OWEP 3/2020: Nationalhelden - Mythos und Missbrauch
Wenn der Begriff „Nationalhelden“ fällt, tun sich bei vielen Menschen Bilder auf: Monumentale Statuen, häufig auch Reiterstandbilder, meist an besonders hervorgehobenen Orten werden sichtbar. Nationalhelden gehören zur Allgemeinbildung, zugleich vermischen sich Fakten und Legenden, und je länger die historischen Ereignisse in der Geschichte zurückliegen, desto mehr bemächtigt sich der Mythos der heroischen Figur. Was macht einen Helden, besonders einen Nationalhelden eigentlich aus? Heroische Taten, wie sie etwa ein Alexander der Große vollbracht hat, sind wohl das Hauptmotiv – aber muss es immer etwas Martialisches sein? Ein heroisches Leben wird auch vielen christlichen Märtyrern zugeschrieben, die eher durch das Schwert umkamen, als dass sie es genutzt hätten. So wurden im Laufe der Jahrhunderte herausragende Persönlichkeiten zu Nationalhelden, oft erst lange nach ihrem gewaltsamen Tod; man denke etwa an den tschechischen Reformator Jan Hus und an Frankreichs Jeanne d’Arc, die „Jungfrau von Orléans“. Beide Beispiele stehen auch für die Veränderungen des Heldenbegriffs, und hier wie auch in anderen Fällen wäre es interessant zu wissen, wie die Heldin oder der Held sich selbst verstanden haben und was sie zur späteren Apotheose bemerkt hätten.
Und heute? Ganz aktuell ist ein Bildersturm losgebrochen, der manches Heldenbild ins Wanken gebracht hat. Das bedeutet aber noch lange nicht, dass die Welt keine Helden mehr benötigt – im Gegenteil. In vielen Ländern werden neue Helden und auch Nationalhelden „aufgebaut“, die wie Ikonen für bestimmte Themen stehen; auch hier wird man sicher irgendwann in der Zukunft die Frage nach dem „Warum“ stellen. Jedenfalls lohnt es sicher, den Begriff „Nationalheld“ in seinen verschiedenen Facetten etwas genauer zu betrachten und anhand einiger Beispiele zu illustrieren – dies soll das Ziel der aktuellen Ausgabe von OST-WEST. Europäische Perspektiven“ sein.
Eröffnet wird das Heft mit einem Interview, das die OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen mit der an der Universität Bremen tätigen Osteuropahistorikerin Prof. Dr. Susanne Schattenberg geführt hat. Schwerpunkte sind die Frage nach Begriff und aktueller Bedeutung von „Nationalheld“, Überlegungen zu modernen Heldenfiguren und ein Blick in die Geschichte des Heroenkults, vornehmlich in der Sowjetunion und Russland.
In den folgenden drei Beiträgen werden Persönlichkeiten vorgestellt, die jeweils für ihre Nation eine Art von Heldenstatus genießen, jedoch in höchst unterschiedlicher Form. Der in Prag und Berlin lebende tschechische Publizist Dr. Jaroslav Šonka zeichnet den Wandel des Bildes von Jan Hus im tschechischen Bewusstsein nach, der sich selbst als Erneuerer der Kirche verstanden hat, dann zum Vorläufer Martin Luthers, weiter zum Prototyp des nationalbewussten Tschechen – und damit zu einer Art tragischer Nationalheld – wurde und schließlich sogar eine „Karriere“ im Kommunismus machte. All das wirkt bis heute nach und verstellt den Blick auf den Menschen Jan Hus und sein Anliegen. Im Essay der in Budapest tätigen Literatur- und Kulturhistorikerin Dr. Tünde Császtvay werden Leben und Werk des ungarischen Nationaldichters Sándor Petőfi lebendig. Bis heute gehören seine Gedichte zum Bildungskanon Ungarns, sein nicht geklärter Tod hat ihn mythisch überhöht – und wie Jan Hus wird Sándor Petőfi auch für politische Ziele eingesetzt, speziell in der ungarischen Diaspora. Mit Mutter Teresa, geboren als Anjezë Gonxhe Bojaxhiu, wird eine Person vorgestellt, die in Albanien, Nordmazedonien (ihrem Geburtsland) und im Kosovo gleichermaßen verehrt und umstritten ist, denn als Katholikin und Nonne war sie, wie die in Tirana lebende Albanien-Expertin Christiane Jaenicke in ihrem Porträt schreibt, gleich mehrfach eine Außenseiterin. Durch ihr aufopferndes Engagement in Indien weltweit bekannt geworden als eine „Ikone der Nächstenliebe“, war Mutter Teresa im kommunistischen Albanien eine Un-Person; heute ist das Land jedoch stolz auf sie und wirbt mit ihr in gewisser Weise als „Botschafterin des neuen Albanien“.
Drei „richtige“ Nationalhelden, noch dazu Männer, werden in den nächsten Beiträgen vorgestellt. Dr. Markus Krzoska, Privatdozent an der Universität Gießen, befasst sich mit der abwechslungsreichen Biografie von Tadeusz Kościuszko, der bis heute als Sieger im Kampf gegen Russland und Preußen verehrt wird, freilich Polens Freiheit nicht erhalten konnte und im Exil in der Schweiz verstarb. Interessanterweise wird er, ähnlich wie Mutter Teresa, nicht nur von den Polen als einer der ihren gesehen; auch die Bewohner des heutigen Belarus und Litauens sehen in ihm ein Symbol für Freiheitskampf gegen übermächtige Gegner. Ein Nationalheld anderen Typs, zudem äußerst umstritten in der Beurteilung, begegnet den Leserinnen und Lesern im Beitrag des an der FU Berlin tätigen Historikers Dr. Grzegorz Rossoliński-Liebe. Er skizziert den Lebensweg des ukrainischen Nationalistenführers Stepan Bandera und ordnet zugleich die von ihm geführte „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ in den Gesamtstrom faschistischer Bewegungen im Europa des 20. Jahrhunderts ein. Wie bei kaum einem anderen Nationalhelden zeigt sich bei Bandera, wie unterschiedlich eine Beurteilung ausfallen kann: Für die einen ist er ein Held, für die anderen ein Verräter. Wesentlich klarer ist das Bild Alexander Newskis, des vielleicht populärsten russischen Nationalhelden, das der an der Universität Basel lehrende Osteuropahistoriker Prof. Dr. Frithjof Benjamin Schenk nachzeichnet. Sein Ruhm gründet zwar auf einem legendären Schlachtensieg im 13. Jahrhundert, die Verehrung in Russland brach jedoch seither nie ab, sodass sowohl das zaristische Russland als auch die Sowjetunion den Ruhm Newskis nutzten – ebenso das heutige Russland, das für das Jubiläumsjahr 2021 neue Denkmäler und Museen plant.
Abgeschlossen wird die kleine Übersicht mit zwei Frauen- oder besser Mädchengestalten, die unterschiedlicher kaum sein könnten. Die Journalistikstudentin Maike Daub aus Freiburg/i. Br. schildert das Leben Jeanne d’Arcs, die während des Hundertjährigen Kriegs im 14. Jahrhundert den Weg zu Frankreichs Wiederaufstieg bahnte, wie Jan Hus als Ketzerin auf dem Scheiterhaufen endete, wenige Jahrzehnte danach rehabilitiert und sogar heiliggesprochen wurde. Im heutigen Frankreich wird sie freilich auch instrumentalisiert, besonders von der politischen Rechten. Eine Heldin neuen Typs, die zudem sehr medienaffin ist, stellt OWEP-Chefredakteurin Gemma Pörzgen vor: Es geht um die schwedische Klimaaktivistin Greta Thunberg, die zur Ikone von „Fridays for Future“ geworden ist – man wird sicher noch viel von ihr hören.
Außerhalb des Schwerpunktthemas folgt schließlich noch ein Beitrag des langjährigen OWEP-Chefredakteurs Prof. Dr. Michael Albus. Er zieht darin eine Bilanz seines zwanzig Jahre umfassenden Einsatzes für die Zeitschrift.
Ein kurzer Ausblick auf Heft 4/2020, das Mitte November erscheinen wird: Als Länderheft wird es die fünf zur ehemaligen Sowjetunion gehörenden Staaten Zentralasiens vorstellen und zahlreiche Aspekte zu Kultur, Religion, Politik und Geschichte vermitteln.
Das ausführliche Inhaltsverzeichnis und ein Beitrag im Volltext finden sich unter www.owep.de. Das Heft kann für € 6,50 (zzgl. Versandkosten) unter www.owep.de bestellt werden.