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Russland: Religionsgemeinschaften für staatlichen Schutz traditioneller Werte

10. Februar 2022

Mehrere Religionsgemeinschaften in Russland haben sich mit wenigen Einschränkungen positiv zu einem Gesetzesentwurf für den Schutz traditioneller Werte geäußert. Der Entwurf mit dem Titel „Grundlagen der staatlichen Politik zum Schutz und zur Stärkung traditioneller russischer geistlich-moralischer Werte“ wurde im Dezember 2021 vom Kulturministerium zur Diskussion gestellt. Die Bevölkerung konnte sich bis am 4. Februar online zum Entwurf äußern, die Gesellschaftliche Kammer der Russischen Föderation diskutierte ihn am 7. Februar.

Als „traditionelle Werte“ definiert die Gesetzesvorlage „moralische Leitlinien, die die Weltanschauung der Bürger Russlands prägen, von Generation zu Generation weitergegeben werden, die staatliche Einheit gewährleisten, der russländischen zivilisatorischen Identität und Einheit des Kulturraums des Landes zugrunde liegen und ihren einzigartigen und unverwechselbaren Ausdruck in der geistigen, historischen und kulturellen Entwicklung des multinationalen Volks Russlands finden“. Zu diesen traditionellen Werten zählen „Leben, Würde, Rechte und Freiheiten des Menschen, Patriotismus, Bürgersinn, Dienst für das Vaterland und Verantwortung für dessen Schicksal, hohe moralische Ideale, eine starke Familie, Aufbauarbeit, Vorrang des Geistigen vor dem Materiellen, Humanismus, Barmherzigkeit, Gerechtigkeit, Gemeinschaftssinn, gegenseitige Hilfe und gegenseitiger Respekt, historisches Gedächtnis und Kontinuität der Generationen, Einheit der Völker Russlands“. Während der Schutz traditioneller Werte in Russland laut dem Gesetzesentwurf bereits zu einer erhöhten Einigkeit des russischen Volks geführt habe, konstatiert er ansonsten eine „globale Wertekrise“.

Bedroht werden die Werte von der „Aktivität extremistischer und terroristischer Organisationen, Handlungen der USA und ihrer Verbündeten, transnationalen Unternehmen und ausländischen NGOs“. Ideologische und psychologische Einflüsse auf die Russ:innen führten zur Einführung eines fremden und zerstörerischen Systems von Ideen und Werten – einer „destruktiven Ideologie“. Dazu gehörten der „Kult des Egoismus, Kult des Alles-ist-erlaubt, Kult der Amoralität, Ablehnung der Ideale des Patriotismus, Ablehnung des Dienstes am Vaterland, Ablehnung der Fortpflanzung, Ablehnung der Aufbauarbeit, Ablehnung des positiven Beitrags Russlands zur Weltgeschichte und -kultur“. Sollte sich die „destruktive Ideologie“ ausbreiten, befürchten die Verfasser der Gesetzesvorlage einen Sittenzerfall der Gesellschaft, soziale Spaltungen, eine Verleugnung der „historischen Wahrheit“ und allgemeine Schwächung des russischen Staats. Um dies zu verhindern und die traditionellen Werte zu schützen, seien Maßnahmen im Bildungsbereich, bei der Kulturförderung, in der Wissenschaft, bei der Kontrolle des Informationsraums und bei den Sicherheitsorganen nötig.

An der Sitzung der Gesellschaftlichen Kammer, einem Beratungsgremium für Gesetzesprojekte im sozialen Bereich, bemängelte Vladimir Legojda, der Leiter der Synodalabteilung für die Beziehungen der Kirche mit der Gesellschaft und den Medien der Russischen Orthodoxen Kirche, dass die Rolle der Religionsgemeinschaften im Entwurf nicht erwähnt wird. Der „Glaube an Gott“ oder der „religiöse Glaube“ gehöre in die Liste der traditionellen Werte, da diese für die Entwicklung Russlands zentral gewesen seien und immer noch sind. Ihm sei im Gespräch erklärt worden, die Rolle der religiösen Traditionen und Organisationen verstehe sich von selbst, er plädiere jedoch dafür, sie trotzdem explizit zu benennen. Ohne die „Benennung dieses Fakts verliert das Gespräch über den Schutz traditioneller Werte praktisch den Sinn“, erklärte er. Insgesamt würdigte er die „Aufmerksamkeit des Kulturministeriums für dieses wichtige Thema“. Mit ihm einverstanden erklärte sich der Moskauer Mufti Albir Krganov, Vorsitzender der Geistlichen Versammlung der Muslime in Russland. Zudem regte er an, den Begriff „Konfessionen“ im Dokument durch den Begriff „Religionen“ zu ersetzen. Der Vizepräsident der Vereinigung der Buddhisten Kalmückiens, Sergej Kirischov, schloss sich seinen Kollegen an, begrüßte aber den Gesetzesentwurf insgesamt. Der Staat wähle „den richtigen Weg zur Stärkung des Landes durch die Bewahrung traditioneller, moralischer und spiritueller Werte“. Er schlug jedoch vor, die USA als Bedrohung zu streichen, um nicht „Nationalismus zu provozieren“.

Die meisten Sitzungsteilnehmer äußerten sich positiv zum Gesetzesentwurf. Aus der Bevölkerung erhielt die Vorlage online 100‘000 positive und 78‘000 negative Bewertungen. Gegen Ende der Abstimmung kamen offenbar auf beiden Seiten unzählige Bots zum Einsatz. Bis dahin waren die negativen Bewertungen laut einem Datenanalysten echt, während die Unterstützerklicks mechanisch, durch mehrfaches Wählen generiert waren. Einzig aus der Theaterszene kam offene Kritik an der Vorlage. Der Vorsitzende des Bundes der Theaterschaffenden befürchtet eine Zensur der Kultur, mit der jegliche kulturelle Entwicklung verunmöglicht würde. Ihm haben sich mehrere Leiter wichtiger russischer Theater in einem offenen Brief angeschlossen. (NÖK)