Vergebung ohne Schlussstrich. Der polnische Hirtenbrief 1965
Dorian Winter
Am 18. November 1965, unmittelbar vor Abschluss des Zweiten Vatikanischen Konzils, veröffentlichten die polnischen Bischöfe ein folgenschweres Schreiben an ihre deutschen Amtsbrüder. Formell handelte es sich um eine Einladung zur Teilnahme an den Feierlichkeiten zur 1000-Jahr-Feier der Christianisierung Polens – einem Ereignis von gleichermaßen religiöser wie politischer Bedeutung für die europäische Kulturtopografie. Das Schreiben kulminierte in der aufwühlenden Formulierung "Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung". Es kann guten Gewissens zu den Kerndokumenten des europäischen Einigungsprozesses der Nachkriegszeit gezählt werden. Was lehrt uns dieses Schriftstück über die Möglichkeiten von Vergebung? Der 60. Jahrestag dieses Ereignisses sei Anlass für einen Rückblick.
Das Wunder der Nachkriegsversöhnung ist im deutschen kollektiven Bewusstsein bis heute die deutsch-französische Aussöhnung. Sie wird als Vorbild für die Überwindung von Feindschaft hin zu friedlicher und freundschaftlicher Nachbarschaft binnen kürzester Zeit zelebriert.
Niemand kann bezweifeln, dass die deutsch-französische Freundschaft ein tragendes Fundament der europäischen Friedensarchitektur ist. Die deutsch-polnische Aussöhnung hatte und hat demgegenüber eine nachgeordnete Bedeutung. Man scheint auch nach 80 Jahren immer noch daran erinnern zu müssen, dass die Orte der größten Kriegs- und Menschheitsverbrechen im Osten lagen und dass die Spuren der Verwüstung durch Morden, Zerstörung, Demütigung, kulturelle Tilgungsversuche dort von einem ganz anderen Ausmaß sind. Mit dieser Anerkennung tut man sich bis heute schwer.