Armenien: Streit zwischen Kirche und Staat um Neujahrsansprache des Katholikos
Zum ersten Mal seit der Unabhängigkeit Armeniens ist die Neujahrsansprache von Katholikos-Patriarch Karekin II., dem Oberhaupt der Armenischen Apostolischen Kirche, nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen des Landes ausgestrahlt worden. Traditionell wurde die Ansprache vor der Neujahrsansprache des Premierministers kurz vor Mitternacht übertragen. Die Kirchenleitung teilte an Silvester mit, dass der Fernsehsender sie „in letzter Minute“ und „ohne jegliche Begründung“ informiert habe, dass die Ansprache des Katholikos nicht zum üblichen Zeitpunkt ausgestrahlt werde. Es sei vorgeschlagen worden, sie während der Abendnachrichten zu senden, was die Kirchenleitung jedoch abgelehnt habe.
Der Rat des öffentlich-rechtlichen Rundfunks hingegen erklärte, dass die Kirche ihre Zustimmung zu einer Ausstrahlung an Silvester zurückgezogen habe. Die Neujahrsansprache des Katholikos hätte der Ansprache des armenischen Präsidenten folgen sollen, anstatt wie üblich vor der Ansprache des Premierministers gesendet zu werden. Mit diesem Zeitplan sei die Kirche nicht einverstanden gewesen und habe verlangt, dass das Video mit der Ansprache nicht verwendet werde. Allerdings betraf das nur das Fernsehen, im Radio und auf privaten Fernsehsendern wurde die Ansprache übermittelt.
Der Vorfall löste in Armenien viele öffentliche Reaktionen aus, wobei sowohl der TV-Sender als auch die Kirche von jeweils verschiedenen Seiten harsch kritisiert wurden. In staatsnahen Medien kursierten Gerüchte, dass die Kirche dem Sender ein Ultimatum gestellt habe, die Ansprache entweder an Mitternacht oder gar nicht auszustrahlen. Zudem warfen sie der Kirche vor, eine Kontroverse zu schüren.
Das Verhältnis zwischen der Kirche und der Regierung von Premierminister Nikol Paschinjan, der 2018 im Zug der Samtenen Revolution in Armenien an die Macht kam, ist seit längerem angespannt. Insbesondere die Niederlage im Krieg um Berg-Karabach 2020 belastete die Beziehungen, als die Kirche Paschinjan aufrief, zurückzutreten. Im April 2023 forderte Katholikos Karekin II. den Premierminister erneut zum Rücktritt auf, worauf dieser der Kirche nahelegte, eine politische Partei zu gründen. Als sich Paschinjan im Mai 2023 bereit erklärte, die Zugehörigkeit Berg-Karabachs zu Aserbaidschan unter der Bedingung von Sicherheitsgarantien für die armenische Bevölkerung anzuerkennen, rief das wieder harsche Kritik der Kirche hervor.
In der Neujahrsansprache von Karekin II. findet sich keine direkte Kritik an der Regierung. Er betonte den „unbarmherzigen Schmerz der immensen Verluste in unseren Herzen“, der das Jahr 2023 angesichts der Eroberung Berg-Karabachs durch Aserbaidschan, die Vertreibung der dortigen armenischen Bevölkerung und die schwierige Lage Armeniens geprägt habe. Angesichts der Probleme rief er zu Engagement und Liebe zur Heimat und zum Glauben an Gott auf. Außerdem forderte er die Menschen in Armenien und der Diaspora zu Einheit und gemeinsamen Bemühungen zur Verteidigung der nationalen Interessen sowie zur liebevollen Sorge um die Flüchtlinge aus Berg-Karabach auf.
Die Spannungen zwischen dem Staat und der Kirche zeigen sich auch im Bildungsbereich. So entschied die Regierung im April 2023, die „Geschichte der armenischen Kirche“ trotz kirchlicher Proteste als eigenständiges Fach aus dem Lehrplan der öffentlichen Schulen zu entfernen. Die Kirche kritisierte zudem „zentrale Auslassungen und Fehler“ in einem neuen Schulbuch für das Fach Geschichte in der 7. Klasse. Ihre Bedenken hatte die Kirche im November 2023 in einem Brief an Bildungsministerin Zhanna Andreasjan geäußert, den sie am 26. Dezember auf ihrer Website veröffentlichte. Darin erklärte die Kirche, sie erwarte, dass das Schulbuch nicht weiterverwendet und die Erarbeitung eines neuen Lehrmittels aufgenommen werde. Die gleichen Kritikpunkte und Forderungen wurden auch an einer Diskussion über Bildungsfragen mit Kirchenvertretern, Vertretern von Bildungseinrichtungen, „prominenten Intellektuellen und Fachleuten“ am 21. Dezember am Hauptsitz der Kirche geäußert. An einer Konferenz zur Überarbeitung von Schulbüchern Ende Dezember sagte Bildungsministerin Andreasjan in Richtung Kirche, sie solle sich aus der Frage heraushalten. Das Ministerium respektiere die Position der Kirche, aber der Staat organisiere die Bildung. (NÖK)