Russland: Behörden gehen gegen Vissarion-Gemeinde vor
Sicherheitskräfte haben den Anführer der „Kirche des letzten Testaments“, einer messianischen religiösen Gruppe, die isoliert in Sibirien lebt, verhaftet. Mit einem Großaufgebot durchsuchten am 22. September Mitglieder des Inlandgeheimdienstes und des föderalen Untersuchungskomitees die Siedlung „Stadt der Sonne“, wo angeblich rund 200 Mitglieder der Gemeinschaft leben. Dabei nahmen sie den Anführer der Gruppierung, Vissarion, und zwei seiner Mitarbeiter fest und transportierten sie in einem Helikopter ab.
Den Verhafteten wird vorgeworfen, eine religiöse Organisation aufgebaut zu haben, die Gewalt anwendet und schwere körperliche Schäden anrichtet. Zudem hätten sie sich finanzielle Mittel von ihren Mitgliedern angeeignet und diesen psychische Gewalt angetan. Die Kirche des letzten Testaments wurde 1991 von Sergej Torop gegründet, der sich seit einem Erweckungserlebnis als Sohn Gottes sieht und Vissarion nennt. 1995 wurde die Kirche des letzten Testaments, die sich auch Vissarion-Gemeinde nennt, offiziell als Religionsgemeinschaft registriert. Ihre Mitglieder leben mehrheitlich in abgelegenen Siedlungen in der sibirischen Region Krasnojarsk. Die Lehre Vissarions vereint Elemente der russischen Orthodoxie und des Buddhismus in Verbindung mit Aspekten des Kollektivismus und des Umweltschutzes. Den Mitgliedern der Gemeinschaft ist Tabak, Alkohol und der Gebrauch von Geld verboten. Die Kirche lebt von Subsistenzlandwirtschaft, verwendet traditionelle Medizin und erlaubt Polygamie.
Die Staatsanwaltschaft von Krasnojarsk hat beim Regionalgericht einen Antrag auf Auflösung der Kirche des letzten Testaments eingereicht. Mit einer Expertenuntersuchung sei sie zum Schluss gekommen, dass die Lehren Vissarions doktrinäre Empfehlungen enthalte, die das „Recht auf Leben, Recht auf Freiheit und Unverletzlichkeit der Person, Gewissensfreiheit, Recht auf Schutz der Familie, Mutterschaft und Kindheit, Recht auf Bildung, Recht auf Schutz der Gesundheit und medizinische Hilfe“ beschränkten. Zudem würde „abweichendes Verhalten“ akzeptiert, insbesondere „Suizid und das Vorenthalten von medizinischer Hilfe, die Stimulation von Suchtverhalten, abweichendes Sexualverhalten sowie die Geringschätzung akzeptierter Normen der Ehe“. Durch die „Unterbindung der Äußerung eigener Gedanken, Wünsche, Bedürfnisse und Bestrebungen mithilfe der Drohung eines sozialen Tadels, der Schaffung eines starken Schuldgefühls und Verstoßung aus der Gemeinschaft“ werde die psychische Gesundheit der Anhänger geschädigt.
Die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) begrüßt das Vorgehen gegen die Vissarion-Gemeinde. In seiner wöchentlichen Sendung „Kirche und Welt“ wunderte sich Metropolit Ilarion (Alfejev), der Leiter des Außenamts des Moskauer Patriarchats, warum die Behörden erst jetzt reagierten, denn die Verstöße gegen das Gesetz seien bekannt gewesen. Für Ilarion ist die Gruppe gefährlich, weil sich ihr Anführer „als Christus ausgibt“, seinen Anhängern das „baldige Ende der Welt verspricht“ und ihnen strenge Ernährungsweisen vorschreibe und polygame Ehen erlaube, und den Kindern Essenvorschriften mache, die zu „Anämie“ führten. In Russland gebe es viele Sekten, fügte der Metropolit hinzu, aber nicht alle seien gleich gefährlich für die psychische und physische Gesundheit der Menschen. Aus kirchlicher Sicht bärgen alle Sekten mehr oder weniger ausgeprägt diese Gefahr, aber es sei an den Justizorganen festzustellen, wie groß die Bedrohung sei, und ob Gründe für ein rechtliches Vorgehen gegeben seien.
Laut dem Ombudsmann der Region Krasnojarsk, Mark Denisov, gab es bereits vor zwei Jahren Anzeichen für das Interesse der Justiz an der Religionsgemeinschaft. In einer Beschwerde hätte die Leitung der Vissarion-Gemeinde im Frühling 2020 erklärt, dass Überprüfungen und Befragungen gegen sie geführt würden. Im ganzen Land seien Personen befragt worden, die einmal etwas mit der Gemeinschaft zu tun gehabt hätten. Zudem sei das Vorgehen der Strafverfolgungsorgane „voreingenommen“ gewesen, hieß es in der Beschwerde.
Bereits im Februar berichteten Mitglieder der Religionsgemeinschaft von Durchsuchungen und Befragungen, weil Korruption und Betrug durch die Leitung der Schule, in der die Kinder der Gemeinde unterrichtet werden, untersucht wurden. Ende August wollten Journalisten vor Ort über die Gemeinschaft berichten, doch die Einwohner versuchten die Aufnahmen zu stören. Daraufhin wurde ein Strafverfahren wegen „Behinderung der legalen Berufsausübung von Journalisten“ eingeleitet. (NÖK)