Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung Moderne
Regina Elsner
Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung Moderne
Historische Wegmarken und theologische Optionen im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt
(= Das Östliche Christentum, NF, Bd. 63)
Würzburg: echter 2018, 407 S.
ISBN 978-3-429-04207-3. € 42.–.
Regina Elsner geht in ihrer vorliegenden Promotionsarbeit von der Beobachtung aus, dass sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) am Beginn des 21. Jahrhunderts in einem andauernden Konflikt mit der modernen Gesellschaft befindet. Sie konstatiert eine ablehnende Haltung der ROK gegenüber modernen Werten wie Individualisierung, Liberalisierung, Säkularisierung und Pluralisierung. Die Grundlage dieser Einstellung würde meist in der historisch bedingten Beziehung von Kirche und Staat sowie in einem starren Traditionalismus verortet, selten liege aber das Augenmerk auf einer genuin theologischen Begründung. Ausgehend von dieser Problemanalyse ordnet die Autorin in zwei Schritten – einer historischen Rekonstruktion und einer theologischen Analyse – die gegenwärtige, modernekritische Ortsbestimmung der ROK ein. Hierbei stellt sie das theologische Konzept von Einheit und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit dem legitimen Platz von Vielfalt, vor allem in Form des modernen Paradigmas von Pluralisierung und Ausdifferenzierung, in den Mittelpunkt.
Im ersten Teil untersucht die Autorin anhand einiger zentraler historischer Ereignisse, wie sich die russische Orthodoxie mit Elementen von Modernisierung und Moderne auseinandergesetzt hat. Der kirchliche Umgang mit Phänomenen der Erneuerung und Veränderung – beginnend mit dem 15. Jahrhundert (Nil Sorskij) über das 17./18. Jahrhundert (Patriarch Nikon, die Reformen Peters I.) bis hin ins 20./21. Jahrhundert (Landeskonzil, sowjetische Repression, kirchliche Wiedergeburt) – wird zunächst erläutert und historisch eingeordnet, so dass sich auch der nicht vorgebildete Leser ein detailliertes Bild machen kann. Anhand der ausgewählten historischen Stationen stellt Elsner anschließend die gängigen, auch heute noch anzutreffenden Handlungs- und Argumentationslinien dar, die die Kirche im Umgang mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Modernisierungen entwickelt hat.
Der zweite Teil widmet sich der theologischen Analyse des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt, in dem die Autorin anhand von drei ausgewählten dogmatischen Themenbereichen die Frage zu beantworten sucht, ob sich Einheit und Vielfalt im orthodoxen Verständnis wesenhaft ausschließen. Vor diesem Fragehintergrund analysiert Elsner wichtige dogmatische Schriften aus dem Bereich der Trinitätslehre, der theologischen Anthropologie sowie der Ekklesiologie. Hierbei nimmt sie neben schuldogmatischen auch Werke neuerer, zum Teil marginalisierter Theologen in den Blick. Die sehr dichten theologischen Analysen vermitteln dem geschulten Leser einen facettenreichen Einblick in die jeweiligen theologischen Gebiete und fragen nach dem jedem Themenkomplex eigenen Verhältnis von Einheit und Vielfalt. Mit Blick auf die Ausgangsfrage macht Regina Elsner im „apophatischen Vorbehalt“, d. h. der grundsätzlichen Verborgenheit und damit Unsagbarkeit des Geheimnisses Gottes, ein großes Potenzial für den Dialog mit verschiedenen Denkströmungen aus. Dieses Potenzial vergrößere sich durch das von der orthodoxen Theologie betonte paradoxe Gleichgewicht von Einheit und Vielfalt in Bezug auf die Trinitätslehre, das Geheimnis der Menschwerdung sowie das ekklesiologische Prinzip der „Sobornost‘“. Obwohl alle genannten Gebiete eine Priorität der Einheit kennzeichne, können dennoch Offenheit und Respekt für Vielheit und Andersheit und somit Anschlussfähigkeit für den Diskurs der Moderne ausgemacht werden.
Im Schlussteil illustriert die Autorin anhand von drei aktuellen Fragestellungen die gegenwärtige Auseinandersetzung der ROK mit der Moderne. Um das zentrale Motiv von Einheit und Vielfalt kreisend, wird der Blick auf Fragen der innerkirchlichen Einheit (Reformen, Zentralisierung), der Einheit des Volkes (Demokratieverständnis, traditionelle Werte) sowie der Einheit im globalen Maßstab (Wertediskurs, Globalisierung, Frieden) gelenkt. Elsner hält fest, dass die Kirchenleitung der ROK die in der eigenen Geschichte und theologischen Tradition vorhandenen Potenziale für eine Wertschätzung von Vielfalt und Pluralität nicht nutzt, sondern auf Grund von gesellschaftspolitischen Verflechtungen einem vormodernen Einheitsdiskurs den Vorrang gibt.
Der schon in der Titelformulierung zentrale Modernebegriff bleibt trotz des Bemühens um begriffliche Klärung im Einleitungskapitel am Ende jedoch unbestimmt, so dass die an sich sehr beachtenswerte Arbeit in dieser Hinsicht mehr Fragen aufwirft, als zur Klärung beizutragen. Insgesamt sind gewisse Vorkenntnisse im Blick auf die russische Orthodoxie beim Erschließen des Textes hilfreich. Das Buch von Regina Elsner sei dennoch jedem Interessierten ans Herz gelegt, der die aktuelle, vor allem gesellschaftspolitische Ortsbestimmung der ROK sowohl historisch als auch theologisch tiefer verstehen und einordnen möchte.
Marten Stahlberg, Stegen
Die Russische Orthodoxe Kirche vor der Herausforderung Moderne
Historische Wegmarken und theologische Optionen im Spannungsfeld von Einheit und Vielfalt
(= Das Östliche Christentum, NF, Bd. 63)
Würzburg: echter 2018, 407 S.
ISBN 978-3-429-04207-3. € 42.–.
Regina Elsner geht in ihrer vorliegenden Promotionsarbeit von der Beobachtung aus, dass sich die Russische Orthodoxe Kirche (ROK) am Beginn des 21. Jahrhunderts in einem andauernden Konflikt mit der modernen Gesellschaft befindet. Sie konstatiert eine ablehnende Haltung der ROK gegenüber modernen Werten wie Individualisierung, Liberalisierung, Säkularisierung und Pluralisierung. Die Grundlage dieser Einstellung würde meist in der historisch bedingten Beziehung von Kirche und Staat sowie in einem starren Traditionalismus verortet, selten liege aber das Augenmerk auf einer genuin theologischen Begründung. Ausgehend von dieser Problemanalyse ordnet die Autorin in zwei Schritten – einer historischen Rekonstruktion und einer theologischen Analyse – die gegenwärtige, modernekritische Ortsbestimmung der ROK ein. Hierbei stellt sie das theologische Konzept von Einheit und die damit einhergehende Auseinandersetzung mit dem legitimen Platz von Vielfalt, vor allem in Form des modernen Paradigmas von Pluralisierung und Ausdifferenzierung, in den Mittelpunkt.
Im ersten Teil untersucht die Autorin anhand einiger zentraler historischer Ereignisse, wie sich die russische Orthodoxie mit Elementen von Modernisierung und Moderne auseinandergesetzt hat. Der kirchliche Umgang mit Phänomenen der Erneuerung und Veränderung – beginnend mit dem 15. Jahrhundert (Nil Sorskij) über das 17./18. Jahrhundert (Patriarch Nikon, die Reformen Peters I.) bis hin ins 20./21. Jahrhundert (Landeskonzil, sowjetische Repression, kirchliche Wiedergeburt) – wird zunächst erläutert und historisch eingeordnet, so dass sich auch der nicht vorgebildete Leser ein detailliertes Bild machen kann. Anhand der ausgewählten historischen Stationen stellt Elsner anschließend die gängigen, auch heute noch anzutreffenden Handlungs- und Argumentationslinien dar, die die Kirche im Umgang mit gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und Modernisierungen entwickelt hat.
Der zweite Teil widmet sich der theologischen Analyse des Verhältnisses von Einheit und Vielfalt, in dem die Autorin anhand von drei ausgewählten dogmatischen Themenbereichen die Frage zu beantworten sucht, ob sich Einheit und Vielfalt im orthodoxen Verständnis wesenhaft ausschließen. Vor diesem Fragehintergrund analysiert Elsner wichtige dogmatische Schriften aus dem Bereich der Trinitätslehre, der theologischen Anthropologie sowie der Ekklesiologie. Hierbei nimmt sie neben schuldogmatischen auch Werke neuerer, zum Teil marginalisierter Theologen in den Blick. Die sehr dichten theologischen Analysen vermitteln dem geschulten Leser einen facettenreichen Einblick in die jeweiligen theologischen Gebiete und fragen nach dem jedem Themenkomplex eigenen Verhältnis von Einheit und Vielfalt. Mit Blick auf die Ausgangsfrage macht Regina Elsner im „apophatischen Vorbehalt“, d. h. der grundsätzlichen Verborgenheit und damit Unsagbarkeit des Geheimnisses Gottes, ein großes Potenzial für den Dialog mit verschiedenen Denkströmungen aus. Dieses Potenzial vergrößere sich durch das von der orthodoxen Theologie betonte paradoxe Gleichgewicht von Einheit und Vielfalt in Bezug auf die Trinitätslehre, das Geheimnis der Menschwerdung sowie das ekklesiologische Prinzip der „Sobornost‘“. Obwohl alle genannten Gebiete eine Priorität der Einheit kennzeichne, können dennoch Offenheit und Respekt für Vielheit und Andersheit und somit Anschlussfähigkeit für den Diskurs der Moderne ausgemacht werden.
Im Schlussteil illustriert die Autorin anhand von drei aktuellen Fragestellungen die gegenwärtige Auseinandersetzung der ROK mit der Moderne. Um das zentrale Motiv von Einheit und Vielfalt kreisend, wird der Blick auf Fragen der innerkirchlichen Einheit (Reformen, Zentralisierung), der Einheit des Volkes (Demokratieverständnis, traditionelle Werte) sowie der Einheit im globalen Maßstab (Wertediskurs, Globalisierung, Frieden) gelenkt. Elsner hält fest, dass die Kirchenleitung der ROK die in der eigenen Geschichte und theologischen Tradition vorhandenen Potenziale für eine Wertschätzung von Vielfalt und Pluralität nicht nutzt, sondern auf Grund von gesellschaftspolitischen Verflechtungen einem vormodernen Einheitsdiskurs den Vorrang gibt.
Der schon in der Titelformulierung zentrale Modernebegriff bleibt trotz des Bemühens um begriffliche Klärung im Einleitungskapitel am Ende jedoch unbestimmt, so dass die an sich sehr beachtenswerte Arbeit in dieser Hinsicht mehr Fragen aufwirft, als zur Klärung beizutragen. Insgesamt sind gewisse Vorkenntnisse im Blick auf die russische Orthodoxie beim Erschließen des Textes hilfreich. Das Buch von Regina Elsner sei dennoch jedem Interessierten ans Herz gelegt, der die aktuelle, vor allem gesellschaftspolitische Ortsbestimmung der ROK sowohl historisch als auch theologisch tiefer verstehen und einordnen möchte.
Marten Stahlberg, Stegen