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Alena Alshanskaya zu Kirche und Gesellschaft in Weißrussland

27. Juni 2018

Der katholische Erzbischof von Minsk-Mohilev, Tadeusz Kondrusiewicz, hat einen offenen Brief an Präsident Alexander Lukaschenko gerichtet, in dem er seine Bedenken bezüglich eines künftigen Gesetzes zum Schutz vor häuslicher Gewalt ausdrückt. Worum geht es in dem Gesetzesentwurf und weshalb stößt er in der katholischen Kirche auf Kritik?
Seit einigen Monaten beschäftige ich mich mit den Diskussionen, die in der Russischen Orthodoxen Kirche hinsichtlich der gleichen Gesetzesinitiativen in den letzten Jahren in Russland geführt werden, und die man als „Gesetze über ein Erziehungsverbot“ anprangerte. Der Gesetzesvorschlag zum Schutz vor häuslicher Gewalt wurde in Russland abgelehnt und leichte Körperverletzungen unter Verwandten im Februar 2017 entkriminalisiert. Den Widerstand gegen die Ausweitung der Kinderrechte sehe ich als ein Phänomen an, das sich gerade im orthodoxen Milieu vor dem Hintergrund einer zunehmenden antieuropäischen und antiwestlichen Rhetorik entwickelt hat, und dem es an sachlichen Diskussionen mangelt.

Deswegen war ich persönlich sehr überrascht, als sich der Erzbischof der römisch-katholischen Kirche in Weißrussland vor einigen Tagen ähnlich pauschal wie seine orthodoxen Kollegen gegen den Gesetzesentwurf zum Schutz vor häuslicher Gewalt aussprach und ohne jegliche Rücksicht auf die Opfer von Gewalt argumentierte. Die weißrussische Gesetzesinitiative kommt nicht vonseiten der sog. „liberalen“ oder prowestlichen Politiker, wie Erzbischof Kondrusiewicz suggeriert, sondern direkt vom Innenministerium. Der Gesetzentwurf wurde noch nicht veröffentlicht, ein Vertreter des Innenministeriums, der für Präventionsarbeit unter der Bevölkerung zuständig ist, Oleg Karazej, hat aber in einem ausführlichen Interview die Position seiner Institution erläutert.

Er bezeichnet das Problem der häuslichen Gewalt in Weißrussland als „fürchterlich“. Das Gesetz solle in vollem Umfang die Verordnungen der Istanbul-Konvention des Europarates zu häuslicher Gewalt aus dem Jahr 2011 implementieren, was für das Land, das dem Europarat gar nicht angehört und das sich in den letzten Jahrzehnten der europäischen Rechtsordnung eher widersetzt hat, erstaunlich ist und eigentlich als höchst positiv anzusehen wäre. Karazej beklagte, dass es entsprechend der aktuellen Gesetzgebung nur bei einer bestehenden Straftat (Totschlag, lebensgefährliche Körperverletzung) zur Strafverfolgung komme und Polizeibeamte über keine wirksamen Präventionsmittel verfügten. Die Opfer seien häufig nicht bereit, Täter anzuzeigen, weil sie unter anderem finanziell abhängig seien. Als die wichtigsten Ursachen für häusliche Gewalt führt Karazej „patriarchale Vorstellungen“ in der weißrussischen Gesellschaft sowie übermäßigen Alkoholkonsum an. Bedauerlicherweise sei vielen weißrussischen Eltern zudem nicht bewusst, dass körperliche Strafen von Kindern keine legitime Erziehungsmaßnahme sind.

Polizeibeamte erscheinen in dieser Diskussion als glaubwürdig: Sie sind tagtäglich mit der traurigen Realität konfrontiert und stehen aufgrund des Ausmaßes der häuslichen Gewalt vor großen Herausforderungen. Vor diesem Hintergrund ist unverständlich, warum der Erzbischof das Gesetz mit „destruktiven säkularen Tendenzen“ oder „Propaganda einer antichristlichen Familienideologie“ gleichsetzt. Welchen konkreten “traditionellen weißrussischen Werten“ dieses Gesetz widerspricht, hat er jedenfalls nicht näher erklärt. Ich kann nur vermuten, dass einerseits der Einfluss der orthodoxen Rhetorik aus Russland eine Rolle spielt und andererseits „antieuropäische Ressentiments“, wie sie bei manchen polnischen Katholiken verbreitet sind. Offensichtlich will sich Kondrusiewicz die antiwestliche Rhetorik, die bei Lukaschenko gut ankommt, zunutze machen. Andererseits offenbaren die Äußerungen des Erzbischofs einen eklatanten Mangel an Wissen in Bezug auf die sozialen Missstände in weißrussischen Familien.

Im Juni kam es zu Protesten gegen ein Restaurant in Kurapaty außerhalb der Hauptstadt Minsk, wo während des Großen Terrors unter Stalin rund eine Viertelmillion Menschen hingerichtet wurde. Mehrere weißrussische, russische und ukrainische Kulturschaffende, darunter die Literaturnobelpreisträgerin Svetlana Alexievitsch, unterstützen das Anliegen der Protestierenden. Wie ist die Haltung der Kirchen in dieser Frage?
Diese Konfliktsituation dauert schon mehrere Jahre. Zuerst wurde an diesem Ort die Autobahn erweitert, danach wurde der Bau eines Businesszentrums geplant, was immer wieder Proteste hervorrief. Letztendlich wurde dieses Restaurant gebaut, aber kein Club oder Freizeitpark, wie befürchtet. Vertreter der orthodoxen und der katholischen Kirche haben sich in den letzten Jahren mehrfach gegen diese Pläne ausgesprochen und Kurapaty als einen „heiligen Ort“ bezeichnet. Erstens sei es ein Friedhof, wo Hunderttausende Menschen begraben sind. Zweitens sei es ein Ort der Massenrepressionen und drittens ein Kulturdenkmal. In Kurapaty feierten beide Kirchen mehrmals Gedenkgottesdienste. Es besteht aber noch kein gesellschaftlicher Konsens über den Status dieses Ortes. Seit seinem Amtsantritt vermeidet es Lukaschenko, die sowjetischen Massenrepressionen zu thematisieren. Charakteristisch für die Aussagen der beiden Kirchen ist, dass sie trotz ihrer eindeutigen Positionierung gegen jeglichen Bau an diesem Ort vor aktiven Protesten warnten und in der derzeitigen Konfrontation ihre Stimmen zur Unterstützung der Protestierenden noch nicht erhoben haben. Die Kirchen sind gewohnt, in solchen wirklich prekären Situationen abzuwarten und sich bis zur offiziellen Stellungnahme mit Äußerungen zurückzuhalten. Ich vermute, wenn die Behörden letztendlich entscheiden sollten, dass 50 Meter Entfernung der Wahrung der Totenruhe genügen, dann können die Kirchen damit gut leben.

Alena Alshanskaya, Dr., assoziierte wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich Osteuropäische Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz.