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Schweizerische Helsinki Vereinigung: Rundbrief Juni 2021

Im Juni 2019 hat die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PVER) beschlossen, die Sanktionen gegen Russland aufzuheben, welche sie 2014 im Anschluss an die Annexion der Krim erlassen hatte. Wir haben im Rundbrief vom Oktober 2019 berichtet, dass die Menschenrechtsorganisationen in der CSP unterschiedliche Meinungen vertraten: gerade russische NGOs waren froh, dass Russland so keinen Vorwand hatte, aus dem Europarat auszutreten. Sie versprachen sich, dass russische Bürger und Bürgerinnen sich weiterhin an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wenden können und dass der Europarat bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen Druck auf Russland ausüben werde. Die kritischen NGOs bezweifelten namentlich, dass sich die Situation in der Krim und im Osten der Ukraine verbessern werde und sie befürchteten, dass die Nachsicht gegenüber Russland andere Staaten zu illiberalen oder autoritären Schritten ermutigen werde.

Wie präsentiert sich die Lage unterdessen? Leider nicht erfreulich. Prof. Caroline von Gall und Laura Jäckel, welche an der Freien Universität von Berlin und an der Universität zu Köln forschen, berichten über die Revision der russischen Verfassung von 2020 und die kritischen Kommentare der Venedig-Kommission des Europarates. Die wenigen liberalen Grundsätze der alten Verfassung von 1993, z.B. die Gewaltenteilung, sind deutlich zurückgedrängt worden und gerade die Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte werden noch schwieriger umzusetzen sein. Unser Vorstandsmitglied Franziska Rich erläutert die neusten Änderungen des Gesetzes über die «ausländischen Agenten», welche nicht nur Menschenrechtsorganisationen in ihrer Existenz bedrohen, sondern auch kritische Bürgerinnen und Bürger zunehmend kriminalisieren und zum Verstummen bringen. Ähnliches lässt sich von den Medien sagen, wie David Nauer, seit 2015 Korrespondent von Radio SRF in Moskau, beschreibt. Aber er hält auch fest, dass in den sozialen Medien weiterhin kritische Stimmen zu lesen und zu hören sind. Wie beurteilt der Historiker und langjährige Beobachter der Politik in Osteuropa Prof. Jeronim Perović von der Universität Zürich die Lage? Im Interview, das ich mit ihm führen konnte, vertritt er der Meinung, dass der Dialog mit Russland aufrechterhalten werden muss, auch wenn die Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrechts klar angeprangert gehören. Dies weil Russland und die anderen europäischen Staaten eine «Schicksalsgemeinschaft» bilden. Welche Rolle spielt die Russische Orthodoxe Kirche, und setzt sie sich für die Menschenrechte ein? Regula Zwahlen, Redaktorin der Zeitschrift Religion und Gesellschaft in Ost und West (RGOW), kommt zu einem enttäuschenden Schluss: Menschenrechte werden nur unterstützt, soweit sie «religiös-traditionelle Werte» schützen, z.B. die Ehe zwischen Mann und Frau. Politische Rechte werden hingegen als Ausdruck eines westlichen und «liberalen Säkularismus» betrachtet. Entsprechend steht die Kirche auf der Seite der Regierung, nicht der Bürger und Bürgerinnen, welche für die Menschenrechte kämpfen.

Die Nachrichten aus Russland, z.B. die Vergiftung, Verhaftung und Verurteilung des Regimekritikers Navalny oder auch der Aufmarsch von grossen Militärverbänden an der Grenze zur Ukraine sind verstörend. Sie erinnern an die finsteren Zeiten der Sowjetunion und des kalten Krieges. 1975 ist es gelungen, die Sowjetunion an den Arbeiten der KSZE zu beteiligen und die Helsinki Prinzipien zu vereinbaren. Diese sind weiterentwickelt worden und haben einen Beitrag dazu geleistet, dass der Totalitarismus und die sicherheitspolitischen Gefahren in Europa deutlich reduziert werden konnten. Der Optimismus von 1989 ist heute sicher nicht mehr angebracht. Die OSZE und auch der Europarat können gewiss nicht so erfolgreich handeln, wie es nach dem Fall der Berliner Mauer beabsichtigt war. Aber die EMRK und die Verpflichtungen der OSZE bestehen und sie werden gerade von russischen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern immer wieder ins Feld geführt. Die SHV und viele andere NGOs unterstützen die zivilgesellschaftlichen Organisationen in Russland und in anderen Staaten, wo Menschenrechte verletzt werden oder gefährdet sind und wir glauben daran, dass sich auch in Russland die Situation wieder verbessern kann.

SHV Rundbrief Juni 2021

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