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Orthodoxe Theologie im 21. Jahrhundert. Bericht von einem Internationalen Kongress in Athen, 24.-28.11.2024

16. Januar 2025

Andreas Müller

Orthodoxe Theologie ist keine starre Wissenschaft, die lediglich die Tradition betrachtet und keine Perspektiven in die Gegenwart oder gar Zukunft entwickelt. Orthodoxe Theologie positioniert sich auch angesichts aktueller kultureller und selbst politischer Herausforderungen jeweils neu, wenn auch auf der Basis einer langen und prägenden Tradition. Dies wurde bereits bei der ersten Internationalen Konferenz der Orthodoxen Fakultät in Athen 1936 im Umfeld ihres 100-jährigen Bestehens deutlich. Auf dieser Konferenz hatten insbesondere Theologen aus der russischen Diaspora neue Akzente für die orthodoxe Theologie gesetzt: Georges Florovskij und sein in Athen vorgetragener neopatristischer Ansatz „vorwärts zu den Vätern“ prägte die Entwicklungen der orthodoxen Theologie stark. Dabei grenzte sie sich fortan deutlich von Einflüssen westlicher Theologie ab, die zu einer „Pseudomorphosis“ orthodoxer Theologie geführt hätten. Nach einer zweiten großen Athener Konferenz 1976, die u .a. die Rolle der Orthodoxie im ökumenischen Kontext neu beleuchtete, fand nun vom 24.-28. November 2024 die dritte Konferenz statt, deren Thema „Orthodoxe Theologie im 21. Jahrhundert“ lautete.

Nicht nur die Themenstellung war weit gesteckt, auch die Vortragenden kamen aus fast allen Gegenden der orthodoxen Welt. An einem Tag waren mehr als 30 Vorträge zu hören, was zwangsweise dazu führte, dass eine herausstechende Themenfixierung kaum deutlich wurde. Vielmehr führte die Konferenz vor Augen, dass orthodoxe Theologie vielfältig ist. Von eher konservativ retardierenden Ansätzen, Wiederaufnahmen der neopatristischen Ansätze bis hin zu solchen, die sich den aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen stellen und eine Theologie der Zukunft entwickeln, waren alle Tendenzen zu beobachtenden. Dabei kamen insbesondere aus der – keineswegs unproblematisch so genannten – „Diaspora“ und u. a. von Vertreter:innen der Orthodoxen Akademie aus Volos Stimmen, die einen kritischen Umgang mit hierarchischen Strukturen und eine bescheidenere Selbsteinschätzung forderten.

Zentral blieb bei der gesamten Konferenz ihr Anspruch, den ihr Hauptorganisator Stavros Yangazoglou deutlich benannte: Es gehe eher darum, Probleme festzustellen, als sie definitiv zu lösen. Zahlreiche Fragen, die auch zeitgenössische Themen wie den konfessionellen Religionsunterricht an den Schulen oder den Umgang mit Bioethik betreffen, wurden dementsprechend gestellt und teilweise zu beantworten versucht. Dadurch sollte ein Blick in die Zukunft eröffnet werden. Eine zentrale Weichenstellung für die Zukunft benannte allerdings kein Theologe, sondern der ehemalige griechische Außenminister Evangelos Venizelos: Die Orthodoxie habe sich zu entscheiden, wohin sie gehöre: In die westliche Welt mit deren Werten wie den Menschenrechten (so im Konferenzprogramm u .a. von Konstantinos Delikonstantis favorisiert) oder in die östliche Welt, die auf autoritäre Systeme und damit verbundene Werte setzt.

Welcher Umgang mit Russland?
Subthema bei dieser Fragestellung war immer auch der Umgang mit Russland und der dort entwickelten staatstreuen Theologie, die von einigen scharfen Kritikern wie Cyril Hovorun oder Schwester Vassa Larin in erwartbarer Weise analysiert wurde. Schwester Vassa setzte sich etwa kritisch mit der Argumentation der Kreml-Theologen auseinander, die das Thema „Kanonizität“ als Kriegsmittel im Kampf gegen die Ukraine einsetzen. Sie machte deutlich, dass kanonisches Recht in erster Linie personal zu denken sei und dementsprechend den Gläubigen zu dienen habe. Metropolit Ambrosios (Zographos) von Korea berichtete, dass die Russische Orthodoxe Kirche auf geradezu unkanonische Weise ihre missionarische Tätigkeit nicht nur in Afrika, sondern auch in Korea ausweiten würde.

Ferner benannte der amerikanische Theologe John Chryssavgis beim abschließenden Round-Table-Gespräch in beeindruckender Weise Zukunftsperspektiven für die Orthodoxie von Seiten der „Diaspora“-Theologie: Orthodoxie stehe nicht im Zentrum der globalen Aufmerksamkeit, Verbrechen im Namen der Orthodoxie würden sich sogar gegen die orthodoxe Spiritualität richten. Nicht gigantische Kirchen wie in Bukarest oder Belgrad, auch nicht eine Fülle von Reliquien seien gegenwärtig gefordert, sondern vielmehr Demut. Orthodoxie müsse den liebevollen Dialog mit anderen Wissenschaften und Konfessionen üben und eine Sprache der Begegnung lernen. Die Orthodoxe Kirche sei in vielen Themen zurückgeblieben und habe enormen Nachholbedarf. P. Demetrios Bathrellos aus Brookline, Massachusetts, bemerkte sogar, dass die orthodoxe Theologie die Uhren 500 Jahre nachstellen müsse. Dementsprechend forderte der Athener Neutestamentler Christos Karakolis, dass sich orthodoxe Theologie mehr um die Sprache der Welt und damit auch um die Sprache moderner Wissenschaften bemühen sollte. Eben diesem Anliegen suchten die Veranstalter in breiter thematischer Vielfalt nachzukommen.

Vielfältiges Programm
Die Tagung war so vielfältig, dass es nicht möglich ist, einzelne Beiträge zu kommentieren. Folgende Einheiten wurden bedacht:
1. Kirche, Theologie, Universität und Gesellschaft,
2. Orthodoxe Theologie und zeitgenössische theologische Strömungen,
3. Orthodoxe Theologie und Kultur,
4. Interdisziplinärer Dialog: Orthodoxe Theologie, Wissenschaften und Technologie,
5. Orthodoxe Theologie und die großen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts: Klimawandel, Flüchtlingsproblematik, öffentlicher Raum, ökonomische Krise und Arbeitslosigkeit,
6. Nationalismus und Ekklesiologie,
7. Orthodoxe Theologie und interkonfessioneller und interreligiöser Dialog (1948-2024),
8. Pastoraltheologie und Praktische Theologie angesichts zeitgenössischer Herausforderungen.

Am letzten Konferenztag schloss sich ein hochkarätig besetztes Round-Table-Gespräch zum Thema „Orthodoxe Kirche und Geopolitik heute“ an. Von den Themenstellungen her war der Kongress dementsprechend am Puls der Zeit positioniert.

Einige Impulse seien besonders hervorgehoben: So betonte der Belgrader Neutestamentler Predrag Dragotinović, dass die Bibel zunächst im liturgischen Kontext überliefert worden sei – ein Faktum, das die westlich geprägte Bibelwissenschaft zu wenig im Blick habe. Paul Gavrilyuk, ukrainischstämmiger Theologe in St. Paul, Minnesota, stellte nicht nur das orthodoxe Theolog:innen-Netzwerk IOTA vor, das ca. 1500 Forscher:innen umfasst, sondern sah in der Arbeit dieses Netzwerkes zugleich einen Weg der „Synodalität von unten“. Gelegentlich kam es zu intensiven Debatten. Nach einem Vortrag von Archimandrit Aristarchos – Basileios Gkrekas aus Athen, der über orthodoxe Theologie und Spiritualität sprach und eine Theozentrizität derselben forderte, bemerkte der Leiter der Orthodoxen Akademie Volos, Pantelis Kalaitzidis, dass die Orthodoxie offensichtlich Angst vor Wandel habe. Diese sei, so der Athener Kirchenhistoriker Dimitrios Moschos, selbst mit Blick auf historische Äußerungen vom Berg Athos nicht zu rechtfertigen: er verwies auf den Hagioreitiko Tomo Hyper ton hieros hesychazonton aus der Feder des Gregorios Palamas, der neue Impulse in die Theologie hineingetragen habe. Selbst im Bereich der Liturgie hat es immer wieder auch Wandel gegeben, wie der Athener Liturgiewissenschaftler Georgios Philias deutlich machte. Grundsätzliche anthropologische Fragen stellte Professorin Gayle E. Woloschak von der Northwestern University in Illinois mit Blick auf Künstliche Intelligenz und forderte, dass auch die Orthodoxe Kirche sich mit aktuellen Entwicklungen auseinandersetzen bzw. eine christliche Anthropologie betonen solle. Aristoteles Papanikolaou von der Fordham University in New York stellte die göttliche Trinität als das Ur-Paradigma für Einheit in Verschiedenheit vor – Pluralismus sei dementsprechend kein Feind der Orthodoxie. Die Beschäftigung mit anderen Religionen kann, so Metropolit Kyrillos Katerelos, sogar zur Selbsterkenntnis führen.

Nicht nur Inhalte, sondern auch Methoden der Theologie wurden diskutiert. So forderte etwa der Metropolit von Peristeri, Gregorios Papathomas, eine Studienreform, die ein einst nach katholischen und protestantischen Vorbildern organisiertes Studium stärker auf orthodoxe Bedürfnisse im Sinne einer „kirchlichen Theologie“ zuschneiden solle. Der in Toronto und Quebec lehrende Paul Ladouceur betonte demgegenüber, dass es orthodoxer Theologie nicht darum gehen dürfe, Positionen der Kirchenväter ständig zu wiederholen, sondern vielmehr deren Methode zu übernehmen und dementsprechend auf Probleme und Konzepte der Gegenwart einzugehen. Chrysostomos Stamoulis aus Thessaloniki forderte eine stärkere Verbindung von Theologie und Ästhetik und somit einen intensiveren Dialog mit den Künsten. In diesem Sinne analysierte die Athener Professorin für vergleichende Religionswissenschaft und Literatur, Kirke Kephalea, griechische Gedichte aus dem 19. bis ins 21. Jahrhundert.

Die Konferenz war in einen großen Rahmen eingebettet. Sie wurde nicht nur in Gegenwart der griechischen Staatspräsidentin Katerina Sakellaropoulou durch eine programmatische Rede des Ökumenischen Patriarchen Bartholomaios eröffnet, sie tagte auch in Anwesenheit des Parlamentspräsidenten Konstantinos A. Tasoulas einen Nachmittag im Saal der Gerousie des griechischen Parlaments. Damit war die Konferenz durch eine beeindruckende Form von Öffentlichkeit geprägt.

Außenperspektive mehr einbeziehen
Grundsätzlich handelte es sich bei der Tagung um ein bemerkenswertes Ereignis zeitgenössischer orthodoxer Theologie. Zu bemängeln wären Kleinigkeiten wie diejenige, dass die Vortragenden nahezu ausschließlich aus dem griechischsprachigen Umfeld oder aus demjenigen der Sympathisanten griechischer Theologie kamen. Leitende Persönlichkeiten nichtgriechischer orthodoxer akademischer Einrichtungen waren meist ebenfalls des Griechischen mächtig. Bei einer Konferenz, die orthodoxe Theologie im 21. Jahrhundert zum Thema hat, wären sicherlich auch Theolog:innen aus Ländern wie Rumänien, der Ukraine und selbst Russland (soweit politisch überhaupt möglich) interessante oder zumindest herausfordernde Gesprächspartner:innen gewesen.

Sinnvoll wäre bei einer solchen Konferenz auch, die Außenperspektive mit einzubeziehen. Zwar waren Personen wie der Autor – zum Teil kostspielig – als Beobachter eingeladen, aber nicht um einen Vortrag gebeten worden. In einer durch Pluralismus und globale Perspektiven geprägten Zeit hätten solche Beiträge vielleicht noch zu weiteren Fragen geführt, die orthodoxe Theologie zukünftig auf ihre Agenda zu nehmen hätte. Eine zentrale Frage wäre dabei sicher auch – trotz der zahlreichen und teilweise tiefschürfenden Ausführungen zu interkonfessionellen und interreligiösen Kontakten – jene nach einer Ekklesiologie gewesen, die eine stärkere Anerkennung der Kirchlichkeit anderer Kirchen ermöglicht. Ferner wäre Selbstkritik im Bereich der orthodoxen Theologie und Kirchlichkeit sicher noch ausbaufähig, insbesondere wenn orthodoxe Kirchen auch von einer nichtchristlichen Gesellschaft ernstgenommen werden wollen. Trotz solcher Gravamina stellte die Konferenz in Athen einen wichtigen Schritt dar, um orthodoxe Theologie auch als eine Wissenschaft im 21. Jahrhundert zu pflegen.

Andreas Müller, Prof. Dr. theol., Professor für Kirchen- und Religionsgeschichte des 1. Jahrtausends an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Bild: Konferenzteilnehmer in Athen (© Andreas Müller)