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Estland: Eine „helfende Hand“ für Geflüchtete

25. Januar 2023

Seit dem Einmarsch russischer Streitkräfte in die Ukraine hat die lutherische Gemeinschaft in Estland Geflüchtete mit offenem Herzen und ausgestreckter Hand willkommen geheißen. Gemeinden der Estnischen Evangelisch-Lutherischen Kirche (EELK), einer LWB-Mitgliedskirche, und ihr diakonisches Werk haben Unterkünfte bereitgestellt, die Neuankömmlinge seelsorgerlich betreut und Aktivitäten organisiert, um die ukrainischen Geflüchteten willkommen zu heißen. Der Lutherische Weltbund (LWB) hat einen Teil dieser Arbeit unterstützt.

In einem Buch mit dem Titel „Towards Peace“ beschreibt die EELK Beispiele für die Unterstützung von Menschen aus der Ukraine, die vor dem Krieg geflüchtet sind. „Ein Invasionskrieg ist eindeutig eine Sünde“, schreibt Erzbischof Urmas Viilma in seinem Vorwort. Gleichzeitig weist er auf die Macht des Mitgefühls hin. „Das Böse kann uns niemals unseres Glaubens, unserer Hoffnung und unserer Liebe berauben. Selbst wenn uns alles andere genommen wird, so können doch Glaube, Hoffnung und Liebe nicht gestohlen werden.“

Viele Menschen in Estland erleben die Invasion der Ukraine als eine Bedrohung unmittelbar vor ihrer Haustür. In Gesprächen und Artikeln beschreiben Pfarrpersonen und Ehrenamtliche, wie dieser Krieg kollektive Erinnerungen und Ängste vor der Unterdrückung durch die Sowjets in den Zeiten Stalins hervorgerufen hat und wie sie sich in die Lage und den Schmerz ihrer zwangsvertriebenen Nachbarinnen und Nachbarn hineinversetzen können.

Direkt nach der Invasion hat das Konsistorium der EELK im Rahmen der Diakonie-Stiftung einen Unterstützungsfonds für die Ukraine eingerichtet. Mittlerweile konnte der Fonds mehr als 60'000 Euro verteilen, bereitgestellt u. a. vom LWB, anderen ökumenischen Partnern und Einzelpersonen. Zusätzliche 17'000 Euro konnten nach einer Kollekte anlässlich des Erntedankfestes zur Verfügung gestellt werden.

„Mit Beginn des Krieges hatten alle Menschen christlichen Glaubens und alle Gemeinden das spontane Bedürfnis, zu helfen und zu handeln, und alle, die diesen Wunsch verspürten, haben nach Möglichkeiten gesucht und auch gefunden, dies in die Tat umzusetzen“, schreiben Evelin Müüripeal und Piia Aasmäe, zwei ehrenamtliche Helferinnen der Sankt-Johannes-Gemeinde in Tallinn. „Die Menschen organisieren humanitäre Hilfe und Spenden, Wohltätigkeitskonzerte und Verkaufsbasare, sie kochen Borschtsch, stellen Tarnnetze her, stricken Socken und Handschuhe und beten natürlich gemeinsam für die Ukraine und die dort lebenden Menschen.“ Die beiden Frauen haben ebenfalls einen Sprachkurs in Form eines Sommerlagers für ukrainische Kinder organisiert. Das Sommerlager war auch deshalb ein so großer Erfolg, weil sich jedes geflüchtete Kind sein Zimmer mit einem estländischen Kind geteilt hat.  Aus einigen dieser Begegnungen sind dauerhafte Freundschaften entstanden.

Andere Erlebnisberichte beschreiben gemeinschaftliches Kochen und eine gemeinsame Leidenschaft fürs Angeln. Die estländische Bevölkerung in Tartu hat Angelausrüstungen zur Verfügung gestellt und ukrainische Geflüchtete zum Karpfenangeln im  Emajögi mitgenommen. „Dann haben sie uns etwas über die ukrainischen Fischgewässer erzählt. Was sie dort als kleinen Teich bezeichnen, ist bei uns schon ein See. Sie haben uns erzählt, welche Fische und in welchen Mengen sie sie dort gefangen haben“, berichtet Lea Saar, die eine Tagesstätte der Gemeinde der Heiligen Maria in Tartu leitet. „Auf diese Weise brechen wir das Eis und können auf einer persönlichen Ebene Freundlichkeit und Sicherheit vermitteln.“

Eine wichtige Aufgabe ist aber auch die seelsorgerliche und geistliche Betreuung. Zu Beginn des Krieges waren 45 Pfarrpersonen der EELK mit dieser Aufgabe betraut. Heute sind es immer noch zwölf Seelsorgende, die in Teilzeit Beratungsdienste für Geflüchtete anbieten. Sie hören sich Geschichten über Verluste und Ängste an, unterstützen Menschen, sich in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden, zum Beispiel beim Umzug in eine neue Unterkunft, und helfen ihnen, die emotionalen Herausforderungen eines Lebens im Exil anzunehmen, ungeachtet der Konfession dieser Menschen. 

„Die Frage, die Christus uns heute stellt, lautet: Haben wir geliebt? Waren wir in der Lage, in gleicher Weise zu lieben, wie er es getan hat?“ Ove Sander, Direktor des Instituts für Theologie und Pastor der Gemeinde Nõmme Rahu, spricht über seine Motivation.

Der Unterstützungsfonds der EELK hat ebenfalls Geld und Spenden an die Deutsche Evangelisch-Lutherische Kirche in der Ukraine (DELKU) und ihre Partnerorganisationen geschickt. „Mit unserer Erfahrung in der Friedensarbeit sind wir als Menschen christlichen Glaubens aufgerufen zu versuchen, Licht in die finstere Zukunft der Geflüchteten des Krieges zu bringen und Hoffnung durch Sorge und Barmherzigkeit zu vermitteln. Was Vertrauen schafft, wird zum Frieden führen“, sagt Viilma abschließend.

Viele Mitgliedskirchen der LWB und besonders die Kirchen in Mittel- und Osteuropa unterstützen Geflüchtete aus der Ukraine. Sie sorgen für Unterkünfte und juristische Unterstützung, helfen bei Verwaltungsvorgängen, spenden Bedarfsartikel für den alltäglichen Gebrauch und Lebensmittel und organisieren Aktivitäten, damit sich die Geflüchteten in die örtlichen Gemeinschaften integrieren können. Der LWB unterstützt zahlreiche dieser Projekte finanziell und teilweise auch logistisch. Diese Hilfe wird durch die zahlreichen Spenderinnen und Spender und Partnerorganisationen überall auf der Welt ermöglicht.

LWB/C. Kästner-Meyer. Deutsche Übersetzung: Detlef Höffken, Redaktion: LWB/A. Weyermüller (www.de.lutheranworld.org, 16. Januar 2023)