegung in Armenien
Noch nie seit der Unabhängigkeit Armeniens hat sich die Armenische Apostolische Kirche so deutlich politisch positioniert wie angesichts der jüngsten Protestbewegung „Tavusch für das Mutterland“. Ein Geistlicher hat sogar die Führung der Bewegung übernommen. Damit hat die Kirchenführung ihre Karten auf den Tisch gelegt und die Unzufriedenheit, die sich gegen die aktuelle Regierung und vor allem gegen Ministerpräsident Nikol Paschinjan aufgestaut hat, offengelegt.
Es ist eine ungewöhnliche Situation, weil die Armenische Apostolische Kirche bis Mai 2018 trotz vieler sozialer und politischer Probleme im Lande praktisch nichts gesagt hat. Abgesehen von einzelnen Geistlichen, die Ausnahmen geblieben sind und meistens mit der Aberkennung der Priesterwürde bedroht oder sogar bestraft wurden, ist die Kirchenleitung völlig stumm geblieben.
Als 2018 die friedliche Revolution stattfand, gab es einen deutlichen Kurswechsel in Richtung Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Unmittelbar danach zeigten auch einige Geistliche ihre Sympathie für diese Ereignisse. Darunter waren zunächst auch Erzbischof Bagrat Galstanjan aus der Diözese von Tavusch sowie sein ehemaliger geistlicher Mentor, Erzbischof Mikael Ajapahjan aus der Diözese von Schirak. Die Kirchenleitung reagierte jedoch sehr zurückhaltend, um nicht zu sagen völlig gegen diese Änderungen. Daher waren die Beziehungen zwischen der neuen Regierung und der Kirche in den letzten sechs Jahren ziemlich angespannt, und es brachen immer wieder verschiedene Konflikte, beispielsweise über die Abschaffung des Religionsunterrichts in den öffentlichen Schulen, auf.
Diese Situation verschlechterte sich nach dem verlorenen Krieg in Berg-Karabach Ende 2020. Die Kirchenführung begann damals erstmals öffentlich Paschinjans Rücktritt zu fordern, wobei diese Forderung zunächst nur als „väterliche Empfehlung“ (arm. Hayrakan hordor) bezeichnet wurde. Einige Priester bedienen sich seitdem einer noch deutlicheren und ziemlich aggressiven Sprache. Dabei wurde offenkundig, dass sich die Kirche mehr und mehr dem alten, moskautreuen Regime der ehemaligen Präsidenten Robert Kotscharjan und Sersch Sargsjan anschließt.
2021 hatte Kotscharjan zunächst in einem Interview verkündet, dass die Opposition einen hochrangigen Geistlichen als unparteiischen Anführer der Straßenproteste brauche, um Paschinjan zu stürzen. Höchstwahrscheinlich war ihm und seinen Anhängern klar geworden, dass die Mehrheit der Bevölkerung Armeniens nie wieder den zutiefst korrupten politischen Vertretern des alten Regimes folgen würde. Daher wäre ein guter Prediger wie Erzbischof Galstanjan aus seiner Sicht für die Mobilisierung des Volks optimal. Danach war der Primas der Diözese von Tavusch bei den oppositionellen Protesten immer wieder dabei und trat in den Medien und sozialen Netzwerken als Sprachrohr der Antiregierungsproteste auf.
Parallel dazu haben die beiden Katholikoi der Armenischen Kirche, Karekin II. von Etschmiadzin und Aram I. von Antelias, immer wieder durch offizielle Stellungnahmen und zum Teil auch durch synodale Beschlüsse die Regierung in Jerewan kritisiert. Vielleicht erhielt Katholikos Karekin II. kurz vor der Blockade des Latschin-Korridors im Dezember 2022 genau dafür eine Medaille als besondere Auszeichnung vom russischen Präsidenten Vladimir Putin. Sowohl die oppositionellen Politiker als auch die Kirchenleitung verurteilten die radikale neunmonatige Blockade und die gewaltsame ethnische Säuberung von Berg-Karabach/Arzach, schoben die gesamte Schuld aber auf die schlechte Arbeit von Paschinjan und forderten das Volk indirekt zu einem Umsturz auf. Trotzdem gab es in der Bevölkerung keinen wirklichen Aufstand.
In diesem Jahr hat nun der Prozess der Grenzbereinigung zwischen Armenien und Aserbaidschan begonnen, was vom Westen begrüßt wurde. Unglücklicherweise begann die Arbeit in der Region Tavusch, wo Erzbischof Bagrat die Kirche leitete. Zunächst protestierte er gegen die Grenzziehung, weil die Republik Armenien dadurch angeblich territoriale Verluste erleide. Nachher kritisierte er immer mehr die Regierung, wodurch seine politischen Forderungen plötzlich stiegen.
Am 9. Mai, der in Armenien als der Tag des Siegs im Zweiten Weltkrieg gefeiert wird, kam Bagrat Galstanjan als – so seine Bezeichnung – „ein Pilger“ nach Jerewan und forderte vor rund 35‘000 Anwesenden den Rücktritt von Paschinjan. In einem Ultimatum gewährte er nur eine Stunde Bedenkzeit, die nachher noch um 15 Minuten verlängert wurde. Allerdings wollte er dabei noch kein politisches Programm vorstellen. Einige Tage später erklärte er sich selbst zum Kandidaten für das Amt des Ministerpräsidenten , wofür all seine geistlichen Ämter eingefroren wurden. Dies führte zu einem heftigen Streit unter den lokalen Bischöfen, weil nicht alle damit einverstanden waren und es ein derartiges Verfahren in der Kirchengeschichte Armeniens niemals zuvor gegeben hatte. Das Amt eines Diözesanbischofs ist in jeder orthodoxen Kirche gleich wie der Apostelstatus, daher darf es niemals einfach so niedergelegt bzw. „eingefroren“ werden.
Auch der Großteil der Bevölkerung hat sich nicht hinter ihn gestellt. Sogar die Zahl der direkten Anhänger ist sehr schnell auf ca. 300-400 Personen gesunken, weil in einem derart kleinen Land fast alle wussten, wer von den oppositionellen Kräften tatsächlich die Fäden zog, bzw. wie stark Katholikos Karekin II. und Robert Kotscharjan dabei vom Kreml gesteuert werden.
Wie sich dieser politische Konflikt angesichts der riesigen Herausforderungen, vor denen Armenien steht, weiterentwickeln wird, ist offen. Abschließend möchte ich aber noch die aus meiner Sicht zentralen Ursachen, die am Ursprung dieses Konflikts zwischen der Kirche und der aktuellen Regierung stehen, festhalten:
- Die Armenische Apostolische Kirche steckt, wie auch einige andere orthodoxe Kirchen im Osten, noch in einem klassischen ideologischen Paradigma fest und lehnt alle liberalen Änderungen ab. Genauso wie die römisch-katholische Kirche während des Ersten. Vatikanischen Konzils im 19. Jahrhundert will nun die armenische Kirche auch dem säkularen Geist der (post-)modernen Zeit mit allen möglichen Mitteln widerstehen, ohne auf die destruktiven Konsequenzen Rücksicht zu nehmen.
- Die Kirchenleitung bleibt sowohl mental als teilweise auch administrativ weiterhin dem sowjetischen Erbe verhaftet und ist dadurch sehr stark vom Moskauer Regime abhängig. Ein ähnliches Beispiel bot kürzlich die Veröffentlichung von Akten in der Schweiz über Patriarch Kirill von der Russischen Orthodoxen Kirche. Diese zeigten, dass er als junger Geistlicher in Genf in der Zentrale des Ökumenischen Rats der Kirchen hauptsächlich die Interessen des sowjetischen Staates vertrat. Jeder hochrangige armenische Geistliche aus der Sowjetunion war genauso verpflichtet, dem Kreml zu dienen, was leider zum Teil bis heute gilt.
- Wenn schließlich die jüngsten Ereignisse in Georgien bzw. mit der Georgischen Orthodoxen Kirche berücksichtigt werden, sehe ich persönlich mit Blick auf den Südkaukasus ein Scheitern der ökumenischen Bewegung und der europäischen Integration. Denn wären die internationalen und zwischenkirchlichen Beziehungen gut entwickelt und stark, hätte ein Erzbischof wie Bagrat, der im Westen studiert und gearbeitet hat, nie mit so einem antiwestlichen Kurs und militaristischer Rhetorik seine Anhänger motivieren und über einen derart verzweifelten innenpolitischen Revanchismus öffentlich predigen können.
Harutyun G. Harutyunyan, Dr. theol., Dozent für Religionswissenschaften an der Amerikanischen Universität von Armenien, Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Staatlichen Universität Jerewan und Projektberater in der Diözese der Armenisch-Apostolischen Kirche in Vayots Dzor.
Die Urfassung dieses Beitrags wurde im Rahmen der Online-Diskussion „Armeniens neue Protestbewegung - innenpolitische Herausforderung und mögliche Konsequenzen“ beim Kaukasus Netzwerk des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien (ZOiS) am 9. Juli 2024 präsentiert.
Bild: Protestveranstaltung am 12. Mai 2024 auf dem Platz der Republik in Jerewan. (CC0 1.0 Universal)